Buddha, dem großen Wissenden
(Mit Erläuterungen von Yudo J. Seggelke)
( Stand Nov. 2021)
Das Herz-Sutra ist eines der wichtigsten
kurzen Texte des Buddhismu. Es gibt mehrere ausgezeichnete Fassungen, aber auch Anlass zu Verwirrungen und
sehr eigenartigen Interpretationen. Ich möchte daher bei einer sehr
genauen Übersetzung des Sanskrit-Textes ansetzen, die auf einer wörtlichen
Wort-für-Wort-Übersetzung des Urtextes basiert. Diese Methode haben die
Indologin Elisabeth Steinbrückner und ich bei der Bearbeitung des Mittleren
Weges (MMK) von Nagarjuna und der Lehrgedichte des Yogacara von Vasubandhu
konsequent angewendet. Dadurch konnten m. E. einige bisherigen Unklarheiten
beseitigt werden. Übrigens ist mein Zen-Lehrer Nishijima Roshi bei der Bearbeitung
des Shobogenzo von Meister Dogen in gleicher Weise vorgegangen. Er hat damit
eine erste verlässliche Gesamtfassung dies fundamentalen Werkes erarbeitet.
Meine eigenen Arbeiten zum Zen beruhen überwiegend auf seinen Texten, die eine
hohe Validität haben.
Hier möchte ich zum Herz-Sutra einige
Erläuterungen und Interpretationen einfügen, die bei einer wörtlichen
Übersetzung klarer erkennbar sind. Später sollen detailliertere Untersuchungen
folgen.
In der buddhistischen Forschung setzt sich
eine ganz neue historische Einordnung des Herz-Sutras immer mehr durch, dass es
sich nämlich um einen ursprünglich chinesische Text aus dem siebten Jahrhundert
handelt Dieser sei dann ins Sanskrit übersetzt worden.[1] Es
wird weiter vermutet, dass diese Übersetzung den Sinn hatte, die
Glaubwürdigkeit und buddhistische Authentizität in China zu unterstützen. Ich
halte diese Hypothese für sehr beachtenswert. Das Herz-Sutra beginnt:
Der Bodhisattva „edler Avalokiteshvara“, der die Praxis in der tiefen Prajnâpâramitâ praktiziert, blickte herab. Er sah die fünf
Komponenten des Menschen, skandhas, als leer.
Man
sollte hinzufügen als leer von
den drei Giften Gier Hass und Verblendung und besonders durch eine eingebildete
Substanz für die Komponenten des Menschen, Skandhas. Diese fiktive Substanz sei
unveränderlich und ewig. Sie ist aber eine Schein-Substanz (svabhâva) und unheilsame
Illusion, weil sie als unveränderlich und isoliert gedacht wird. Sie ist daher
eine gefährliche und illusionäre Ideologie der Dinge und Phänomene, Dharmas,
und führt zum Leiden. Wer einer solchen Ideologie anhängt und von ihr ergriffen
ist, kann die Wirklichkeit der Welt und des Menschen nicht annähernd klar
erkennen und lebt in einer Scheinwelt voller Leiden und Plagen. Es heißt
wörtlich:
Hier: Form - Leerheit / Leerheit - wirkliche Form.
Von Form nicht gesondert Leerheit;
von Leerheit nicht gesondert Form.
Was Form, das Leerheit;
was Leerheit das Form
Diese wörtliche Übersetzung des Urtextes wirkt sicher
zunächst eigenartig, hat aber nach meinem Verständnis genau so eine große
Bedeutung. Die bisherigen Übersetzungen lauten meist: "Form ist Leerheit und Leerheit ist Form" Oder auch "Form ist Leere und Leere ist Form" . Das "ist"
gibt es aber nicht im Urtext, es ist also schlicht zugesetzt und stiftet bei
vielen erhebliche Verwirrung. Dadurch entsteht die Gefahr, dass eine Identität
von Form und Leerheit geglaubt wird. Im Buddhismus wird jedoch die totale
Identität als Schein-Wahrheit abgelehnt, denn es handelt sich um die Dualität
von Identität und Differenz. Durch den Zusatz von "ist" ergibt sich in diesem Sinne aus meiner Sicht ein
unlösbares Paradox, das typisch für dualistisches Denken ist, von Buddha als
falsch entlarvt wurde.
Wie kann man die Formulierung des Urtextes wirklich
verstehen? Antwort: Der Autor des Textes fordert uns auf über die wahre
Bedeutung und den Zusammenhang von Form und Leerheit jeweils im Sinne des
Buddhismus zu kontemplieren. Das heißt besonders, das Dogma des Dualismus und
der Scheinsubstanz muss überwunden werden, um die Wirklichkeit zu sehen und zu
erfahren.
Und was ist die Bedeutung von Leerheit? Dies klärt Meister
Nagarjuna im MMK.[2] Leerheit ist die Bezeichnung für das
natürliche gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung. Das ist vor allem die Wirklichkeit ohne die drei Gifte,
ohne die verzerrende Dogmatik der Dualität und unveränderlicher
Schein-Substanzen. Es geht schlicht um die wahre Form des Menschen ohne
dogmatische und ideologische Perversion!
Diese Wirklichkeit der Form also ist leer von einer
eingebildeten isolierten Schein-Substanz und damit leer von Dualität, also von
eingebildetem Subjekt und Objekt. Damit wird klar, dass die Form des Menschen
nicht isoliert und statisch verstanden werden darf. Sie ist dagegen in
lebendiger Wechselwirkung mit den anderen Komponenten des Menschen, den
Skandhas, und der Umwelt.
Form und Leerheit sind also weder absolut identisch noch
absolut isoliert und different. Die wirkliche Form ist durch Leerheit
gekennzeichnet und damit nach Buddha genau dann die wahre Form und keine
Illusion. Und die Form ist auch nicht identisch mit der Leerheit oder der
Leere.
In diesen ersten Versen möchte der Autor aus meiner Sicht
sagen, dass wir tiefgründig und gründlich klären, dass es keine absolute
Identität oder keine absolute Differenz gibt. Oder genauer: Diese können in der
Wirklich des Lebens und der lebendigen Vernetzung nicht beobachtet werden.
Heute wissen wir aus der Öko-Systemforschung und Gehirnforschung, dass Wechselwirkung und Vernetzung die Grundprinzipien des Lebens sind. Das haben Buddha
und Nagarjuna bereits vor zweitausend Jahre durch genaue Beobachtung der
Menschen, Tiere, Dinge und Phänomene der Natur erkannt und zur philosophischen
Grundlage ihrer Lebenshilfe und Therapie gemacht!
Genau so Gefühl, Wahrnehmung, formende Kräfte und
Bewusstseine.
Die obige Klärung für die wirkliche Form
gilt damit auch für die anderen Komponenten des Menschen, Skandhas.
Shâriputra, alle
Dinge und Phänomene, Dharmas, haben das Merkmal der Leerheit.
Das bedeutet also die von den drei Giften
Gier Hass und Verblendung befreite und entleerte Wirklichkeit. Wenn wir aber im
Gegenteil durch Dogmen und Vorurteile verblendet, starr und vergiftet sind, dann glauben wir fälschlich:
Die Komponenten des Menschen sind unentstanden, unvergangen, (dualistisch) ohne Flecken oder frei von Flecken, (unveränderlich, also) nicht weniger (oder) nicht mehr.
Nun spricht der Autor Buddhas großen
Schüler Shariputra an, der für seine
Klugheit und geistige Weisheit berühmt war. Damit wird die Gültigkeit des
Herz-Sutra für die im Mitgefühl handelnden Bodhisattvas und die in großer
Mitglieder der Sangha mit ihrer geistigen Klarheit betont. Das Herz-Sutra hat
beide im Blick.
Von daher,
Shâriputra, in Leerheit (erkennt man) nicht (die
eingebildete dogmatische Substanz) von Form, nicht Gefühl, nicht Wahrnehmung, nicht formende
Kräfte, nicht Bewusstseine.
Nach den Komponenten des Menschen werden
nun die Wahrnehmung und deren angeblich getrennten Obejekte analysiert, wenn
sie in der Blindheit der Dualität tätig sind. Dann gilt:
Nicht Auge-Ohr-Nase-Zunge-Körper- Denkorgan.
nicht Form-Ton-Duft-Geschmack.
(Keine wirklichen Phänomene,) Dharmas des
Berührbaren; nicht (die Wirklichkeit des) Augenbereichs bis Denkorganbereichs.
In der Leerheit gibt es keine eingebildete Dualität, denn das wäre:
Nicht
Wissen und nicht Nichtwissen. Nicht Schwinden von Wissen
Keine
eingebildete Dualität und eingebildete Substanz und Starrheit bei
Nicht
Altern, Sterben und nicht Schwinden von Altern und Sterben. Nicht Leiden, Entstehen, Auflösung, Weg, nicht Wissen, nicht Erlangen.
Jetzt
wird die Befreiung von der perversen Ideologie der Starrheit,
Unveränderlichkeit und eingebildeten Substanz der Dinge und Phänomene
beschrieben. Das ist die tiefe Weisheit des gemeinsamen Entstehens in
Wechselwirkung, pratitya samutpada, und die höchsten dem Menschen mögliche Weisheit.
Und ein Bodhisattva, der sich auf die prajnâpâramitâ gestützt hat, verweilt mit
einem Geist mit
(Leerheit von) Hemmnissen. Aus der Nicht-Existenz eines Geistes mit Hemmnissen ist er ohne Schrecken, hat das Gegenteil erklommen, ist gegründet im Nirvâna.
Dabei kann man das Nirvana gemäß Meister
Nagarjuna als die Befreiung von Leiden und Plagen im Hier und Jetzt verstehen
Alle in den drei Wegen/Zeiten wurzelnden Buddhas haben sich auf die pranjâpâramitâ gestützt und sind in das höchste rechte Erwachen völlig erwacht.
Nun
geht es um die generelle Wirklichkeit und Wahrheit der Vier Edlen Wahheit der
Überwindung des Leidens und des Herz-Sutras:
Deshalb soll erkannt werden das große prajnâpâramitâ-mantra, das große vidyâ-mantra, das allerhöchste Mantra, das alle Leiden stillende,
die Wahrheit die aus der Nicht-Falschheit kommt, das in der prajnâpâramitâ gesprochene Mantra, und zwar:
Gate gate pâra-gate
pâra-saágate bodhi svâhâ .
Gegangen, gegangen,
hinüber gegangen und völlig hinüber
gegangen. Bodhi svâhâ.
Damit hat der Mensch die Freiheit und den großen Frieden
verwirklicht. Er hat die Perversion und Plagen von Dualismus und auch der eingebildeten, ewigen und unveränderlichen Substanz überwunden.
[1] Tanahashi, Kazuaki: The Heart Sutra.
[2] Nagarjuna: Mittlerer Weg, MMK, Die Vier Edlen Wahrheiten, Kap. 24. Aus meinem Buch "Sternstunden des Buddhismus" Bd. 3