Dieses Kapitel Dōgens über die „Sein-Zeit“ zählt zweifellos zu den wichtigsten Texten des Buddhismus, aber es ist für uns westliche Menschen nicht einfach zu verstehen.[1] Stark verkürzt besagt es, dass die Zeit untrennbar mit der Wirklichkeit, dem Leben, der Welt und der Wahrheit verbunden ist. Das Sein gibt es nur zusammen mit der Zeit, es ist ein gemeinsamer Prozess und wahres Handeln. Das abendländische philosophische Modell des Seins, das teilweise unabhängig von der Zeit verstanden wird, ist aus buddhistischer Sicht nicht tragfähig und entspricht nicht der Wirklichkeit. Das Sein ist keine Sache, kein Ding und keine Substanz, es hat keine wirkliche Eigen-Existenz. Das wahre Sein kann nur als Augenblick im Prozess-Ablauf der Zeit verstanden werden. Es ist auch kein isolierter Augenblick, denn es gibt immer Wechselwirkung zur Vergangenheit und Zukunft, wie Buddha betont. Aber auch Heidegger hat sich in seinen Spätwerk mit der Publikation "Zeit und Sein" und seinen Untersuchungen zum Ereignis der Zen-Philosophie beachtlich angenähert. Diese Zusammenhang wäre es wirklich wert, vertieft analysiert zu werden.
Übrigens
ist diese Erkenntnis der modernen Physik und Naturwissenschaft seit den
bahnbrechenden Arbeiten von Einstein und Heisenberg ganz unbestritten Der
bekannter theoretische Physiker Peter Dürr sagt daher, dass der Ansatz von
kleinsten unabhängigen Atomen durch die Vorstellung von elementaren Prozessen
ersetzt werden muss. Er spricht dabei von Prozesschen. Der Augenblick ist untrennbar
mit dem Prozess der Zeit verbunden. Diese fundamentale Wahrheit des Buddhismus
wurde besonders von den großen Meistern Nagarjuna, Vasubandhu und Dogen
hervorgehoben, schon viel früher als in der westlichen Naturwissenschaft. Dazu
ist als Beispiel die Funktion unseres Gehirns einleuchtend: Alle Gehirnleistung
des neuronalen Netzes sind Impulse in der Zeit, es gibt keine zeitunabhängig
gespeicherten Informationen im Gehirn. Und nur das lebende Gehirn kann dies
leisten. Ein totes Gehirn verarbeitet keine Informationen mehr, hat keine
Erinnerung und keine ethischen Leistung. Vereinfacht gilt: Leben ist immer auch
zugleich Zeit. Ohne Zeit gibt es keine Wirklichkeit, das haben der Buddhismus
und die moderne Physik unabhängig von einander geklärt. Ohne die
Veränderlichkeit der Zeit kann das Leiden nicht zur Ruhe kommen und überwunden
werden. Und ohne Zeit kann es keine heilsame Entwicklung und Befreiung in
unserem Leben geben. Wer die Zeit ausklammert, erstarrt und ist eigentlich
schon geistig und psychisch tot, wenn er biologisch noch lebt.
Meister
F. S. Nakagawa schreibt zur Frage der Zeit: “Wenn man Zeit tief begreift,
findet man das wahre Leben. So möchte ich spontan antworten auf die Frage, ob
man dem Druck der Zeit entfliehen kann. Doch dann kommt sofort die Frage: Was
ist überhaupt die Zeit?“
Meines
Wissens haben Harada Roshi und Philip Kapleau zum ersten Mal dieses zentrale
Kapitel der Sein-Zeit in eine westliche Sprache übertragen.
Dōgen
erklärt, dass die Wirklichkeit aller Menschen, aller Lebewesen und überhaupt
aller Dinge und Phänomene des Universums und die wirkliche Zeit unauflösbar zu
einer Einheit verbunden sind. Es gibt also kein Erleben, kein Handeln und
nichts außerhalb der Zeit, wenn wir von der Wirklichkeit und Wahrheit des
Lebens und der Welt ausgehen und diese in den Mittelpunkt der Erfahrung und des
Denkens stellen. Das unmittelbare, volle Erleben und Handeln geschieht nur in
der Gegenwart, also im Hier und Jetzt. Demgegenüber sind, wie Nishijima
eindrucksvoll betont, die Vergangenheit und Zukunft nur Erinnerungen,
Erwartungen, Vorstellungen, Gedanken, Bilder und Hoffnungen, aber nicht die unmittelbare
Erfahrung der Wirklichkeit selbst. Sie sind sozusagen das Wetterleuchten in
unserem Geist, aber nicht das Wetter selbst; sie „zeigen auf den Mond“, sind
aber nicht der Mond.
Wie
erklärt und begründet Dōgen nun diese zunächst eigenartig erscheinende Aussage?
Welche praktische Bedeutung hat eine solche Erkenntnis für unser eigenes Leben
und Handeln mit all den Mühen, aber auch den Augenblicken der Freude? Wie
hängen nun Augenblick Zeitprozess, Wirklichkeit und das Sein zusammen? Bereits
hier wird klar, dass es das Sein ohne Zeit und damit ohne zeitliche
Veränderungen nicht geben kann. Wer also die abendländische Ontologie des Seins
als Konstanz oder unveränderliche Substanz versteht, ist im fundamentalen
Widerspruch zum Buddhismus. Der Mittlere Weg ist gleichzeitig ein zeitlicher
Weg. Er verwirklicht die Überwindung des Leidens und führt zur Befreiung und
zum Erwachen. Wer ohne Veränderung und Entwicklung lebt, ist geistig schon fast
tot. Wahres Sein ist Dynamik im Augenblick oder, wie Heidegger in späten Jahren
sagt Ereignis. Damit hatte er sich von der Metaphysik des Abendlandes endlich
verabschiedet. Ich führe das nicht zuletzt auf den bekannten Einfluss des Zen
zurück.
Wenn
wir es mit der Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt ernst meinen
und uns nicht in Gedanken, Spekulationen, Hoffnungen und Ängsten verlieren,
findet diese Wirklichkeit nur in der Gegenwart statt. Wie Meister Nishijima
betont, ist Buddhismus die Lehre und Praxis der Wirklichkeit, also des
Realismus, und ist unauflösbar mit dem Handeln und mit der Zeit als Gegenwart
verbunden. Jede Flucht aus der Wirklichkeit und Zeit führt letztlich zu
psychischem Leiden und Verdrängungen, die zwar kurzfristig eventuell ein
Überleben ermöglichen, aber langfristig mehr oder minder große psychische
Schäden anrichten. Diese erschweren dann die Bewältigung des Alltags oder
schließen sie sogar aus. So kann man die immer auftretenden Probleme des Lebens
nicht meistern, auf jeden Fall wird das Leben schwieriger und man verliert zum
Beispiel durch Verdrängungen das eigene Gleichgewicht. Das gemeinsame Entstehen
in Wechselwirkung, das Buddha lehrt, führt ins nicht ins Chaos, wie manche
vielleicht befürchten. Und Wechselwirkung ist vernetze Dynamik des Lebens.
Sigmund
Freud und andere namhafte Psychologen haben bei uns im Westen herausgearbeitet,
dass man sich der Wirklichkeit stellen muss, um psychisch gesund zu werden und gut
zu leben. Dieser Ansatz bildet die Grundlage wirkungsvoller Therapien, vor
allem psychoanalytisch orientierter Praxis. Dabei deckt der Therapeut gemeinsam
mit dem Patienten die Verdrängungen auf und macht sie bewusst. Dann beginnt die
gemeinsame Bewältigung und Heilung. Dadurch wird also der psychische
Heilungsprozess eingeleitet und die Erstarrung der Verdrängung kann gelöst
werden.
Dōgen
gelangt zu der klaren Schlussfolgerung, dass die Wirklichkeit, die Gegenwart
als Zeit und das Handeln unauflösbar miteinander verbunden sind. Nur wenn wir
dies in unserem Leben praktisch realisieren, sind wir in der Wirklichkeit und
Wahrheit, und dies ist der Buddha-Dharma oder das Erwachen. Eine solche
Erfahrung kann man besonders klar bei der Zazen-Praxis erleben, und ich bezeichnen
dies mit Nishijima Roshi als die erste Erleuchtung. Ich praktiziere außerdem
die beiden anderen Zen-Übungen des japanischen Bogeschießens, Kyudo, und der
Zen-Flöte, Shakuhachi. Bei diesen Übungen werden nach meiner festen Überzeugung
auch Endorphine also Glücksstoffe ausgeschüttet, die einen positiven Fluss des
Lebens bewirken und den Geist erstaunlich klar machen. Diese drei Übungen sind
Handeln und kein statischer oder sogar starrer Zustand. Im Westen wird dafür
auch der Begriff Flow verwendet.
Der
Zen-Buddhismus legt großen Wert auf das tägliche Leben, in dem sich sowohl in
der Zazen-Praxis als auch im Alltag die Sein-Zeit als erste Erleuchtung
ereignen kann. So heißt es:" Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wassr
schöpfen". Erleuchtung ist also kein erträumter Idealzustand des Geistes,
der unabhängig vom Körper und der Zeit unveränderlich existiert. Wir wissen
heute, dass unser neuronales Netz unaufhörlich in Bewegung ist, weil die
elektrischen Impulse der Informationen sich dauernd im Netz bewegen. Nur ein
totes Gehirn ist ohne Bewegung und daher ohne Speicherung und Verarbeitung von
Informationen. Dann funktionieren kein Denken, Fühlen, keine Wahrnehmung, keine
Empathie und keine Ethik. Deshalb konnte die Gehirnforschung erst große
Fortschritte machen, als man durch die neuen Bild gebenden Verfahren dem Gehirn
bei "der Arbeit zusehen" kann, wie der Gehirnforsche Manfred Spitzer
sagt.
Es
soll erwähnt werden, dass auch in der modernen Philosophie der Phänomenologie
die Frage nach der wirklichen Zeit von ganz neuer Bedeutung ist. Martin
Heidegger hat sein großes Frühwerk Sein
und Zeit genannt und eine Philosophie vom Sein vertreten, die der
abendländischen Geschichte entspricht, und damit kaum Verbindungen zur
Zen-Tradition ermöglicht. In einem seiner letzten Vorträge, Zeit und Sein, hat
diese philosophische Einschätzung geändert und mit dem Ereignis verbunden.
Damit wird eine größere Nähe zu Dôgens Sein-Zeit hergestellt. In der
Philosophie der Gegenwart hat sich Rolf Elberfeld in seinem Buch Phänomenologie der Zeit im Buddhismus,
Methoden des interkulturellen Philosophierens intensiv mit diesem Thema
beschäftigt. In der westlichen Welt und im westlichen Denken wird also endlich die
Wirklichkeit der Zeit immer mehr in den Blick gerückt und die Statik der
Metaphysik des Seins beiseite gelassen.
Ich
möchte von der „linearen gedachten Zeit“ sprechen, wenn die uns meist vertraute
Vorstellung gemeint ist, dass die Zeit von der Vergangenheit über die Gegenwart
in die Zukunft wie eine Linie verläuft. Diese lineare Zeit hat Sie hat jedoch
in dem diesem Kapitel von Dōgen nur eine nebengeordnete Bedeutung. Es geht
nicht um abstrakte gedachte Theorien sondern um phänomenologisch erfasste
Wirklichkeiten. Abstrakte Gedanken-Konstrukte nennt daher Vasubandhu
"Fabrikationen" und zwar vor allem, wenn unwirkliche und unheilsame
Doktrinen und Ideologien dominieren.
Nishijima
Roshi unterstreicht, dass ohne das „Verstehen“ und die Erfahrung der wahren Zeit
im Sinne Dōgens die Lehre und Praxis des Buddhismus unverständlich und auch
unwirksam bleiben müssen.
Dōgen
sagt hierzu in einem Gedicht am Anfang diese Kapitels:
Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, auf
dem höchsten Berggipfel stehen.
Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, sich
auf dem Grund des tiefsten Ozeans bewegen.
Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, drei
Köpfe und acht Arme (des Tempelwächters).
Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, der
sechzehn Fuß hohe (stehende), oder der acht Fuß hohe (sitzende) goldene Buddha.
Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, ein
(konkreter) Stab oder ein Fliegenwedel (für die Zeremonien).
Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, ein
äußerer Pfeiler (des Tempels) oder eine Steinlaterne.
Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, der
(ganz normale) dritte Sohn des Zhang oder der vierte (Sohn) des Li.
Zu einer Zeit, der Sein-Zeit, die
Erde und der Raum.“
Diese
Sein-Zeit wird als wahrer Augenblick des veränderlichen Lebens verstanden.
Buddha und Nagarjuna verwenden für diese fundmentale Aussage: "Gemeinsames
Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada". Dadurch wird die
rückgekoppelte Vernetzung aller lebendigen Prozesse betont, die zum Beispiel
typisch für Öko-Systeme und das neuronale Netz des Menschen sind.
In
dem Gedicht wird die Untrennbarkeit der Sein-Zeit mit allen Bereichen in der
Welt genannt: den Dingen, Phänomenen, der Bewegung, dem Handeln usw. im Leben. Dabei
werden der höchste Berg und der tiefste Ozean für die materielle Welt, der
Tempelwächter und das Bildnis des stehenden und liegenden Buddhas für den Weg
der Befreiung genannt. Diese haben sowohl eine räumliche, konkrete Sicht als
auch ideelle und spirituelle Bedeutungen im Buddhismus.
Weiterhin
werden die Gegenstände der praktischen buddhistischen Zeremonien sowie die
Stützpfeiler des Tempels aufgezählt, die meist außerhalb der Räume des Klosters
stehen. Die genannten Steinlaternen werden meist die im Garten des Klosters
aufgestellt. In dem Gedicht wird auch das Alltagsleben der chinesischen Familien
einbezogen, wobei die Familiennamen Zhang und Li weit verbreitet waren, wie
etwa Schmidt, Müller und Schulze bei uns. Das Gedicht schließt mit Nennung der
Erde und des Raumes und verallgemeinert damit die erste Zeile. Die ganze Welt,
die Erde, unser Leben und überhaupt alles im Universum werden also als
Sein-Zeit genannt. Sie ist im Verständnis des Buddhismus unauflösbar mit all
diesem verbunden und in andauernder Wechselwirkung. Das eine kann ohne das
andere überhaupt nicht sein, sich nicht verändern und nicht leben. Dabei geht
es darum, in diesem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, pratitya
samutpada, unseren Weg der Befreiung, des Gleichgewichts und der guten Entwicklung
unseren Gang des Lebens zu steuern und unser Leiden zur Ruhe kommen zu lassen.
Das ist der Mittlere Weg, der ideologische, emotionale und körperlich unnütze
Extreme vermeidet.
Sein
und Zeit bilden ein großartiges gemeinsames Ganzes, das in der erfahrenen und
erlebten Wirklichkeit nicht gespalten und getrennt werden kann. Eine solche
Trennung würde zum fabrizierten Dualismus führen, wie der große Meister des
Yogacara Vasubandhu sagt. So etwas wird nur in unserem Verstand durch doktrinäre
Überlegungen und unterscheidendes Denken konstruiert. Dabei haben wir
allerdings nach Buddhas Lehre und Praxis bereits die Wirklichkeit und Wahrheit
verlassen. Wir kreisen dann oft sinnlos in eigenen Denk-Konstrukten und
Emotions-Schleifen. Es ist die große Wirkung der Zazen-Praxis, aus derartigen
meistens unbewussten, spekulativen und abstrakten „Denknestern“,
Emotions-Schleifen und Fantasiegebilden zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt
herausfinden und die Flucht aus der Realität zu beenden. Denn diese Flucht ist
nach buddhistischer Lehre eine fatale Ursache des Leidens, das überwunden
werden kann.
In
der klaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt kann der Mensch nach Dōgen gut
handeln und ein erfülltes und freudiges Leben führen. Dies bedeutet aber nicht,
dass es verboten ist, zu denken, zu überlegen und zu planen: im Gegenteil! Wir können
und sollten Klarheit erlangen, wann wir unheilsame Vorstellungen und scheinbar schöne
oder erbauliche Illusionen haben, und wann wir in der Fülle der Wirklichkeit
leben und denken. Beides dürfen wir nicht verwechseln und durch einander
bringen. Wie es hier heißt: Die Wirklichkeit besteht aus den vierundzwanzig Stunden
des Tages, dem goldenen Körper Buddhas und ist die Zeit als lebendige Sein-Zeit
selbst. Kurz gesagt: Es gibt kein Leben unabhängig von der Zeit. Und wir
sollten keine Zeit in unserem Leben verschwenden, weil wir dann das Leben
selbst verschwenden.
Die
Menschen zweifeln, wie Dōgen sagt, manchmal nicht an unklaren oder gar falschen
Aussagen, während sie große Bedenken an wirklichen und wahren Tatsachen und
Fakten haben. Traurige Beispiele sind die Verschwörungstheorien in der Corona
Pandemie und der Präsidentschaft Trumps. Auch ein solches Zweifeln ist
allerdings Handeln im Leben und findet nicht außerhalb der Zeit statt. Nur
etwas Konstantes und Unveränderliches kann außerhalb dieser Sein-Zeit existieren,
aber so etwas gibt es in der Wirklichkeit des Lebens nicht. Die Wirklichkeit geht in Augenblicken und miteinander
vernetzten Prozessen voran. Die Zen-Meisterin Ritsunen Linnebach spricht davon,
dass die Wahrheit sich „Augenblick für Augenblick“ verwirklich. Mit ihr
zusammen habe ich übrigens diesen Text aus dem Japanischen formuliert.
Dōgen
sagt weiter:
„Weil (die wirkliche Zeit) nur dieser genaue Augenblick ist,
sind alle Augenblicke der Sein-Zeit das Ganze der Zeit und alle wirklichen
Dinge, und alle wirklichen Phänomene sind Zeit. Das wahre, nicht doktrinierte Sein
und das ganze Universum wirken in einzelnen Augenblicken der Zeit.“
Dōgen
erklärt hier die zentrale Bedeutung der Gegenwart und der Augenblicklichkeit
bei der Zeit. Damit sind alle Phänomene, das Erleben und Handeln und die Welt
nur wirklich mit der Zeit. Wenn wir ganz in der Gegenwart und ganz im jetzigen
Augenblick leben und handeln, sind wir wirklich in der Sein-Zeit und damit in
der Realität. Das falsch gedachte Gegenteil kann wie folgt formuliert werden:
Die Dinge und Phänomene, Dharmas, sind unveränderlich und damit unabhängig von
der Zeit. Sie sind zudem von einander
isoliert und getrennt. Dieses Denken ist eine schwer wiegende Sackgasse
und wurde besonders von Nagarjuna überzeugend falsifiziert. Die abgelehnte
Philosophie wird Substantialismus genannt. Es handelt sich dabei um die ideologische
Schein-Substanz.
Diese
Augenblicke der Sein-Zeit behindern sich nach Dōgen nicht gegenseitig sie sind
aber auch nicht isoliert von einander. Es handelt sich um eine lebende Kette und
um ein Fließen der Augenblicke. Prozesse der Zeit und Augenblicke der Zeit
wirken immer zusammen. Störende Erinnerungen des Geistes oder Ängste über die
Zukunft gehören also nicht einer solchen Sein-Zeit an und sind damit im
eigentlichen Sinne nicht Wirklichkeit. Dass eine solche Lebensweise mit der
vollen Wirklichkeit des Augenblicks nicht einfach zu realisieren ist und
zunächst eher als Schulungsziel gelten kann, steht sicher außer Zweifel. Dies
ist ein Kern der Buddha-Lehre also des gemeinsamen Entstehens in der vernetzten
Wirklichkeit. Vor allem durch die Zazen-Praxis lernen wir, im Augenblick zu
handeln und zu erleben, ohne dass wir von Gedanken, Gefühlen, Ängsten,
Illusionen, Fantasien usw. gestört und geschwächt werden. Daher nennt Nishijima
Roshi die Meditation des Zazen die erste Erleuchtung.
Man
kann nach Dōgen nicht sagen, dass die Zeit kommt und geht, auftaucht und verschwindet,
denn die wirkliche Zeit ist immer die Gegenwart des Handelns und Wirklichkeit
selbst. Er fährt fort:
„Weil (die Zeit wirklich) Sein-Zeit ist, ist sie meine
Sein-Zeit.“
Also
sind allgemeine, abstrakte Überlegungen über die Zeit nicht die Sein-Zeit des
Buddhismus, die Dōgen hier beschreibt. Denn die Sein-Zeit ist mein eigenes
Erleben und Handeln, ich bin immer mit einbezogen und kann mich nicht
heraushalten. Manchmal wird die lineare Zeit als eine „Kette von jeweiligen
Augenblicken“ nur gedacht, aber dies ist dann Theorie und nicht die
Wirklichkeit des Erlebens. Tatsächlich ist die Sein-Zeit nur im gegenwärtigen Augenblick,
wenn die abstrakte Ebene des unterscheidenden Denkens und der Überlegung
verlassen wird und wir uns ganz auf die Wirklichkeit selbst einlassen.
Im
Folgenden heißt es:
„Die (Sein-Zeit), die auch bewirkt, dass (die Tageszeit) des
Pferdes und des Schafs so beschaffen in der Welt sind, wie sie heute sind, ist
etwas Steigendes und Fallendes. Und es ist etwas Unfassbares, das an seinem
Platz im Dharma verweilt.“
Hier
werden die Zeiten des Tages und der Nacht angesprochen, die in China nach
Tieren benannt wurden. Die Sein-Zeit kann also mit dem üblichen und
intellektuellen Denken nicht vollständig erfasst werden und ist damit für den
Verstand in diesem Sinne letztlich unfassbar. Die Sein-Zeit geht über das
Denken, den Verstand, die Vorstellung und Wissenschaft hinaus und kann ereignet
sich vor allem im Handeln und Erleben. Dann ist es die vollständige Verwirklichung
der ganzen Zeit als ganzes Leben, und darüber hinaus kann es überhaupt nichts
anderes Wirkliches geben. Wenn zu der Sein-Zeit etwas Zusätzliches hinzugedacht
oder mit Worten formuliert wird, ist dies eben nur ein Zusatz und nicht die
Sein-Zeit selbst.
Nach
Dōgen ist die Sein-Zeit, die zur Hälfte, also ohne fabrizierte Zusätze,
verwirklicht ist, die vollständige Verwirklichung der wahren Sein-Zeit und
nicht mehr und nicht weniger. Die ideelle scheinbar ganze Verwirklichung der
Sein-Zeit kann nicht in der Realität erlangt werden, sie wird als Ideal,
Hoffnung oder Ziel formuliert. Ideologien und unheilsame Doktrinen sind Verirrungen
von der wahren Zeit und deren Wechselwirkungen. Dies gilt besonders für
Doktrinen von Schein-Substanzen, die Ewigkeit und Unveränderlichkeit
suggerieren, wie Nagarjuna nachgewiesen hat. Der Mittlere Weg kann ohne Zeit
nicht erlebt und erfahren werden. Das Leiden kann nur im Gang der Zeit
überwunden werden, es ist in der Wirklichkeit niemals unabhängig von der Zeit
und zeitlichen Veränderung.
„An unserem Platz im Dharma im Zustand des kraftvollen
Handelns zu sein ist genau die Sein-Zeit“.
Die
Sein-Zeit wird also verwirklicht, ohne dass sie durch Begrenzungen und
Hindernisse gestoppt wird, zum Beispiel durch Ideologien und Doktrinen, die
Unveränderlichkeit versprechen. Sie kann nicht festgehalten werden, und es hat
daher keinen Sinn, Vergangenes festhalten zu wollen und zu beklagen, dass es
nicht mehr existiert.
Das
wirkliche Erleben des Frühlings kann man nach Dōgen nicht durch den abstrakten
zeitlichen Ablauf des Jahres beschreiben, bei dem der Frühling wie eine Sache zwischen
den Jahreszeiten des Winters und Sommers gedacht wird. Dies gilt umso mehr,
wenn diese Jahreszeiten wie abgegrenzte Dinge oder Entitäten verstanden werden.
Die Begriffe suggerieren dabei Schein-Substanzen, die vom wahren Erleben und
Handeln wegführen. Die Zeit ist kein Ding, wie übrigens auch Heidegger sagt. Derartige
Gedanken von Substanz haben einen hohen Abstraktionsgrad und sind weit von der sich
dynamisch verändernden Praxis und dem wirklichen Erleben in der Gegenwart des
Frühlings entfernt. Vielmehr geht es um die Gegenwart und das wahre Erleben der
Blumen, der Wärme, des milden Südwindes, der Knospen, der frischen Blätter und
der vollen Lebendigkeit der Natur. Ein solches Erleben im Augenblick des
Frühlings eröffnet dessen Wirklichkeit unmittelbar für uns und benötigt keine
abstrakten Gedanken über den vergangenen Winter und den kommenden Sommer. Solche
Gedanken stören sogar das Ereignis „Frühling“. Denn uns beschleicht vielleicht
die Angst, dass der schöne Frühling schon bald wieder vorbei ist. Eventuell
klagen wir, der Frühling sei nur so kurz, und können ihn gar nicht mehr
„genießen“. Eine abstrakte Beschreibung des Frühlings kann also niemals die
Wirklichkeit ersetzen.
Dōgen rät uns schließlich, dass wir uns mit dieser Wahrheit der Sein-Zeit immer wieder beschäftigen sollen, dass wir uns darauf fokussieren und dann wieder loslassen. Denn wir wissen aus der heutigen Gehirnforschung, dass die Schulung des Geistes am besten mit Freude und Wiederholung gelingt.