Dōgen untersucht ein Kōan-Gespräch zwischen den beiden großen buddhistischen Meistern Seppō und Gensa, die im 9. Jahrhundert in China gelebt haben und zusammen einen berühmten Tempel leiteten. Ihr Dialog über das Feuer gehört zu den bekanntesten und bedeutendsten Kōans des Zen-Buddhismus überhaupt. Er markiert zweifellos eine Blütezeit des Buddhismus in China.[i]
Seppō sprach: „Die Buddhas der
drei Zeiten sind in der Flamme des Feuers (hier im Kohleofen) und drehen das
große Rad des Dharma.“
Gensa äußerte sich dazu wie
folgt: „Die Flamme lehrt den Dharma für die Buddhas der drei Zeiten, und die
Buddhas der drei Zeiten stehen auf dem Grund, um zu hören.“
Beim Lesen dieser Sätze tauchen
Fragen auf, die ich im Folgenden behandeln möchte: Was ist mit den Aussagen in
Bezug auf den Dharma und das wahre, reine Handeln der Buddhas im Zusammenhang
mit dem Feuer gemeint? Gibt es Unterschiede zwischen den Aussagen Seppōs und
Gensas? Warum werden die Flamme und das Feuer als Gleichnis für den Dharma und
damit für die Wirklichkeit und Wahrheit des Handelns verwendet? Hier geht es im
Gegensatz zu Nāgārjunas Ausführungen in Kapitel 10 des MMK nicht um die
Wechselwirkung zwischen Brennstoff und Feuer, sondern um weit umfassendere
Zusammenhänge der Wirklichkeit von Feuer und Buddha.
Das Gleichnis mit dem
Holzkohlefeuer mag im Zusammenhang mit Buddha und Dharma vielleicht zunächst
verwundern. Aber in den oft bitterkalten Wintern hoch oben in den Bergen, wo
ehemals die meisten Klöster standen, muss ein wärmendes Holzkohlefeuer eine
besonders große Bedeutung gehabt haben. Wenn wir uns vorstellen, dass die
beiden Meister gemeinsam vor diesem Feuer sitzen, ist es naheliegend, dass sie
sich an ihm und seiner Wärme erfreuen und es direkt als Wirklichkeit des Hier
und Jetzt erleben und erfahren. Nahe am Feuer empfindet man unmittelbar die
Energie und Wärmekraft, die den ganzen Körper positiv durchdringen.
Meister Engo, der etwas mehr als 100 Jahre vor Dōgen lebte und der Linie
von Meister Rinzai angehörte, kommentiert diesen Dialog zwischen Seppō und
Gensa in einem Gedicht:
„(Seppō) verdient, der weiße Baron genannt zu werden,
(aber) die schwarze Baronin ist auch anwesend.
Wechselseitig werfen sie sich in den Augenblick.
Götter erscheinen und Dämonen verschwinden.
Die lodernde Flamme erfasst das Universum: Buddha lehrt den Dharma.
Das Universum ist in der lodernden Flamme: Der Dharma lehrt Buddha.“
Der weiße Baron war im alten
China ein berühmter, legendärer Dieb, der verehrt wurde, weil er über ganz
ungewöhnliche Intelligenz und Fähigkeiten in seinem „Beruf“ verfügte. Gleiche
Eigenschaften schrieb man der schwarzen Baronin zu, die angeblich aber noch
geschickter als der weiße Baron gewesen war und ihm seine Kleidung vom Körper
gestohlen haben soll, ohne dass dieser es bemerkte. Dass Seppō und Gensa auf
diese Weise gelobt werden, mag in unseren Ohren recht befremdlich klingen, da
die beiden sicher keine Meisterdiebe waren. Im chinesischen Verständnis war das
aber angemessen, weil der weiße Baron und die schwarze Baronin beim Volk sehr
angesehen waren, sicher auch deshalb, weil sie die damaligen Hierarchien der
Eliten unterliefen. Diese Eliten handelten oft ausgesprochen unmoralisch und
bereicherten sich dank ihrer intellektuellen Überlegenheit rücksichtslos auf
Kosten des einfachen Volkes.
Meister Engo bringt mit seinem
Gedicht zum Ausdruck, dass die alten Meister Seppō und Gensa in ihrem
Kōan-Gespräch den Kern der buddhistischen Lehre und Praxis treffen, was er mit
den Worten beschreibt, dass sie sich „wechselseitig
in den Augenblick werfen“. Sie handeln also in ihrem Dialog vollständig im
Augenblick und in der Ganzheit mit der Wirklichkeit. Dadurch werden die Dämonen
vertrieben und verschwinden, während die Götter erscheinen.
Engo führt das poetische
Gleichnis der lodernden Flamme, die
den Kosmos und das Universum verwandelt
und durchdringt, weiter aus: Die Ganzheit der Flamme und des Universums ist
Buddha, der den Dharma lehrt. In Anlehnung an Gensas Worte sagt Engo, dass das
Universum in der lodernden Flamme ist; das bedeutet, dass der Dharma den Buddha
lehrt. Diese Umkehrung kann man so verstehen, dass Buddha in vollkommen
natürlichem Zustand mit dem Universum ist und dass das Universum selbst den
Dharma lehrt. Ein handelnder Buddha hat demnach die Differenz zu anderen
Menschen, zur Natur und zum ganzen Universum aufgelöst und handelt als Ganzes.
So kann man sagen, dass Buddha den Dharma lehrt und der Dharma, nämlich die
Wirklichkeit, wiederum den Menschen auf seinem Weg zur Befreiung lehrt.
Wenden wir uns jetzt der
Interpretation und Vertiefung dieses Kōan-Gesprächs durch Dōgen zu.
Seppōs und Gensas Verständnis des Buddha-Dharma
Dōgens Interpretation knüpft an
zwei weitere Verse des Gedichts von Engo an, die lauten:
„Vor dem Wind sind die Nester der Pfeilwurz und (die Ranken der) Glyzinien
weggeschnitten worden.
Mit einem Wort wurde Vimalakirti geprüft und besiegt.“
Der Wind steht hier für das
materielle Element und die materielle Sicht der buddhistischen Lehre. Hier geht
es darum, dass die Trennung in gesonderte Dimensionen des Materiellen und
Ideellen, das durch duales Denken zum Leiden führt, noch nicht erfolgt ist.
Eine solche Trennung verhindert nämlich das ganzheitliche Erfahren der
Wirklichkeit. Pfeilwurz und Glyzinien stehen hier für die Verwirrungen und das
Komplizierte im gewöhnlichen Leben, wie zum Beispiel die Komplikationen im
Umgang der Menschen miteinander. Solche unnötigen Verkomplizierungen entstehen
durch dualistisches Denken und abgehobenen Intellektualismus, die es auch in
der scholastischen Zeit des Buddhismus gegeben hat. Der Zen-Buddhismus hält
solches Denken für unfruchtbar und weitgehend überflüssig. Darauf geht Dōgen in einem speziellen Kapitel[ii] näher ein, wobei dort jedoch
die Glyzinien auch positiv als Gleichnis für die enge Verbindung zwischen
Lehrer und Schüler verwendet werden. Dadurch ergibt sich gleichzeitig der
gemeinsame Weg zur Überwindung der menschlichen Verwirrungen.
Vimalakirti war ein berühmter Laienschüler zu Buddhas Zeiten, der, wie die
Überlieferung berichtet, mit seinen hervorragenden Kenntnissen der Buddha-Lehre
und seiner Intelligenz die berühmten Schüler Buddhas selbst prüfte und häufig
sprachlos machte. Dass Vimalakirti besiegt wurde, bedeutet hier, dass das
Kōan-Gespräch von Seppō und Gensa sogar auf einem noch höheren Niveau der Wirklichkeit stattfindet und von tieferem
Verständnis des Buddha-Dharma geprägt ist. Nishijima Roshi kommentiert dieses
Kōan-Gespräch in gleichem Sinne in seiner Übersetzung des Shinji Shōbōgenzō[iii] ausführlich und klar: „Diese
Unterhaltung zeigt auf, dass alle Dinge und Phänomene im Universum,
einschließlich der Flammen des Feuers, von unschätzbarem Wert sind,
weil sie uns die Wahrheit zeigen.“
Zurück zum Dialog zwischen Seppō
und Gensa: Die „Buddhas der drei Zeiten“, von denen Gensa spricht, sind laut
Dōgen alle Buddhas von der Vergangenheit über die Gegenwart und in der Zukunft.
Sie verwirklichen sich in allen zehn Himmelsrichtungen, also in der
Wirklichkeit des ganzen Universums, durch das Handeln im Augenblick und an
einem bestimmten Ort, also hier und jetzt. Sie lehren den Dharma vollständig
und ganz, also nicht nur aus bestimmten, eingeschränkten Sichtweisen und in
bestimmten Dimensionen – und schon gar nicht aus unklaren Motiven oder aufgrund
von Doktrinen wie des Substantialismus. Das heißt, sie lehren keinen
ideologischen „Buddhismus“ und keine platte materielle Lebensphilosophie.
Dōgen kommt dann auf unser
eigenes Bewusstsein zu sprechen:
„Ob die Wirklichkeit (des
Buddhas) bekannt ist oder seine Wirklichkeit nicht bekannt ist, er ist immer
der handelnde Buddha als Buddha der drei Zeiten.“
Damit stellt er die Verbindung
her zwischen dem Kōan-Gespräch und den handelnden Buddhas der Wirklichkeit.
Dōgen betont, dass die drei genannten Buddhas Seppō, Gensa und Engo alle die
Wahrheit ansprechen, wobei sie jeweils ihre individuelle
Ausdrucksweise verwenden. Sie sind frei von verzerrenden Doktrinen, die in
das Leiden führen.
Seppō sagt, dass die Buddhas der
drei Zeiten in der Flamme sind und das große Rad des Dharma drehen. Wir sollten diese Aussage gründlich
bedenken. Die Flamme verändert sich fortwährend und sie strahlt wohltuende
Wärme und Leuchtkraft ab. Sie kann auch als Energie und Kraft des Universums
verstanden werden, die den Kosmos und die Erde bewegen, denn nichts ist
statisch. Statisch sind nur Doktrinen und Ideologien, zum Beispiel vom
unveränderlichen ewigen Seienden oder dem ātman-Selbst der vorbuddhistischen
Religion. Wenn man allerdings nur eine körperliche und damit materielle
Vorstellung von Buddha hat, kann man der Aussage Seppōs nicht viel abgewinnen,
denn der körperliche Buddha würde in der Flamme nicht leben können.
Die Dharma-Lehre ist mit der
Wirklichkeit unauflösbar verbunden und keine ausgedachte metaphysische Theorie
oder intellektuelle Philosophie. Der Ausdruck „das Dharma-Rad drehen“[iv] wird im Buddhismus häufig
verwendet und bedeutet die Verbreitung der wahren Lehre, die von Gautama Buddha
erkannt und in die Welt gebracht wurde. Er stellt auch eine Verbindung zu Dōgens
Verständnis des Lotos-Sūtra[v] her, in dem es heißt, dass sich
die Blume des Dharma dreht und von
den Erwachten gedreht wird; damit sind die Wirklichkeit und das Universum
gemeint.
Dōgen fordert uns auf, die
Aussage Seppōs auch selbst ganz praktisch zu erfahren:
„Jeder Ort, der die Wahrheit
praktiziert und in dem die Buddhas der drei Zeiten das Dharma-Rad drehen, mag in der Flamme sein.“
Diese konkrete vitale
Wirklichkeit können laut Dōgen die doktrinären Theoretiker des Buddhismus nicht
erfahren. Es sei auch zweifelhaft, ob eine solche Flamme, die wie Buddha
Wirklichkeit ist, außerhalb des Buddhismus überhaupt verstanden werden könne.
Da wir jedoch Zugang zu den authentischen Übertragungslinien des wahren
Buddhismus haben, können wir diese Kōan-Aussagen aufnehmen und in unseren
Alltag und unser Leben integrieren. Dōgen destruiert wie Nāgārjuna
fehlgeleitete Doktrinen wie den Substantialismus und Momentanismus. Das seien
keine authentischen Buddha-Lehren. Denn durch die wahre Lehre verändern und
entwickeln wir uns laufend. Um diese Aussagen zu vertiefen, stellt Dōgen einige
Fragen:
„Wenn (die Buddhas) innerhalb
der Flamme sind, sind die Flamme und die Buddhas miteinander verklebt oder
nicht? Driften sie auseinander? Sind Objekt und Subjekt eine Einheit? Existieren
Subjekt und Objekt? Sind Objekt und Subjekt dieselbe Situation?“
Obgleich das Handeln der
Buddhas, wie bereits erklärt, dem intellektuellen Denken kaum zugänglich ist,
ermuntert uns Dōgen, die aufgeworfenen Fragen dennoch mit Vernunft und denkendem
Geist anzugehen. Auch wenn das Denken seine Grenzen habe, wie er immer wieder
im Shōbōgenzō hervorhebt, sollen wir
es als Werkzeug verwenden, um tiefer
in die buddhistische Lehre einzudringen. Das entspricht recht genau Buddhas
Anleitung zur Achtsamkeit, besonders im Hinblick auf den Geist.[vi] Aber wir sollten keine Dogmen
errichten. Das ist auch ein zentrales Anliegen Nāgārjunas bei der Destruktion
des Substantialismus und Momentanismus. Schließlich kommt Dōgen auf das Drehen
des Dharma-Rades zu sprechen:
„Das große Dharma-Rad zu drehen,
mag das Drehen des Selbst und das Drehen des Augenblicks umfassen.“
Interessanterweise verwendete
man den Begriff Drehen im alten China auch für das Aufrollen der Sūtras, da die Handschriften auf Rollen aufgezeichnet
waren, die man beim Lesen der Texte vorwärts rollte. Gleichzeitig hat „drehen“
die Bedeutung von „entfalten“ und
„öffnen“ und stellt dadurch den Bezug zu der sich drehenden Dharma-Blume
des Lotos-Sūtra her. Drehen umfasst daher Bewegung, Verändern, Emanzipation und
Befreien und ist im MMK Thema vor allem des zweiten und siebten Kapitels. Das
wahre Selbst wird hier wieder vom Ich oder Ego ohne Empathie unterschieden. Das
Selbst hat die Grenze zum anderen und zum Universum überschritten und die
Dualität überwunden. Es handelt genau und direkt im Augenblick.
„Es mag das Drehen des Dharma
und (auch) den sich drehenden Dharma umfassen.“
Dieses Zitat kommt im Shōbōgenzō auch in den Kapiteln über das
Lotos-Sūtra[vii] sowie das Sūtra-Lesen[viii] vor und wird dem großen Meister
Daikan Enō zugeschrieben. Es bedeutet, dass die Wahrheit der Dharma-Blume von
den Buddhas gedreht wird und dass sie sich auch und sogar bei den doktrinär
fixierten Menschen dreht, obgleich diese es meist nicht bemerken und erfahren.
Ohne Zweifel sind diese Aussagen über Bewegung, Befreiung und Wechselwirkung
mit der Präambel des MMK kompatibel.
Als Nächstes verdeutlicht Dōgen,
dass am materiellen Äußeren haftendes Denken den Kern des hier Gesagten nicht
erfassen kann. Das gelte ebenfalls für das Denken in der linearen
Zeitdimension, das gewöhnliche Denken der Menschen, aber auch das Denken der
Heiligen, da das Handeln über die Bewertung
von heilig oder nicht heilig hinausgehe. Hier wird aus meiner Sicht ein
spirituelles Problem des Mönchstums angesprochen, wenn es zu wenig auf das
praktische Handeln ausgerichtet ist. Seppōs Aussage überschreitet laut Dōgen
also die Dimension des Denkens und des dogmatischen Geistes.
Der jüngere Meister Gensa, der
zunächst Schüler von Seppō gewesen war, wählt eine andere Formulierung als
Seppō; sie wird hier zur Erinnerung noch einmal wiederholt: „Die Flamme lehrt den Dharma für die Buddhas
der drei Zeiten, und die Buddhas der drei Zeiten stehen auf dem Grund, um zu hören.“ Das ist wirklich spannend:
Die Buddhas stehen und hören den Dharma, also die Wahrheit der Welt. Diese
Wirklichkeit wird von der Flamme gelehrt. Als Leser denkt man vielleicht, dass
Gensas Worte die Wahrheit genauer wiedergeben als Seppōs Formulierung. Beide
Meister sprechen nach Dōgen jedoch den höchsten Zustand des Menschen an, obwohl
sie sich unterschiedlich ausdrücken und eine andere Situation beschreiben.
Seppō redet vom konkreten Ort der Flamme, an dem die Buddhas
dauernd das Dharma-Rad drehen. Gensa betont die Lehre des Buddha-Dharma und
verbindet die Wirklichkeit mit dem Lehren und dem achtungsvollen Zuhören der Buddhas. Bei Gensa geht es also auch um
die Frage, ob und wie man dem Dharma zuhört und was die Lehre wirklich
beinhaltet. Seppō lässt es offen, wer den Dharma lehrt und für wen.
Wie Nishijima Roshi betont, ist
im 21. Jahrhundert nunmehr die Zeit gekommen, dass auch westliche Menschen den
Zugang zum Buddhismus finden und dadurch mit ihren Problemen leichter
fertigwerden.
Im Hinblick auf Seppōs Aussage
erklärt Dōgen:
„Seppōs Worte verfehlen es
nicht, das auszudrücken, was er ausdrücken will. Wir müssen in der Praxis
lernen und immer im Einzelnen vertiefen, dass Seppōs (Worte) in der Flamme existieren
und das große Rad des Dharma drehen.“
Sie bezeichnen also die Wahrheit
unabhängig davon, ob gelehrt wird, zugehört wird oder nicht. Dies ist das Thema
von Gensas Aussage im Kōan-Gespräch, wenn er davon spricht, dass die Buddhas
zuhören. Dōgen betont, dass das wahre Handeln der Buddhas mit Seppōs Aussage
ausgedrückt wird. Theoretische und materielle Aussagen, die den Kern der
Buddha-Lehre nicht treffen, werden dabei gänzlich überschritten.
Maßeinheiten wie groß, klein,
hoch oder tief sind daher ungeeignet, um die Äußerung Seppōs auch nur annähernd
zu erfassen. Das Drehen des Dharma-Rades überschreitet die Vorstellung des Ich
und der anderen. Es bezieht sich nicht auf Lehren und Zuhören, sondern ist die
Wahrheit über die Wirklichkeit selbst. Damit ist aber keine absolutistische und
dogmatische Wahrheit gemeint und auf keinen Fall die Allwissenheit der
vorbuddhistischen Religionen, denn das wären absolute Extreme, die dem
Buddhismus widersprechen.
Wenn Gensa erklärt, dass die
Flamme den Dharma lehrt, sagt er damit nicht direkt aus, dass die Flamme das
Dharma-Rad dreht. Er sagt ebenfalls nicht ausdrücklich, dass die Buddhas das
Dharma-Rad drehen. Nishijima und Cross erläutern in einer Fußnote ihrer
Übersetzung des Shōbōgenzō[ix] die Aussage Gensas folgendermaßen: Beim Lehren wird die Wirklichkeit
wiedergegeben und repräsentiert. Dōgens Einwand, den er hier zum ersten Mal
äußert, besteht darin, dass es um die Wirklichkeit selbst geht, die durch das
Drehen des Dharma-Rades realisiert wird. Er fragt daher, ob das Lehren auch das
große Dharma-Rad wirklich dreht, wovon Gensa nicht spricht. Aber lassen wir
Dōgen dazu selbst zu Wort kommen:
„Aber ich überlege, ob Gensa das
Drehen des Dharma-Rades nur in eingeschränkter Weise verstanden hat und dass
(das Drehen für ihn) identisch mit dem
Lehren über das Dharma-Rad ist.
Wenn dies so wäre, hätte er Seppōs Worte nicht (vollständig) verstanden.“
Dōgen arbeitet heraus, dass die
Buddhas nicht von anderen doktrinär beeinflusst sind, da
sie im Dharma-Zustand leben und handeln. Die wirkliche Flamme muss vom Begriff „Dharma“ unterschieden werden,
genauso wie von der Vorstellung und dem Begriff „Buddha“. Außerdem darf man die
Wirklichkeit der Flamme nicht mit dem Begriff
„Flamme“ gleichsetzen, denn das eine ist die Realität, und das andere ist die Bezeichnung der Wirklichkeit mit
all ihren möglichen Fehlern und Ungenauigkeiten.
Dōgen verdeutlicht hiermit, dass
er Seppōs Aussage für direkt und konkret hält, verankert im Hier und Jetzt. Sie
entspricht also der induktiven Logik, die vom Einzelnen auf das Allgemeine
schließt. Gensas Aussage stuft er dagegen als deduktiv ein; sie beschreibt vor
allem die allgemeine Ebene, von der man dann zum einzelnen Konkreten gelangt.
Beide Ebenen sind in dem Koan-Gespräch in beeindruckender Weise in
Wechselwirkung und entwickeln daraus ihre Kraft.
Dōgen will Gensas Worte auf
keinen Fall abwerten und bekräftigt, dass wir sie wegen ihrer Kraft in der
Lebenspraxis erfahren und schätzen sollten. Da solche Kōan-Gespräche
authentisch von den alten großen Meistern an uns übermittelt worden seien,
hätten sie eine sehr hohe Bedeutung und Aussagekraft. Sie sind keine
ausgedachten Geschichten begabter Autoren.
Theorien und Doktrinen wie
„Essenz und Form“ im Mahāyāna-Buddhismus und im Abidharma des Buddhismus
reichen laut Dōgen an die Präzision und Aussagekraft der Kōan-Dialoge nicht
heran. Insbesondere die Aussage, dass die Buddhas dem Dharma der Flamme zuhören,
kann man schon als revolutionär gegenüber
der buddhistischen Lehre des Abidharma bezeichnen. Manche Buddhisten sehen
darin wahrscheinlich eine Herabsetzung Gautama Buddhas, die sie ablehnen. Diese
Aussage unterstreicht jedoch, dass die Buddhas auch leben und dass sie selbst
den Zustand des Buddhas beim Handeln verwirklichen. Wie in Kapitel 17 des Shōbōgenzō über das Lotos-Sūtra macht
Dōgen auch hier klar, dass es nicht höherwertig ist, den Dharma zu lehren als
ihm zuzuhören: „Wenn jene, die lehren, verehrungswürdig sind, sind jene, die
zuhören, auch verehrungswürdig.“ Und er zitiert Shākyamuni Buddha aus dem Lotos-Sūtra:
„Wenn sie dieses Sūtra lehren,
werden sie mich sofort sehen.
(Aber) es nur (einen einzigen) Menschen zu lehren,
das wird tatsächlich schwer sein.“
Diese Verse bedeuten, dass man
Shākyamuni Buddha direkt begegnet, wenn man den Dharma lehrt und verkündet.
„Nach meinem Dahinscheiden
diesem Sūtra zuzuhören und es anzunehmen
und seine Bedeutung zu erkunden:
Das wird tatsächlich schwierig sein.“[x]
Mit diesem Gedicht untermauert
Dōgen, dass die Buddhas selbstverständlich im höchsten Maße verehrungswürdig
sind. Trotzdem stehen sie, wie im obigen Kōan-Gespräch ausgedrückt, auf dem
Boden und hören den Dharma. Sie sollen nicht als absolute Heilige angebetet
werden, die absolute Wahrheiten verkünden.
[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 62ff.
ZEN Schatzkammer, Kap. 23, Bd. 1, S. 202ff.: „Wahres und reines Handeln der
Buddhas (Gyōbutsu yuigi)
[ii] ZEN Schatzkammer, Kap. 46, Bd. 2, S. 178ff.: „Das Gleichnis der Verflechtung für die
Dharma-Übertragung (Katto)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche
Übersetzung), Bd. 3, S. 68ff.
[iii] Nishijima, Gudo Wafu: Die
Schatzkammer der wahren buddhistischen Weisheit (Shinji Shobogenzo). Sammlung
von 301 Koan-Geschichten, Bd. 3, Nr. 88
[iv] ZEN Schatzkammer, Kap. 74, Bd. 3, S. 127ff.: „Das
Drehen des Dharma-Rades und den wahren Buddhismus lehren (Tenbōrin)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche
Übersetzung), Bd. 4, S. 59ff.
[v] ZEN Schatzkammer, Kap. 17, Bd. 1, S. 152ff.: „Die
Dharma-Blume der Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche
Übersetzung), Bd. 1, S. 230ff.
[vi] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 35ff.
[vii]
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 293ff.
[viii] ZEN Schatzkammer, Kap. 21, Bd. 1, S. 182ff.: „Die
wahre Bedeutung des Sūtra-Lesens (Kankin)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche
Übersetzung), Bd. 1, S. 239ff.
[ix] Dogen: Shobogenzo (englische Fassung), Bd. 2,
Fußnote 99, S. 49
[x] Dies sind Zitate aus dem Lotos-Sūtra (Übersetzerin:
Margareta von Borsig), Kapitel 2, S. 194 und 198.