In diesem Kapitel beschreibt Dôgen die 16 Gelöbnisse im Mahâyâna-Buddhismus. Sie sind verhältnismäßig pragmatisch gestaltet, direkt formuliert und sollen eine klare Leitlinie in unser Leben bringen, die uns auf dem Buddha-Weg stützt und eine gute Entwicklung verstärkt.
Im traditionellen
frühen Buddhismus (Hinâyâna, Theravâda) hatte sich die Anzahl der Gelöbnisse in
den ersten Jahrhunderten nach Gautama
Buddha zunehmend erhöht, sodass
schließlich 250 Gelöbnisse für Mönche und 348 für Nonnen existierten. Sie
werden in diesen Traditionen auch heute noch so abgelegt. Mit der Bewegung des
Mahâyâna und der Entwicklung des buddhistischen Ideals des Bodhisattva, der sich im sozialen Handeln mit anderen Menschen verwirklicht
und die eigene Erleuchtung grundsätzlich zurückstellt, bis alle anderen
Lebewesen gerettet worden sind, ergab sich die Notwendigkeit einer
Vereinfachung. Dies gilt umso mehr, da die Gelöbnisse auch von Laien empfangen
und abgelegt werden und nicht nur von Mönchen und Nonnen, wenn sie in ein
Kloster eintreten.
Nishijima Roshi
betont, dass es bei den Gelöbnissen überhaupt nicht um Bestrafung, Abwertung
oder gar Stigmatisierung derjenigen geht, die angeblich oder wirklich die
Gelöbnisse verletzt haben, sondern dass ein Moment der Kräftigung für die
Schüler wirksam wird. Mit der bewussten Entscheidung, den Buddha-Weg zu gehen,
benötigt man auch ein deutliches Leitbild und bestimmte Ziele oder Vorgaben, um
sich im eigenen Leben nicht zu verzetteln und nicht den verschiedensten
Verführungen und Ablenkungen zu erliegen, die heute mehr denn je auf uns
einwirken. Gerade in der modernen Zeit mit den sehr leistungsfähigen
Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten werden die vielfältigsten
Leitbilder und Lebensphilosophien an uns herangetragen, sodass wir immer erneut
verwirrt werden. Hinzu kommt, dass uns viele populistische und suggestive
„Lehren“ für das richtige und erfolgreiche Leben erreichen, die von ganz
bestimmten Interessen gesteuert werden. Zum Beispiel stammen solch falsche
Lehren häufig aus politischen Lagern und dienen in Wahrheit der eigenen Macht.
Ähnliches gilt für die Unternehmen der Industrie und Wirtschaft, die mithilfe
von Werbeslogans und ästhetischen Bildern versuchen, den eigenen Marktanteil
und Gewinn zu vergrößern. Dies wird aber natürlich nicht offen zugegeben,
sondern als großartiger Lebensentwurf verpackt. In der Tat scheinen die in
Werbespots und -bildern dargestellten Menschen das große Glück, um nicht zu
sagen die Erleuchtung, erlangt zu haben. Dies ereignet sich angeblich durch den
Kauf der entsprechenden Produkte. Eine Formel dafür könnte etwa lauten:
„Erfolgreiche Menschen kaufen dieses Produkt und werden damit noch
glücklicher.“ Dass solche Menschen schön und attraktiv aussehen, versteht sich
dabei von selbst. Auch in vielen Zeitschriften werden Leitbilder und
Lebensphilosophien „verkauft“, die so ersonnen sind, dass sie eine möglichst
große Zahl von Lesern in entsprechenden Zielgruppen ansprechen und dadurch
sicherstellen, dass diese Zeitschriften auch weiterhin gekauft werden. Selbst
ernannte Psychologen und Heilsbringer verkünden dort die verschiedensten
Patentlösungen, um glücklich zu werden. Sie erwecken den Eindruck, als ob man
bereits durch das Lesen dieser Artikel den Schlüssel für das eigene Glück in
Händen halten würde. Ähnliches gilt für die vielen Lockangebote des
spirituellen Buchmarktes. Dies hat eine lange traurige Tradition, die bis auf
die Zeit Gautama Buddhas zurückgeht.
Bei der
gegenwärtigen komplexen und verwirrenden Gemengelage von Informationen und
wegen des Verfalls der Bindungskraft der christlichen Gebote gewinnt der
praktische Wert der klaren buddhistischen Gelöbnisse erheblich an Bedeutung.
Dôgen schildert die buddhistischen Gelöbnis-Zeremonien, die vom jeweiligen
Meister geleitet werden. Wer selbst schon eine solche Zeremonie mit einem
bedeutenden Meister erlebt hat, wird gern bestätigen, dass sie eine besondere
spirituelle und psychische Kraft entwickelt, und will sie keinesfalls auf dem
Buddha-Weg missen. Auch Dôgen schätzt die Bodhisattva-Gelöbnisse und die
entsprechende Zeremonie sehr. In der Dôgen-Sangha von Nishijima Roshi werden
nach wie vor Dôgens wörtliche Formulierungen der Gelöbnisse verwendet. Auch die
Zeremonie wird nach seinen Vorgaben durchgeführt. Dôgen gibt einen alten
Meister wieder:
„Daher sind die
Gelöbnisse das Wichtigste, wenn wir (Za)zen praktizieren und die Wahrheit
erkunden. Wenn wir uns nicht von Übertreibungen fernhalten und gegen das
Falsche schützen: Wie ist es dann möglich, den Zustand des Buddhas zu
verwirklichen und ein Nachfolger im Dharma zu werden?“
Wir sollten die
Gelöbnisse keinesfalls als nebensächlich ansehen. Deshalb ist es nach Dôgen
sinnvoll, neue und saubere Kleidung dafür anzuziehen, damit wir ganzheitlich
die Erfahrung eines neuen Beginns von Körper-und-Geist in unserem Leben machen.
Wir sollten die Gelöbnisse gewissermaßen in unser Herz eingravieren, damit sie
eine große andauernde Kraft und Energie in unser Leben bringen und sich immer
klarer und richtungsweisender entwickeln. Dôgen sagt, dass die so verstandenen
Gelöbnisse bereits der „Schatz des wahren Dharma-Auges“ sind, und er betont die
authentische Weitergabe von einem Meister zum anderen, die sich gerade bei den
Gelöbnissen konkret verwirklichen würde:
„Es kann keinen
buddhistischen Meister geben, der die buddhistischen Gelöbnisse nicht empfangen
und bewahrt hat. Einige haben sie (direkt) unter dem Tathâgata empfangen und
bewahrt. Das bedeutet in jedem Fall, das (wahre) Lebensblut empfangen zu
haben.“
Dôgen nennt dann
beispielhaft einige große Vorfahren im Dharma – Nâgârjuna, Bodhidharma,
Daikan Enô, Seigen und Nangaku –
und bedauert sehr, dass es leider auch unverlässliche, angebliche Meister gibt.
Durch die Gelöbnisse bekommen wir laut Dôgen einen direkten Zugang zum „inneren
Heiligtum“ der Meister. Dies gelte aber nicht für nachlässige und träge
Menschen.
Einige Zeit vor der
Zeremonie fragt der Schüler den Meister, ob er die Gelöbnisse erhalten und
empfangen darf. Nach dessen Zustimmung beginnt die eigentliche Vorbereitung
damit, dass der Schüler die neue Kleidung kauft oder selbst anfertigt. Zu
Beginn der Zeremonie werden Niederwerfungen vor den Statuen und Bildern des
Zentrums oder Tempels, vor den drei Juwelen des Buddhismus und vor den großen
Vorfahren im Dharma gemacht. Dadurch wirft man die bisherigen vielfältigen
Einschränkungen und Blockaden ab und ist in der Lage, den Körper-und-Geist zu
reinigen.
Der Schüler wird
entsprechend der Überlieferung am Anfang der Zeremonie gebeten, die Worte zu
sprechen, dass er zu Buddha, zum Dharma und zum Sangha Zuflucht nimmt.
Der Begriff
„Zuflucht“ hat sich im buddhistischen Sprachgebrauch durchgesetzt und wird
deswegen auch hier verwendet. Er trifft allerdings nicht genau die Bedeutung
dieses wesentlichen Schrittes, sich zu Buddha, Dharma und Sangha zu bekennen,
denn es handelt sich nach Dôgen nicht um eine Flucht und schon gar nicht um
eine Flucht aus der Welt, sondern um einen ersten positiven Schritt zur
Befreiung und zum Erwachen. Dieser erste Schritt auf dem buddhistischen Weg
eröffnet neue Möglichkeiten, um beengende und lästige Behinderungen
abzuschütteln und den Weg zur befreienden Wirklichkeit anzutreten und
voranzugehen. Auch die Zazen-Praxis entwickelt dann neue nachhaltige Wirkungen.
Der Meister sagt
nach diesem ersten Teil der Zeremonie:
„Gute Söhne (und
gute Töchter), jetzt haben Sie das Falsche verlassen und sich dem Wahren
gewidmet. Die Gelöbnisse umgeben Sie bereits. Sie sollen jetzt die drei
Zusammengefassten Reinen Gelöbnisse empfangen.“
Das erste dieser
Gelöbnisse betrifft die Einhaltung der buddhistischen Regeln, das zweite ist
das moralische Gesetz und das dritte ist das Gelöbnis, dass wir allen Lebewesen
Gutes tun und sie retten. Diese grundsätzlichen Gelöbnisse werden vom Meister
als Frage jeweils dreimal formuliert und vom Schüler jeweils dreimal mit den
Worten „Ich kann es.“ beantwortet.
Dann sagt der
Meister:
„Die drei vorherigen
Zusammengefassten Reinen Gelöbnisse dürfen nicht verletzt werden. Können Sie
diese Gelöbnisse von Ihrem gegenwärtigen Körper bis zum Erlangen von Buddhas
Körper halten, oder nicht?“
Die Antwort lautet:
„Ich kann es.“
Dies wird ebenfalls
dreimal wiederholt.
Anschließend wird
die Zeremonie mit den zehn einzelnen und sehr viel konkreteren
Bodhisattva-Gelöbnissen in der gleichen Weise fortgesetzt. Der Meister fragt
den Schüler zu jedem Gelöbnis dreimal, ob er dieses einhalten kann, und der
Schüler antwortet jedes Mal: „Ich kann es.“
Die Gelöbnisse
lauten wie folgt:
1. Nicht zu töten
Dieses Gelöbnis wird
häufig sexuell interpretiert. Es hat dann den Sinn, niemanden sexuell zu
missbrauchen. Damit wird also keineswegs die sexuelle Liebe insgesamt
abgelehnt, sondern es soll der Missbrauch, zum Beispiel durch Machtausübung,
psychischen Terror, finanzielle Abhängigkeit und dergleichen, verhindert
werden.
Nishijima Roshi
vermutet, dass dieses Gelöbnis ursprünglich verhindern sollte, dass übermäßig
viel Alkohol getrunken wird und eine Abhängigkeit und damit Alkoholkrankheit
entsteht. Er meint, dass in den nördlichen Ländern, insbesondere im nördlichen
China, der mäßige Konsum von Alkohol allerdings hilfreich war, um während der
langen winterlichen Periode der Kälte und Dunkelheit durchzuhalten. Wer jedoch
sein Geld damit verdient, Alkohol zu vertreiben und zu verkaufen, ist in der
Tat moralisch in einem sehr schwierigen Beruf tätig. Wir wissen von den meisten
hoch im Norden gelegenen Ländern, zum Beispiel Finnland, Schweden und Norwegen,
dass dort große Alkoholprobleme bestehen und daher ein grundsätzliches Verbot
des Kaufs und Verkaufs von Alkohol verhängt wurde. Erwähnt sei noch, dass
Mohammed im Islam den Alkohol ebenfalls für schädlich hielt und daher verboten
hat.
Dieses Gelöbnis soll
verhindern, dass emotionalisierte Diskussionen zwischen den Mitgliedern eines
Sangha, also von Menschen, die sich auf dem Buddha-Weg befinden, geführt
werden. Oft geht es in solchen Streitgesprächen darum, dem jeweils anderen
vorzuwerfen, dass er die Gelöbnisse verletzt oder gebrochen habe. Wer die
Wirklichkeit in den buddhistischen Gruppen und Sanghas kennt, weiß, dass dies
tatsächlich ein Problem darstellt. Nishijima Roshi erläutert dazu, dass das
besondere Engagement für eine gute buddhistische Lebensführung zur überzogenen
Kritik an anderen führen kann. In diesem Fall verkehrt sich die idealistische
buddhistische Lebensphilosophie zur Ideologie, ohne dass es dem Handelnden
bewusst wird. Die Fehler werden dann in übergroßer Klarheit beim anderen
Menschen gesucht und gefunden. Solche Diskussionen haben oft zur Folge, dass es
zu tiefgreifenden Spannungen und Trennungen kommt.
Im gleichen Sinne,
aber weiter präzisiert, soll das siebte Gelöbnis verhindern, dass man sich
selbst lobt und überschätzt und den anderen abwertet und kritisiert. Auch ein
solches Verhalten ist leider in buddhistischen Gruppen zu beobachten. Bei
derartiger Selbstüberschätzung und Überheblichkeit können wir davon ausgehen,
dass dies den Handelnden oft nicht bewusst ist. Die angeblichen oder wirklichen
Fehler und Unzulänglichkeiten des anderen werden dabei erheblich vergrößert.
Die Kritik hat dann meist das psychische Ziel, sich selbst über den anderen zu
erheben und ihm moralische Minderwertigkeit zu bescheinigen. Ein solches
Phänomen tritt verständlicherweise besonders dann auf, wenn jemand irrtümlich
meint, er habe die große Erleuchtung erlangt und sei daher vollständig im Recht
und es sei sogar seine Pflicht, andere zu kritisieren und zu „erziehen“.
Ähnliche Fehlentwicklungen lassen sich bei der Übung der Achtsamkeit
feststellen, wenn man sich selbst als sorgfältig und achtsam ansieht und den
anderen entsprechende Unachtsamkeit vorwirft. Formulierungen wie „Du stehst
weit unter mir und ich bin auf dem Niveau der großen Meister.“ sind dabei
durchaus anzutreffen. Derartige Selbstüberschätzungen kommen beim Denken, Reden
und Handeln vor, wenn es um eigene Interessen geht, die dem Handelnden jedoch
ebenfalls meist nicht voll bewusst sind. Im Buddhismus ist in diesem
Zusammenhang vor allem das Streben nach Ruhm, Anerkennung und Macht zu nennen,
das dazu führt, dass andere Menschen, die zum Beispiel auf demselben Gebiet
arbeiten, als Konkurrenten und Feinde empfunden und bekämpft werden.
In diesem Gelöbnis
geht es darum, dass man freigiebig und von ganzem Herzen anderen etwas gibt
oder sie beschenkt. Wie Dôgen erläutert, muss es sich dabei nicht unbedingt um
materiell wertvolle Dinge handeln, denn auch kleine Aufmerksamkeiten können
eine menschliche Beziehung wesentlich verbessern und Abneigung in Sympathie
umwandeln. Dôgen erwähnt hier besonders, dass man die Lehre des Buddha-Dharma
großzügig an andere geben soll, wenn diese darum bitten oder es für sie wichtig
ist. Man soll daher anderen den Dharma nicht missgönnen und vorenthalten, um
selbst ein Gefühl der spirituellen Überlegenheit zu haben oder den anderen in
Abhängigkeit zu bringen. Dies erinnert an die Situation in der Schule, wenn ein
„Streber“ sein Wissen nicht an andere weitergeben will. Der Dharma ist aber
keine Materie und kein einfaches Wissen, das man für sich behalten und horten
kann, sondern er sollte anderen freimütig gegeben werden. Es kommt im Sangha
sogar vor, dass ein Schüler buddhistische Informationen, die er von seinem
Meister erhalten hat, nicht an andere weiterleiten will. Er verhält sich so,
als ob diese Informationen eine Erbschaft seien, die nur ihm allein zusteht. In
diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass manche Meister ihre
buddhistische Lehre leider nur zu hohen Preisen an die Schüler vermitteln
wollen. Die Begründung dafür lautet etwa wie folgt: „Wenn die Lehre nicht teuer
ist, wird sie nicht geachtet.“ Im Gegensatz dazu arbeitete Gautama Buddha darauf
hin, dass religiöse Zeremonien möglichst kostenlos abgehalten werden, nicht
zuletzt weil die „Preise“ der damaligen Brahmanen immer weiter gestiegen waren.
Selbst Mitglieder der Mittelschicht mussten große Anteile ihres Einkommens für
Zeremonien und Unterweisungen aufbringen. Ärmere Menschen mussten dann aus
Kostengründen auf derartige spirituelle Hilfen ganz verzichten.
Die Gelöbnisse 6 bis
8 weisen einen klaren Bezug zum sozialen Handeln der Menschen auf. Dies ist im
Einklang mit dem Ansatz des Mahâyâna und dem Ideal des helfenden Bodhisattva zu verstehen. Im Vergleich
mit den zehn Geboten des Christentums fällt auf, dass es dort eine direkte
Entsprechung zu diesen drei buddhistischen Gelöbnissen nicht gibt.
Dass wir als
Buddhisten die drei Kostbarkeiten Buddha, Dharma und Sangha schätzen und in
Ehren halten, versteht sich eigentlich von selbst, wird aber in den zehn
Gelöbnissen zum Schluss noch einmal ausdrücklich hervorgehoben.