Die
Erleuchtung (japanisch Satori) oder
das Erwachen hat im Buddhismus eine zentrale Bedeutung. Und es gibt sie
wirklich, die neue Klarheit, Freude und Erleuchtung. Jeder Mensch kann sie
erfahren und erleben! Jeder hat die Möglichkeit und das Potential zum Erwachen
im Sinne Buddhas und der vielen Menschen, die das erwchen selbst erfahren
haben. Das ist Buddhas klare Aussage. Über Erleuchtung und Erwachen wird eben nicht
nur geschrieben, abgeschrieben und geredet. Mein Lehrer Nishijima Roshi war der
glücklichste und klarste Mensch, den ich in meinem langen Leben kennen gelernt
habe. Das ist für mich der verlässliche Beweis für das Erwachen; und ich war
mehrere Wochen Gast in seinem kleinen Appartement in Tokyo, kannte ihn also
recht gut.
Durch
die Erleuchtung haben wir mehr Lebensenergie, mehr Freude, mehr Klarheit und
ruhen in unserer Mitte. Mit anderen Menschen kommen wir besser aus und lassen
uns nicht von Pessimismus, Fake News und Verschwörungstheorien anstecken. Das
ist in der jetzigen Korona-Krise besonders wichtig. Die Erleuchtung muss nicht
unbedingt der große einmalige Sprung sein. Und es ist sicher nicht der Sprung
zum Allwissen, denn das gibt es für den Menschen nicht. Es ist vernünftiger
sich auf eine schrittweise Entwicklung einzustellen und sein Leben
kontinuierlich zu verbessern. Das geht Hand in Hand mit unserer Übungspraxis
und mit menschlich positiven Kontakten.
Dôgen
sagt, dass wir vor allem durch die Zazen-Praxis zur Wirklichkeit und Wahrheit
erwachen und damit ein erfülltes und
kreatives Leben führen. Wer an der
Zen-Praxis dran bleibt, wird sein Leben ganz sicher verbessern, je nach
Stetigkeit seiner Praxis mehr oder weniger. Das kann ich aus eigener Erfahrung
voll bestätigen.
Aber
der Begriff der Erleuchtung wird vielfach missverstanden und auch immer wieder
missbraucht, so dass eine Klärung außerordentlich wichtig ist. In Japan gibt es
einen zweiten wichtigen Begriff, Kenshô, der
etwa „Selbst-Klarheit“ bedeutet. Marianne Wachs bezieht sich auf dabei auf
Daikan Enô (Hui-neng), und fügt hinzu:
„Nach einem kenshô erweist es sich
aber, dass nicht alle Begierden und Leidenschaften für immer verschwunden sind.
Es wird zwar begleitet von der Vernichtung der verblendeten Ansichten und aller
Zweifel an Buddha, Dharma und Sangha und an der eigenen Buddha-Natur."
Aber
die vier Übel Gier, Hass, Unwissen und Stolz würde es noch geben. Es braucht noch manche
Jahre des Trainings, um sich vollständig von diesen Übeln und unnötigen, ja sogar unheilsamen und schädlichen Doktrinen und Ideologien freizumachen
Dōgen behandelt in diesem Kapitel ausführlich und in die Tiefe gehend die Verwirklichung des Menschen beim Erwachen. Nishijima Roshi benutzt lieber den Begriff der Verwirklichung als Erleuchtung, weil das weniger Missverständnisse hervorruft. Buddha sprach bekanntlich von Erwachen.
Dôgen berichtet hier aus
seiner ganz eigenen langjährigen Erfahrung und seiner eigenen Sicht: Diese
Verwirklichung erlebter er erst in China, nachdem er seinen wahren Lehrer Tendo
Nyojo gefunden hatte. Dabei war die Praxis des Zazen von größter Bedeutung für
ihn. Er macht klar, dass man bei diesem Thema mit Denken und Theorien allein
nicht zum Kern vorstoßen kann, dass also die Lebensphilosophie der Gedanken und
Ideen nur begrenzt dafür geeignet ist. Aber auch eine Lebensphilosophie des
Materialismus, also der nur sinnlichen Wahrnehmung bzw. des Genusses, ist ziemlich
ungeeignet für die Verwirklichung. Das gilt vor allem, wenn wir glauben, dass das
Glück ohne eigene ausdauernde Praxis und von selbst zu uns kommt. Ich möchte
hier an die Erklärungen zur ersten und zweiten Erleuchtung im Buddhismus von
Nishijima Roshi anknüpfen. Die erste
Erleuchtung ist das gute Sitzen im Zazen. Er sagt in aller Klarheit, dass die
sogenannte plötzliche und die allmähliche Erleuchtung, die im Zen-Buddhismus
bisweilen kontrovers diskutiert werden, überhaupt nicht im Widerspruch zueinander
stehen. Sie kennzeichnen nur unterschiedliche zeitliche Sichtweisen der selben
Wirklichkeit. Bei jedem Weg der Befreiung sei fortdauernden Praxis notwendig,
also die Meditation des Zazen. Überhaupt sind die Kontroversen zur ursprünglichen, plötzlichen oder allmählichen Erleuchtung meist ideologisch verhärtet und damit Extreme. Und Extreme sind immer unwahr und müssen auf dem Buddha-Weg ent-ideologisiert werden.
Für
Meister Dōgen ist die Erleuchtung vor allem durch das Handeln aus der Mitte und
im gegenwärtigen Augenblick ausgezeichnet. Wie wir wissen, ist es ihm zunächst in
Japan mit der Theorie des damaligen Buddhismus nicht gelungen, so etwas Ähnliches wie Erleuchtung selbst zu
erfahren. Wir können annehmen, dass er sich selbst gegenüber sehr ehrlich war
und dass ihn dies sicher von manchen sogenannten Meistern der damaligen Zeit unterschied.
Bekanntlich
reiste er dann nach China, wo er durch die Zazen-Praxis des Shikantaza („Nichts als Sitzen“) das
erlebte, was wir mit dem Begriff „Erleuchtung“ bezeichnen. Dies ist im
Lehrsystem von Nishijima Roshi die umfassende buddhistische Lebensphilosophie
der Einheit von Lehre und Praxis, der intuitiven Weisheit und Klarheit im
Augenblick und vor allem der Einheit mit Moral und Ethik. Das rechte Handeln
erläutert Dōgen in einem gesonderten Kapitel mit dem Thema „Erzeugt kein
Unrecht, sondern tut die vielfältigen Arten des Rechten“.
Er
fragt in diesem Zusammenhang danach, was passiert, wenn man aus dem Zustand des
Erwachens wieder heraus fällt und sich erneut in Täuschungen und Illusionen verstrickt.
Das
große Erwachen ist der Alltag und das tägliche Handeln der Buddhas und
Vorfahren im Dharma. Das Erwachen wird nicht durch eine Theorie des Erwachens
verwirklicht oder dadurch, dass man scharfsinnig darüber nachdenkt. Die
Verwirklichung ereignet sich schon gar nicht, wenn man anderen etwas vorspielt.
Es ist also von fundamentaler Bedeutung, das Erwachen als Vorstellung, Begriff und
Doktrin zu vergessen, es loszulassen und klar direkt zu handeln. Genauso
sinnvoll wie aktiv zu handeln kann es aber sein, etwas geschehen zu lassen und gerade
nicht einzugreifen, um nämlich zum Wohl des Ganzen zu handeln. Dieses Höchste
der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist nach Dōgen unauflösbar mit der
Zazen-Praxis und dem Leben im Alltag verbunden. Diese Höchste sprengt den
Rahmen der Vorstellung und Theorie des großen Erwachens und geht weit darüber
hinaus.
Bei
den Menschen gibt es beim Erwachen nach Dôgen große Unterschiede, aber alle
verwirklichen es durch verdienstvolles Tun jeweils auf ihre eigene Weise und
mit den ihnen eigenen Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten können auf natürliches
Wissen gegründet sein, aber werden immer durch fortdauernde Übung und Anstrengung
entwickelt. Sie verbinden sich in Wechselwirkung mit der körperlichen
Realisierung des Erwachens und befreien sich so aus der Sackgasse von Zwängen und
Dogmen des Lebens.
Dôgen
sagt:
„Es gibt diejenigen, die angeborene
Weisheit haben“,
die
im Leben sich dann befreien. Andere beschreiten den Weg des Buddha-Dharma eher
durch Lernen und Studium, er sagt:
„Dann gibt es diejenigen, die ihre
Weisheit erlernen“.
Auch
dieses muss mit Praxis verbunden werden. Andere verfügen schließlich bereits über
das tiefe Wissen der Buddhas, das weder angeboren noch erlernt ist und das die künstliche
Trennung des Ich von anderen Menschen oder von Subjekt und Objekt überwunden
hat. Es gibt auch Menschen, die eine wunderbare und klare Ausstrahlung haben,
ohne dass sie einen Lehrer hatten oder die buddhistischen Schriften studiert haben.
Dōgen
sagt, dass es unsinnig ist, nach klugen und törichten Menschen zu
unterscheiden, denn es geht vor allem um das Handeln und nicht um Theorie,
Wissen und Bewertung. Es ist missverständlich zu sagen, dass ein Mensch
dauerhaft erwacht ist oder nicht. Denn dies würde bedeuten, dass er die
unveränderliche Eigenschaft des Erwachens besitzt. Diese Eigenschaft wäre eine Schein-Substanz im Sinne von
Nagarjunas, aber sie ist nur illusionäre Doktrin.
Denn
im Buddhismus gilt die erlangte große Wahrheit nicht als unveränderliches
Eigentum eines Menschen, dies wäre Substanz-Täuschung. Das wahre authentische Handeln im Augenblick steht nämlich im
Vordergrund. So ist auch die zunächst eigenartige Aussage des großen Meisters Rinzai zu verstehen, man solle nicht
denken, dass es schwierig sei, in ganz China einen Menschen zu finden, der nicht erwacht ist. Nach Nishijima Roshi
heißt dies, dass der erwachte Zustand natürlich ist, aber durch Übungspraxis
und Studium erarbeitet werden muss. Oder anders ausgedrückt: Jeder Mensch hat
die Möglichkeit und das Potential zu erwachen. Aber ohne Praxis und Ausdauer
kann das Erwachen nicht verwirklicht werden. Dôgen sagt zu Meister Rinzai, dass
man nicht in theoretisches, abstraktes Denken und vor allem nicht in Dogmen
abschweifen sollte, um die natürlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu
entfalten. Er fragt sogar, ob Meister Rinzei zu sehr dem Substanz-Denken
verhaftet ist und nicht klar zwischen handelnder Wirklichkeit und theoretischer
Doktrin unterscheidet. Es wird im Übrigen zu Meister Rinzai berichtet, dass für
ihn abstraktes Denken zunächst ein großes Hindernis war, um zum Wirklichen,
Konkreten und Natürlichen vorzustoßen. In dieser Phase soll er eine gewisse
intellektuelle Arroganz an den Tag gelegt haben. Diesem Meister werden im Übrigen
werden viele Koan-Geschichten mit scheinbar paradoxen Fragestellungen
zugeordnet. Dadurch soll gewohntes doktrinären Denken und Fühlen ausgeschaltet
werden, um zum Gleichgewicht, zur Klarheit, Ruhe und zum eigenen Zentrum zu kommen. Es
geht darum, über den dualistisch und trennend denkenden Verstand hinaus zu
kommen und zum Ganzen und zur Tiefe zu gelangen.
Dōgen
zitiert einen alten Meister, der die Frage eines Mönches beantwortet, wann
jemand wieder in die Täuschung zurückfällt, nachdem er das große Erwachen
erfahren hatte. Der Meister sagte dazu:
„Ein zerbrochener
Spiegel reflektiert nicht mehr. Heruntergefallene Blüten können nicht auf den
Baum zurück klettern.“
Was
ist damit gemeint? In diesem Zitat wird klar gesagt, dass man Erwachen oder
Erleuchtung nicht als dauernde unveränderliche Eigenschaft hat, die man erwirbt
und dann sein ganzes Leben lang behält. Das wäre falsches Substanz-Denken. Vielmehr
kann sich die Erleuchtung von einem Augenblick zum anderen ändern. Alles wird
durch das jeweilige ganzheitliche Handeln bestimmt. Oder wie Buddha sagt: Durch
das wechselwirkende Entstehen beim Handeln. Genau in dem Augenblick
verwirklicht sich die Erleuchtung oder eben nicht! Wenn der Spiegel einmal
zerbrochen ist, macht es wenig Sinn, lange darüber nachzugrübeln, wie schön er
im früheren Zustand reflektiert hat, als er noch unversehrt war. Denn jetzt in
der Gegenwart ist er zerbrochen, alles andere sind nur Erinnerungen und
Bewertungen, die im dualistischen Denken auftauchen, aber denen keine wirkliche
Qualität der Wirklichkeit im Jetzt mehr zukommt. Wenn die Blüten von einem Baum
heruntergefallen sind, wie zum Beispiel die Kirschblüten, nützt es nach Dōgen
nicht viel, sich traurig oder romantisch vorzustellen, dass sie wieder oben auf
den Ästen sitzen. Es ist noch unsinniger, sie dort wieder anheften zu wollen.
Die
Tatsachen und das Handelns wirken im Hier und Jetzt. Sie haben so ihren eigenen
Platz in der Welt und im Universum, und zwar genau so, wie sie gegenwärtig
sind; nicht mehr und nicht weniger.
Es
ist wenig sinnvoll zu behaupten, im großen Erwachen gebe es absolut keine
Augenblicke der Unklarheit. Und die Klarheit, Reife und Reinheit des großen
Erwachens können immer noch weiter entwickelt werden, wie Dôgen in einem
folgenden Kapitel beschreibt. Die buddhistische Übungspraxis sollte daher über
das ganze Leben hinweg einfach fortgeführt werden. Gautama Buddha selbst
betonte, dass jeder Mensch die Erleuchtung erlangen kann, ganz gleich, wie tief
er in Täuschungen, Unklarheiten und falsches Handeln verstrickt ist. Es wird
sogar berichtet, dass der ehemals bösartiger Massenmörder Angulimala sich nach
der direkten Begegnung mit Gautama Buddha entschloss, sein Leben vollständig zu
ändern. Er schloss sich der Sangha an und verwirklichte das große Erwachen.
Dōgen
fordert uns auf, dass wir uns sehr gründlich mit verschiedenen Fragen,
Möglichkeiten und Grenzen des Erwachens beschäftigen. Dazu gehört auch die
Frage, wann ein Erwachter wieder in die Täuschung zurückfällt. Es könnte sogar
sein, dass ein solcher Mensch danach umso klarer erkennen kann, was Täuschung
ist. Er kann dann anderen umso besser als Lehrer und Therapeut helfen, aus
Selbstlügen, Verdrängungen, Dogmen und Illusionen herauszufinden. Und seine
wieder verwirklichte Erleuchtung wäre stabiler als vorher.
Wie
häufig verwechseln wir in unserem Alltag den äußeren Anschein mit der Wirklichkeit!
Man kann nach Dôgen sogar sagen, dass wir einen Räuber mit einem unschuldigen
Kind verwechseln und dann bei dem wirklichen Raub völlig überrascht sind. Umgekehrt
können wir in einem Kind einen Räuber sehen, obgleich dies völlig unsinnig ist. Wir sollten daran denken, dass sich
grausame Diktatoren wie Hitler gern mit Kindern in den Medien abbilden lassen,
um dem naiven Betrachter den Eindruck zu vermitteln, dass sie Kinder lieben und
genauso harmlos sind wie diese. Nach buddhistischem Verständnis geht ein Kind
bei umfassender Sichtweise über das weit hinaus, was wir unter dem verengten Begriff
„Kind“ verstehen. Wir vergessen leicht, dass auch ein Kind mit dem dualistischen
Verstand und vorgeprägten Geist nicht vollständig erfasst werden kann. Wenn wir
von einem Kind abwertend reden, kann dies niemals die Lehre des Buddha-Dharma
sein.
Ein
großer alter Meister wurde von einem Schüler gefragt:
„Stützt sich auch ein Mensch des
gegenwärtigen Augenblicks auf das Erwachen oder nicht?“
Dieser
antwortete:
„Das Erwachen ist nicht ohne
Wirklichkeit, aber wie können wir vermeiden, in das (dualistische) zweite
Denken zu fallen?“
Wenn
man ganz im Hier und Jetzt lebt, also in der wirklichen Sein-Zeit, lebt man
bereits in der Wirklichkeit und Wahrheit. Schädliche unheilsame Denkweisen und
Emotionen haben keine Kraft mehr, sie können uns nicht mehr verwirren und in
falsche Richtungen treiben. Dazu ist Zazen eine sehr wirkungsvolle Methode. Man
ist dann erwacht und erlebt die erste oder sogar zweite Erleuchtung. Dann sind
wir nicht durch das dualistische Denken auf vergangene Zeiten fixiert und
verlieren uns nicht in Spekulationen über die Zukunft. Der Mensch des wirklichen
Jetzt ist unabhängig von solchen Fixierungen. Sein ganzes Leben, Handeln,
Denken, Wahrnehmen und Empfinden ist von Klarheit und Lebensfreude
durchdrungen und baut darauf auf. Aber wie kann man das tatsächlich realisieren?
Die
erste Frage des Schülers in der obigen Zen-Geschichte kann also mit einem
einfachen Ja beantwortet werden. Der alte Meister bestätigt dies, indem er
sagt, dass das Erwachen zweifellos wirklich ist und dass dies für den Menschen
des klaren Jetzt gilt. Er sieht aber die Gefahr, dass man in das dualistische
und doktrinär bewertende Denken zurückfallen kann und dass sich damit das
Bewusstsein in ein Subjekt und ein Objekt aufspaltet. Oder dass eine rigorose Trennung
in ein Ich und die anderen oder in ein Ich und das Universum auftut. Dies
widerspricht Buddhas zentraler Lehre des gemeinsamen Entstehens in
Wechselwirkung, pratitya samutpada. Denn heute wissen wir aus der Wissenschaft,
dass die Ökologie und sogar unser Gehirn vernetzt sind und nicht aus getrennten
Bausteinen besteht. Und Leben ist immer Wechselwirkung, wie der Gehirnforscher
Spitzer betont: Hin und Zurück. Im Leben der Menschen ist doktrinäre Trennungen
häufig die Ursache für Leiden, Missverständnisse, Empfindlichkeiten,
Verletzungen und Aggressionen. Allzu schnell und oft unbewusst betrachtet man dann
den anderen als Feind und unterstellt ihm böse Absichten. Das ruft wiederum bei
dem betroffenen negative Emotionen und Gegen-Reaktionen hervor. Dann bauen sich
gegenseitige Aggressionen und Vorwürfe auf, und dies steuert das bösartiges
gegenseitige Handeln. Das gespaltene zweite Denken, wie es von Dôgen ausgedrückt
wird, bewirkt also, dass wir aus dem Erwachen und der Erleuchtung wieder
herausfallen, es sei denn, wir erkennen diese ungute Veränderung selbst in aller
Klarheit. Dann können wir durch wahres buddhistisches Handeln gegensteuern und
uns befreien. Wir entlasten so unseren Körper-und-Geist von den Hemmnissen auf
dem Weg der Erleuchtung, die Buddha überzeugend beschrieben hat. Das betrifft
vor allem die Gier nach sinnlichen Genüssen zu Lasten anderer, das Übelwollen
anderen Menschen gegenüber, andauernder Zweifelsucht, aufgeregter Hektik,
unruhigem Leben usw. Diese sind die von Buddha beschriebenen Hemmnisse auf dem
Weg der Befreiung.
Wenn
es uns dies nicht gelingt, ist uns wirklich die intuitive umfassende buddhistische
Weisheit verloren gegangen, und wir können nicht mehr unmittelbar moralisch
handeln.
Wie
sollen prüfen, ob wir uns im Handeln und Denken auf das Erwachen stützen, wie
Dōgen sagt, also gründlich im Herzen und im Geist prüfen und uns darüber
Klarheit verschaffen. Buddha bezeichnet dieses als Achtsamkeit. Es geht
natürlich nicht ohne eine gewisse Anstrengung, Klarheit und Ausdauer. Aber
dieser Aufwand lohnt sich bestimmt! Satte geistige Bequemlichkeit in der
Komfortzone führt nicht weiter. Wer denkt, das Erwachen käme von allein, der kann
lange warten, denn es wird bestimmt nicht kommen, wenn er nichts tut.
Man
darf sich das Erwachen nicht wie ein Ding, eine Entität oder eine
unveränderliche Substanz vorstellen. Diese Wahrheit hat Meister Nagarjuna mit
hoher philosophischer Präzision herausgearbeitet. Wir müssen uns von
unheilsamen Doktrinen, Vorurteilen und Dogmen entleeren. Das ist der wahre Sinn
der Leerheit. Das Erwachen kommt also nicht irgendwoher oder geht irgendwohin.
Auch die Frage, ob das Erwachen schon vorher vorhanden war oder nicht, ist von
untergeordneter Bedeutung und würde nur das Denken unnütz anheizen und zu
Spekulationen verführen. Erwachen heißt im Hier und Jetzt erwacht handeln und erwacht
denken, erwacht empfinden und aus einem umfassenden Geist heraus und ohne
dualistische Spaltung zu leben. Man könnte es fast als nüchtern und pragmatisch
bezeichnen, und dies zeichnet den Buddhismus ja gerade aus.
Die
Frage nach dem ewigen Wesen des Erwachens bringt also nichts, und jeder gute buddhistische
Meister warnt uns davor. Wir sollten uns nicht solchen spekulativen Fantasien
hingeben, wenn es darum geht, Befreiung und Freude zu finden. Die gibt es am
besten in der Wirklichkeit. Denn wahres Lernen gelingt bei Freude und
Wiederholung besonders gut, wie wir aus der Gehirnforschung wissen. Wer
krampfhaft nach der egoistischen eigenen Erleuchtung greift, greift ins Leere. Er
greift vergeblich nach einer Schein-Doktrin und einer Schein-Wahrheit. Aber durch
den Geist des Erwachens kann das gespaltene dualistische Denken von Ich und Du,
von dogmatisiertem Gut und Böse, von Ich und Universum usw. aufgelöst und zur
Harmonie gebracht werden. Dadurch verliert der Dualismus seinen zerstörerischen
Einfluss. Auf diese Weise finden das unterscheidende Denken und das gespaltene
Bewusstsein zu einem erwachten Geist also zum harmonische Ganzen. Dann können unnütze
Spekulationen wie „ich bin erwacht“ oder „das Erwachen ist zu mir gekommen“ zur
Ruhe kommen und das Denken kann sich in Harmonie zusammenfügen.
Hans-Peter Dürr, ein
theoretische Physiker, Schüler von Heisenberg, und Träger des alternativen
Nobelpreises, spricht davon, dass wir ein neues, nicht dualistisches Denken
brauchen. Wenn dieses neue Denken nach Dōgen aus dem Erwachen selbst entstanden
ist und sich mit dem Erwachen ereignet, kann man dies ohne Frage als Erleuchtung
bezeichnen. Dann kann ich zum Beispiel ruhig darüber nachdenken, was ich
gestern getan habe, ohne dass mein Ich von gestern wie ein anderes
abgespaltenes Subjekt erscheint. Das wäre vom Jetzt getrennt. Dann kann das Ich
von gestern mit dem Jetzt von Heute eine harmonische Ganzheit bilden.
Dies alles darf aber nicht nur gedacht werden, sondern sollte in der Übungspraxis und im Alltag selbst erfahren, erlebt und verwirklicht werden. Dazu ist geistige Schulung allein zwar notwendig aber nicht hinreichend. Es würde sonst das praktische Handeln in Wechselwirkung mit Geist, Wahrnehmung und Gefühlen fehlen. Das ist auch die zentrale Lehre des großen Meisters Vasubandhu.
Dieses erwachte Handeln, Fühlen und Denken vermeidet Extreme und kommt aus unserer starken klaren Mitte.