Mittwoch, 1. März 2023

Ein Kōan-Gespräch über Buddha, Wahrheit und Feuer

 


Dōgen untersucht ein Kōan-Gespräch zwischen den beiden großen buddhistischen Meistern Seppō und Gensa, die im 9. Jahrhundert in China gelebt haben und zusammen einen berühmten Tempel leiteten. Ihr Dialog über das Feuer gehört zu den bekanntesten und bedeutendsten Kōans des Zen-Buddhismus überhaupt. Er markiert zweifellos eine Blütezeit des Buddhismus in China.[i]

Seppō sprach: „Die Buddhas der drei Zeiten sind in der Flamme des Feuers (hier im Kohleofen) und drehen das große Rad des Dharma.“

Gensa äußerte sich dazu wie folgt: „Die Flamme lehrt den Dharma für die Buddhas der drei Zeiten, und die Buddhas der drei Zeiten stehen auf dem Grund, um zu hören.“

Beim Lesen dieser Sätze tauchen Fragen auf, die ich im Folgenden behandeln möchte: Was ist mit den Aussagen in Bezug auf den Dharma und das wahre, reine Handeln der Buddhas im Zusammenhang mit dem Feuer gemeint? Gibt es Unterschiede zwischen den Aussagen Seppōs und Gensas? Warum werden die Flamme und das Feuer als Gleichnis für den Dharma und damit für die Wirklichkeit und Wahrheit des Handelns verwendet? Hier geht es im Gegensatz zu Nāgārjunas Ausführungen in Kapitel 10 des MMK nicht um die Wechselwirkung zwischen Brennstoff und Feuer, sondern um weit umfassendere Zusammenhänge der Wirklichkeit von Feuer und Buddha.

Das Gleichnis mit dem Holzkohlefeuer mag im Zusammenhang mit Buddha und Dharma vielleicht zunächst verwundern. Aber in den oft bitterkalten Wintern hoch oben in den Bergen, wo ehemals die meisten Klöster standen, muss ein wärmendes Holzkohlefeuer eine besonders große Bedeutung gehabt haben. Wenn wir uns vorstellen, dass die beiden Meister gemeinsam vor diesem Feuer sitzen, ist es naheliegend, dass sie sich an ihm und seiner Wärme erfreuen und es direkt als Wirklichkeit des Hier und Jetzt erleben und erfahren. Nahe am Feuer empfindet man unmittelbar die Energie und Wärmekraft, die den ganzen Körper positiv durchdringen.

Meister Engo, der etwas mehr als 100 Jahre vor Dōgen lebte und der Linie von Meister Rinzai angehörte, kommentiert diesen Dialog zwischen Seppō und Gensa in einem Gedicht:

„(Seppō) verdient, der weiße Baron genannt zu werden,

(aber) die schwarze Baronin ist auch anwesend.

Wechselseitig werfen sie sich in den Augenblick.

Götter erscheinen und Dämonen verschwinden.

Die lodernde Flamme erfasst das Universum: Buddha lehrt den Dharma.

Das Universum ist in der lodernden Flamme: Der Dharma lehrt Buddha.“

Der weiße Baron war im alten China ein berühmter, legendärer Dieb, der verehrt wurde, weil er über ganz ungewöhnliche Intelligenz und Fähigkeiten in seinem „Beruf“ verfügte. Gleiche Eigenschaften schrieb man der schwarzen Baronin zu, die angeblich aber noch geschickter als der weiße Baron gewesen war und ihm seine Kleidung vom Körper gestohlen haben soll, ohne dass dieser es bemerkte. Dass Seppō und Gensa auf diese Weise gelobt werden, mag in unseren Ohren recht befremdlich klingen, da die beiden sicher keine Meisterdiebe waren. Im chinesischen Verständnis war das aber angemessen, weil der weiße Baron und die schwarze Baronin beim Volk sehr angesehen waren, sicher auch deshalb, weil sie die damaligen Hierarchien der Eliten unterliefen. Diese Eliten handelten oft ausgesprochen unmoralisch und bereicherten sich dank ihrer intellektuellen Überlegenheit rücksichtslos auf Kosten des einfachen Volkes.

Meister Engo bringt mit seinem Gedicht zum Ausdruck, dass die alten Meister Seppō und Gensa in ihrem Kōan-Gespräch den Kern der buddhistischen Lehre und Praxis treffen, was er mit den Worten beschreibt, dass sie sich „wechselseitig in den Augenblick werfen“. Sie handeln also in ihrem Dialog vollständig im Augenblick und in der Ganzheit mit der Wirklichkeit. Dadurch werden die Dämonen vertrieben und verschwinden, während die Götter erscheinen.

Engo führt das poetische Gleichnis der lodernden Flamme, die den Kosmos und das Universum verwandelt und durchdringt, weiter aus: Die Ganzheit der Flamme und des Universums ist Buddha, der den Dharma lehrt. In Anlehnung an Gensas Worte sagt Engo, dass das Universum in der lodernden Flamme ist; das bedeutet, dass der Dharma den Buddha lehrt. Diese Umkehrung kann man so verstehen, dass Buddha in vollkommen natürlichem Zustand mit dem Universum ist und dass das Universum selbst den Dharma lehrt. Ein handelnder Buddha hat demnach die Differenz zu anderen Menschen, zur Natur und zum ganzen Universum aufgelöst und handelt als Ganzes. So kann man sagen, dass Buddha den Dharma lehrt und der Dharma, nämlich die Wirklichkeit, wiederum den Menschen auf seinem Weg zur Befreiung lehrt.

Wenden wir uns jetzt der Interpretation und Vertiefung dieses Kōan-Gesprächs durch Dōgen zu.

 

Seppōs und Gensas Verständnis des Buddha-Dharma

Dōgens Interpretation knüpft an zwei weitere Verse des Gedichts von Engo an, die lauten:

„Vor dem Wind sind die Nester der Pfeilwurz und (die Ranken der) Glyzinien weggeschnitten worden.

Mit einem Wort wurde Vimalakirti geprüft und besiegt.“

Der Wind steht hier für das materielle Element und die materielle Sicht der buddhistischen Lehre. Hier geht es darum, dass die Trennung in gesonderte Dimensionen des Materiellen und Ideellen, das durch duales Denken zum Leiden führt, noch nicht erfolgt ist. Eine solche Trennung verhindert nämlich das ganzheitliche Erfahren der Wirklichkeit. Pfeilwurz und Glyzinien stehen hier für die Verwirrungen und das Komplizierte im gewöhnlichen Leben, wie zum Beispiel die Komplikationen im Umgang der Menschen miteinander. Solche unnötigen Verkomplizierungen entstehen durch dualistisches Denken und abgehobenen Intellektualismus, die es auch in der scholastischen Zeit des Buddhismus gegeben hat. Der Zen-Buddhismus hält solches Denken für unfruchtbar und weitgehend überflüssig. Darauf geht Dōgen in einem speziellen Kapitel[ii] näher ein, wobei dort jedoch die Glyzinien auch positiv als Gleichnis für die enge Verbindung zwischen Lehrer und Schüler verwendet werden. Dadurch ergibt sich gleichzeitig der gemeinsame Weg zur Überwindung der menschlichen Verwirrungen.

Vimalakirti war ein berühmter Laienschüler zu Buddhas Zeiten, der, wie die Überlieferung berichtet, mit seinen hervorragenden Kenntnissen der Buddha-Lehre und seiner Intelligenz die berühmten Schüler Buddhas selbst prüfte und häufig sprachlos machte. Dass Vimalakirti besiegt wurde, bedeutet hier, dass das Kōan-Gespräch von Seppō und Gensa sogar auf einem noch höheren Niveau der Wirklichkeit stattfindet und von tieferem Verständnis des Buddha-Dharma geprägt ist. Nishijima Roshi kommentiert dieses Kōan-Gespräch in gleichem Sinne in seiner Übersetzung des Shinji Shōbōgenzō[iii] ausführlich und klar: „Diese Unterhaltung zeigt auf, dass alle Dinge und Phänomene im Universum, einschließlich der Flammen des Feuers, von unschätzbarem Wert sind, weil sie uns die Wahrheit zeigen.“

Zurück zum Dialog zwischen Seppō und Gensa: Die „Buddhas der drei Zeiten“, von denen Gensa spricht, sind laut Dōgen alle Buddhas von der Vergangenheit über die Gegenwart und in der Zukunft. Sie verwirklichen sich in allen zehn Himmelsrichtungen, also in der Wirklichkeit des ganzen Universums, durch das Handeln im Augenblick und an einem bestimmten Ort, also hier und jetzt. Sie lehren den Dharma vollständig und ganz, also nicht nur aus bestimmten, eingeschränkten Sichtweisen und in bestimmten Dimensionen – und schon gar nicht aus unklaren Motiven oder aufgrund von Doktrinen wie des Substantialismus. Das heißt, sie lehren keinen ideologischen „Buddhismus“ und keine platte materielle Lebensphilosophie.

Dōgen kommt dann auf unser eigenes Bewusstsein zu sprechen:

„Ob die Wirklichkeit (des Buddhas) bekannt ist oder seine Wirklichkeit nicht bekannt ist, er ist immer der handelnde Buddha als Buddha der drei Zeiten.“

Damit stellt er die Verbindung her zwischen dem Kōan-Gespräch und den handelnden Buddhas der Wirklichkeit. Dōgen betont, dass die drei genannten Buddhas Seppō, Gensa und Engo alle die Wahrheit ansprechen, wobei sie jeweils ihre individuelle Ausdrucksweise verwenden. Sie sind frei von verzerrenden Doktrinen, die in das Leiden führen.

Seppō sagt, dass die Buddhas der drei Zeiten in der Flamme sind und das große Rad des Dharma drehen. Wir sollten diese Aussage gründlich bedenken. Die Flamme verändert sich fortwährend und sie strahlt wohltuende Wärme und Leuchtkraft ab. Sie kann auch als Energie und Kraft des Universums verstanden werden, die den Kosmos und die Erde bewegen, denn nichts ist statisch. Statisch sind nur Doktrinen und Ideologien, zum Beispiel vom unveränderlichen ewigen Seienden oder dem ātman-Selbst der vorbuddhistischen Religion. Wenn man allerdings nur eine körperliche und damit materielle Vorstellung von Buddha hat, kann man der Aussage Seppōs nicht viel abgewinnen, denn der körperliche Buddha würde in der Flamme nicht leben können.

Die Dharma-Lehre ist mit der Wirklichkeit unauflösbar verbunden und keine ausgedachte metaphysische Theorie oder intellektuelle Philosophie. Der Ausdruck „das Dharma-Rad drehen“[iv] wird im Buddhismus häufig verwendet und bedeutet die Verbreitung der wahren Lehre, die von Gautama Buddha erkannt und in die Welt gebracht wurde. Er stellt auch eine Verbindung zu Dōgens Verständnis des Lotos-Sūtra[v] her, in dem es heißt, dass sich die Blume des Dharma dreht und von den Erwachten gedreht wird; damit sind die Wirklichkeit und das Universum gemeint.

Dōgen fordert uns auf, die Aussage Seppōs auch selbst ganz praktisch zu erfahren:

„Jeder Ort, der die Wahrheit praktiziert und in dem die Buddhas der drei Zeiten das Dharma-Rad drehen, mag in der Flamme sein.“

Diese konkrete vitale Wirklichkeit können laut Dōgen die doktrinären Theoretiker des Buddhismus nicht erfahren. Es sei auch zweifelhaft, ob eine solche Flamme, die wie Buddha Wirklichkeit ist, außerhalb des Buddhismus überhaupt verstanden werden könne. Da wir jedoch Zugang zu den authentischen Übertragungslinien des wahren Buddhismus haben, können wir diese Kōan-Aussagen aufnehmen und in unseren Alltag und unser Leben integrieren. Dōgen destruiert wie Nāgārjuna fehlgeleitete Doktrinen wie den Substantialismus und Momentanismus. Das seien keine authentischen Buddha-Lehren. Denn durch die wahre Lehre verändern und entwickeln wir uns laufend. Um diese Aussagen zu vertiefen, stellt Dōgen einige Fragen:

„Wenn (die Buddhas) innerhalb der Flamme sind, sind die Flamme und die Buddhas miteinander verklebt oder nicht? Driften sie auseinander? Sind Objekt und Subjekt eine Einheit? Existieren Subjekt und Objekt? Sind Objekt und Subjekt dieselbe Situation?“

Obgleich das Handeln der Buddhas, wie bereits erklärt, dem intellektuellen Denken kaum zugänglich ist, ermuntert uns Dōgen, die aufgeworfenen Fragen dennoch mit Vernunft und denkendem Geist anzugehen. Auch wenn das Denken seine Grenzen habe, wie er immer wieder im Shōbōgenzō hervorhebt, sollen wir es als Werkzeug verwenden, um tiefer in die buddhistische Lehre einzudringen. Das entspricht recht genau Buddhas Anleitung zur Achtsamkeit, besonders im Hinblick auf den Geist.[vi] Aber wir sollten keine Dogmen errichten. Das ist auch ein zentrales Anliegen Nāgārjunas bei der Destruktion des Substantialismus und Momentanismus. Schließlich kommt Dōgen auf das Drehen des Dharma-Rades zu sprechen:

„Das große Dharma-Rad zu drehen, mag das Drehen des Selbst und das Drehen des Augenblicks umfassen.“

Interessanterweise verwendete man den Begriff Drehen im alten China auch für das Aufrollen der Sūtras, da die Handschriften auf Rollen aufgezeichnet waren, die man beim Lesen der Texte vorwärts rollte. Gleichzeitig hat „drehen“ die Bedeutung von „entfalten“ und „öffnen“ und stellt dadurch den Bezug zu der sich drehenden Dharma-Blume des Lotos-Sūtra her. Drehen umfasst daher Bewegung, Verändern, Emanzipation und Befreien und ist im MMK Thema vor allem des zweiten und siebten Kapitels. Das wahre Selbst wird hier wieder vom Ich oder Ego ohne Empathie unterschieden. Das Selbst hat die Grenze zum anderen und zum Universum überschritten und die Dualität überwunden. Es handelt genau und direkt im Augenblick.

„Es mag das Drehen des Dharma und (auch) den sich drehenden Dharma umfassen.“

Dieses Zitat kommt im Shōbōgenzō auch in den Kapiteln über das Lotos-Sūtra[vii] sowie das Sūtra-Lesen[viii] vor und wird dem großen Meister Daikan Enō zugeschrieben. Es bedeutet, dass die Wahrheit der Dharma-Blume von den Buddhas gedreht wird und dass sie sich auch und sogar bei den doktrinär fixierten Menschen dreht, obgleich diese es meist nicht bemerken und erfahren. Ohne Zweifel sind diese Aussagen über Bewegung, Befreiung und Wechselwirkung mit der Präambel des MMK kompatibel.

Als Nächstes verdeutlicht Dōgen, dass am materiellen Äußeren haftendes Denken den Kern des hier Gesagten nicht erfassen kann. Das gelte ebenfalls für das Denken in der linearen Zeitdimension, das gewöhnliche Denken der Menschen, aber auch das Denken der Heiligen, da das Handeln über die Bewertung von heilig oder nicht heilig hinausgehe. Hier wird aus meiner Sicht ein spirituelles Problem des Mönchstums angesprochen, wenn es zu wenig auf das praktische Handeln ausgerichtet ist. Seppōs Aussage überschreitet laut Dōgen also die Dimension des Denkens und des dogmatischen Geistes.

Der jüngere Meister Gensa, der zunächst Schüler von Seppō gewesen war, wählt eine andere Formulierung als Seppō; sie wird hier zur Erinnerung noch einmal wiederholt: „Die Flamme lehrt den Dharma für die Buddhas der drei Zeiten, und die Buddhas der drei Zeiten stehen auf dem Grund, um zu hören.“ Das ist wirklich spannend: Die Buddhas stehen und hören den Dharma, also die Wahrheit der Welt. Diese Wirklichkeit wird von der Flamme gelehrt. Als Leser denkt man vielleicht, dass Gensas Worte die Wahrheit genauer wiedergeben als Seppōs Formulierung. Beide Meister sprechen nach Dōgen jedoch den höchsten Zustand des Menschen an, obwohl sie sich unterschiedlich ausdrücken und eine andere Situation beschreiben.

Seppō redet vom konkreten Ort der Flamme, an dem die Buddhas dauernd das Dharma-Rad drehen. Gensa betont die Lehre des Buddha-Dharma und verbindet die Wirklichkeit mit dem Lehren und dem achtungsvollen Zuhören der Buddhas. Bei Gensa geht es also auch um die Frage, ob und wie man dem Dharma zuhört und was die Lehre wirklich beinhaltet. Seppō lässt es offen, wer den Dharma lehrt und für wen.

Wie Nishijima Roshi betont, ist im 21. Jahrhundert nunmehr die Zeit gekommen, dass auch westliche Menschen den Zugang zum Buddhismus finden und dadurch mit ihren Problemen leichter fertigwerden.

Im Hinblick auf Seppōs Aussage erklärt Dōgen:

„Seppōs Worte verfehlen es nicht, das auszudrücken, was er ausdrücken will. Wir müssen in der Praxis lernen und immer im Einzelnen vertiefen, dass Seppōs (Worte) in der Flamme existieren und das große Rad des Dharma drehen.“

Sie bezeichnen also die Wahrheit unabhängig davon, ob gelehrt wird, zugehört wird oder nicht. Dies ist das Thema von Gensas Aussage im Kōan-Gespräch, wenn er davon spricht, dass die Buddhas zuhören. Dōgen betont, dass das wahre Handeln der Buddhas mit Seppōs Aussage ausgedrückt wird. Theoretische und materielle Aussagen, die den Kern der Buddha-Lehre nicht treffen, werden dabei gänzlich überschritten.

Maßeinheiten wie groß, klein, hoch oder tief sind daher ungeeignet, um die Äußerung Seppōs auch nur annähernd zu erfassen. Das Drehen des Dharma-Rades überschreitet die Vorstellung des Ich und der anderen. Es bezieht sich nicht auf Lehren und Zuhören, sondern ist die Wahrheit über die Wirklichkeit selbst. Damit ist aber keine absolutistische und dogmatische Wahrheit gemeint und auf keinen Fall die Allwissenheit der vorbuddhistischen Religionen, denn das wären absolute Extreme, die dem Buddhismus widersprechen.

Wenn Gensa erklärt, dass die Flamme den Dharma lehrt, sagt er damit nicht direkt aus, dass die Flamme das Dharma-Rad dreht. Er sagt ebenfalls nicht ausdrücklich, dass die Buddhas das Dharma-Rad drehen. Nishijima und Cross erläutern in einer Fußnote ihrer Übersetzung des Shōbōgenzō[ix] die Aussage Gensas folgendermaßen: Beim Lehren wird die Wirklichkeit wiedergegeben und repräsentiert. Dōgens Einwand, den er hier zum ersten Mal äußert, besteht darin, dass es um die Wirklichkeit selbst geht, die durch das Drehen des Dharma-Rades realisiert wird. Er fragt daher, ob das Lehren auch das große Dharma-Rad wirklich dreht, wovon Gensa nicht spricht. Aber lassen wir Dōgen dazu selbst zu Wort kommen:

„Aber ich überlege, ob Gensa das Drehen des Dharma-Rades nur in eingeschränkter Weise verstanden hat und dass (das Drehen für ihn) identisch mit dem Lehren über das Dharma-Rad ist. Wenn dies so wäre, hätte er Seppōs Worte nicht (vollständig) verstanden.“

Dōgen arbeitet heraus, dass die Buddhas nicht von anderen doktrinär beeinflusst sind, da sie im Dharma-Zustand leben und handeln. Die wirkliche Flamme muss vom Begriff „Dharma“ unterschieden werden, genauso wie von der Vorstellung und dem Begriff „Buddha“. Außerdem darf man die Wirklichkeit der Flamme nicht mit dem Begriff „Flamme“ gleichsetzen, denn das eine ist die Realität, und das andere ist die Bezeichnung der Wirklichkeit mit all ihren möglichen Fehlern und Ungenauigkeiten.

Dōgen verdeutlicht hiermit, dass er Seppōs Aussage für direkt und konkret hält, verankert im Hier und Jetzt. Sie entspricht also der induktiven Logik, die vom Einzelnen auf das Allgemeine schließt. Gensas Aussage stuft er dagegen als deduktiv ein; sie beschreibt vor allem die allgemeine Ebene, von der man dann zum einzelnen Konkreten gelangt. Beide Ebenen sind in dem Koan-Gespräch in beeindruckender Weise in Wechselwirkung und entwickeln daraus ihre Kraft.

Dōgen will Gensas Worte auf keinen Fall abwerten und bekräftigt, dass wir sie wegen ihrer Kraft in der Lebenspraxis erfahren und schätzen sollten. Da solche Kōan-Gespräche authentisch von den alten großen Meistern an uns übermittelt worden seien, hätten sie eine sehr hohe Bedeutung und Aussagekraft. Sie sind keine ausgedachten Geschichten begabter Autoren.

Theorien und Doktrinen wie „Essenz und Form“ im Mahāyāna-Buddhismus und im Abidharma des Buddhismus reichen laut Dōgen an die Präzision und Aussagekraft der Kōan-Dialoge nicht heran. Insbesondere die Aussage, dass die Buddhas dem Dharma der Flamme zuhören, kann man schon als revolutionär gegenüber der buddhistischen Lehre des Abidharma bezeichnen. Manche Buddhisten sehen darin wahrscheinlich eine Herabsetzung Gautama Buddhas, die sie ablehnen. Diese Aussage unterstreicht jedoch, dass die Buddhas auch leben und dass sie selbst den Zustand des Buddhas beim Handeln verwirklichen. Wie in Kapitel 17 des Shōbōgenzō über das Lotos-Sūtra macht Dōgen auch hier klar, dass es nicht höherwertig ist, den Dharma zu lehren als ihm zuzuhören: „Wenn jene, die lehren, verehrungswürdig sind, sind jene, die zuhören, auch verehrungswürdig.“ Und er zitiert Shākyamuni Buddha aus dem Lotos-Sūtra:

„Wenn sie dieses Sūtra lehren,

werden sie mich sofort sehen.

(Aber) es nur (einen einzigen) Menschen zu lehren,

das wird tatsächlich schwer sein.“

Diese Verse bedeuten, dass man Shākyamuni Buddha direkt begegnet, wenn man den Dharma lehrt und verkündet.

„Nach meinem Dahinscheiden

diesem Sūtra zuzuhören und es anzunehmen

und seine Bedeutung zu erkunden:

Das wird tatsächlich schwierig sein.“[x]

Mit diesem Gedicht untermauert Dōgen, dass die Buddhas selbstverständlich im höchsten Maße verehrungswürdig sind. Trotzdem stehen sie, wie im obigen Kōan-Gespräch ausgedrückt, auf dem Boden und hören den Dharma. Sie sollen nicht als absolute Heilige angebetet werden, die absolute Wahrheiten verkünden.

 



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 62ff.
ZEN Schatzkammer, Kap. 23, Bd. 1, S. 202ff.: „Wahres und reines Handeln der Buddhas (Gyōbutsu yuigi)

[ii] ZEN Schatzkammer, Kap. 46, Bd. 2, S. 178ff.: „Das Gleichnis der Verflechtung für die Dharma-Übertragung (Katto)
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 3, S. 68ff.

[iii] Nishijima, Gudo Wafu: Die Schatzkammer der wahren buddhistischen Weisheit (Shinji Shobogenzo). Sammlung von 301 Koan-Geschichten, Bd. 3, Nr. 88

[iv] ZEN Schatzkammer, Kap. 74, Bd. 3, S. 127ff.: „Das Drehen des Dharma-Rades und den wahren Buddhismus lehren (Tenbōrin)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 59ff.

[v] ZEN Schatzkammer, Kap. 17, Bd. 1, S. 152ff.: „Die Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 230ff.

[vi] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 35ff.

[vii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 293ff.

[viii] ZEN Schatzkammer, Kap. 21, Bd. 1, S. 182ff.: „Die wahre Bedeutung des Sūtra-Lesens (Kankin)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 239ff.

[ix] Dogen: Shobogenzo (englische Fassung), Bd. 2, Fußnote 99, S. 49

[x] Dies sind Zitate aus dem Lotos-Sūtra (Übersetzerin: Margareta von Borsig), Kapitel 2, S. 194 und 198.