„Du bist von
scharfem und brillantem (Verstand) und hast ein umfassendes Verständnis (der
buddhistischen Lehre). Sag mir einen Satz über den Zustand, den du hattest,
bevor deine Eltern geboren waren, ohne dass du aus irgendeinem Text oder
Kommentar zitierst.“[ii]
Es handelt sich dabei nicht um eine intellektuelle
Frage nach der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sondern um die direkte
Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick. Ein solcher Augenblick ist etwas
grundlegend anderes als der nicht erwachte Augenblick vorher. Insofern ist der
Verweis auf die Eltern und besonders auf die Zeit vor deren Geburt fast als
Falle für den Verstand anzusehen. Wenn man darauf eingeht, gerät man in
intellektuell nicht aufzulösende Widersprüche, Fragen und Spekulationen, aus
denen es kein Entkommen gibt. Bei der Wirklichkeit ist es nämlich unwesentlich,
ob es sich um die Vergangenheit oder irgendeinen anderen Abschnitt der linearen
Zeit handelt, sondern es geht allein um die unverstellte, direkte Erfahrung im
gegenwärtigen Augenblick, und das ist eine völlig neue tiefe Erfahrung.
Ganz falsch wäre es also bei obiger Frage zum
Beispiel, sich bestimmte Gesichtszüge der Eltern vorzustellen, Bilder etwa
durch archaisches, mythisches Versenken aus einer Art „Ursumpf“ oder
vorgestellten „Ur-Wahrheit“ hervorzuholen und dies vielleicht mit der Lehre der
Wiedergeburt zu verbinden.
Der Schüler Shikan suchte in mehreren Anläufen nach
einer passenden Antwort, die seinen Meister zufriedenstellen könnte, aber es
gelang ihm nicht. Er strengte seinen Körper und Geist an, so sehr es ihm
überhaupt möglich war, und er versuchte, sein umfangreiches Wissen aus den
Schriften und buddhistischen Sūtras auszublenden, aber ohne jeden Erfolg. Er
legte den Schwur ab, dass er jeden Versuch, den Buddha-Dharma durch
Theoretisieren und Denken zu ergründen, sofort und dauerhaft abbrechen würde.
Mehrere Jahre lang diente er gewissenhaft als einfacher Mönch im Kloster vor
allem den anderen Mönchen, indem er niedere Arbeiten ausführte. Gegenüber
seinem Meister bezeichnete er sich als „töricht und dumpf im Körper und Geist
und als unfähig, die Wahrheit zu sagen“. Schließlich bat er seinen Meister
inständig darum, ihm dabei zu helfen, aus dieser für ihn aussichtslosen
Situation herauszufinden.
Aber Meister Dai-i lehnte eine solche Hilfe
entschieden ab: „Ich hätte nichts dagegen, dir etwas (Hilfreiches) zu sagen,
(aber wenn ich dies täte,) würdest du vielleicht später Groll gegen mich
hegen.“ Offensichtlich war er sich sicher, dass sein Schüler den notwendigen
Schritt zur Wahrheit irgendwann allein bewältigen würde und dass theoretische
Erklärungen dies eher verhindern statt fördern würden. Die buddhistische
Wahrheit müssen wir letztlich immer selbst finden, ein Lehrer kann uns das
nicht abnehmen.
Shikan verließ schließlich das Kloster und folgte den
Spuren des großen Landesmeisters Daisho[iii]. Er
zog sich auf einen Berg zurück und lebte dort allein und so weit wie möglich im
Einklang mit der Natur und der buddhistischen Wahrheit. An dem Ort, an dem auch
der legendäre Meister gelebt hatte, baute sich Shikan eine einfache Hütte mit
einem Strohdach. Er pflanzte Bambus und – wie Dōgen es ausdrückt – „machte ihn
zu seinem Freund“. Eines Tages geschah etwas für ihn völlig Unerwartetes: Als
er seinen Weg vor der Hütte fegte, löste sich ein kleiner Kieselstein vom
Boden, traf auf das Rohr des Bambus und erzeugte dabei einen Ton wie ein „Bong“. Indem Shikan jäh und
unmittelbar den Ton wirklich und ohne jeden intellektuellen und doktrinären
Anspruch hörte, war er direkt in der Wirklichkeit angekommen. „Bong“ – das ist
die Wahrheit zu hören, das ist die Natur: einfach, direkt und unkompliziert! Und
die Wahrheit der Natur ist auch im Universum und in uns selbst. So einfach und
wunderbar sind das Leben und das Universum.
Shikan nahm ein erfrischendes Bad, reinigte sich
gründlich, entzündete ein Räucherstäbchen und machte in tiefer Dankbarkeit
Niederwerfungen in die Richtung des Berges und Klosters seines Meisters Dai-i.
Schlagartig war ihm klar geworden, dass sein Meister ihm wie kein anderer
geholfen hatte, nur durch die eigene Erfahrung wirklich zu hören und zur
Wirklichkeit zu gelangen, die sich ihm jetzt und völlig unerwartet eröffnet
hatte. Der Klang des Kieselsteins, der das Bambusrohr traf, vertrieb alle
Vorstellungen und angestrebten Ziele. Weil er wirklich hörte, waren die
Wirklichkeit und Shikan selbst plötzlich eine umfassende Einheit.
Gerade die enge Beziehung zur Natur und die Offenheit
dafür sind eine große Chance, zur Wirklichkeit und Wahrheit zu finden. Dann
wird die ichzentrierte Selbstinszenierung[iv] oder
eigene narzisstische Überhöhung[v] völlig
ausgeschaltet. Gerade intellektuell hochbegabte Menschen mit einem scharfen
Verstand und einem hervorragenden Gedächtnis für die Lehren und Kommentare
geraten besonders in Gefahr, einer Selbstüberschätzung zu erliegen. Dadurch
wird jedoch der direkte Zugang zum Sehen, Hören und zur Wirklichkeit versperrt,
denn diese verwirklichen sich jenseits von analytisch geprägter Kompetenz und
ausgefeiltem, aber festgelegtem Reflexionsvermögen. Dōgen zitiert dazu Shikan:
„Der große Meister Shikan verfasste schließlich die
folgenden Verse:
‚Bei einem
einzigen Aufprall (des Kiesels) verlor ich das (alte) Erinnern,
nicht länger
muss ich (starre) Selbstdisziplin üben.
Es gibt
keine (negativen) Spuren (von mir) irgendwo:
(Der
Zustand) ist (wahres) edles Verhalten und geht über Ton und Form hinaus.‘“
Wenn C. G. Jung meint, dass das Erwachen für westliche Menschen praktisch nicht erreichbar ist, so irrt er nach meinem Verständnis, denn dieses Gedicht sagt etwas anderes. Gautama Buddha war ein Nachkomme der indo-europäischen Einwanderer und damit uns westlichen Menschen verwandter, als Jung meinte. Auch die von Buddha gesprochene altindische Sprache besitzt eine ähnliche grammatikalische Struktur wie unsere westlichen Sprachen. Es ist ein Kernpunkt der buddhistischen Lehre, dass jedem Menschen das Erwachen zugänglich ist und nicht auf Gautama Buddha oder bestimmte Meister im späteren China begrenzt ist. Vielleicht dachte Jung trotz allem psychologischen Verständnis zu intellektuell?
[i] Zen-Meister Dai-i lebte von 771 bis 835.
[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 109
[iii] Meister Daisho war Nachfolger des großen
Meisters Daikan Enō, er starb 775.
[iv] Mentzos, Stavros: Hysterie. Zur Psychodynamik
unbewusster Inszenierungen
[v] Fromm, Erich; Suzuki, Daisetz Teitaro; Martino,
Richard de: Zen-Buddhismus und Psychoanalyse
Kernberg, Otto: Narzißtische Persönlichkeitsstörungen