Das Lotos-Sūtra ist jedoch
leider oft als eine Art Märchenbuch missverstanden worden, das von
übernatürlichen Wundern und Fantasien berichtet und so ein naives und
wundergläubiges Weltbild vermittelt. Wenn es sich tatsächlich so verhielte,
würde es nach Meister Nishijima lediglich das begrenzte Weltverständnis der
Ideen, Vorstellungen und Fantasien widerspiegeln, also nur eine der vier
buddhistischen Lebensphilosophien umfassen, nämlich den Idealismus. Dann würden
der Realismus des praktischen Handelns und vor allem die umfassende
buddhistische Lebenspraxis und Lehre des Gleichgewichts und Erwachens fehlen.
Dem ist aber nicht so.
Als ganz junger Mönch trat Dōgen in ein buddhistisches Kloster der Tendai-Linie ein, die das Lotos-Sūtra als wichtigste Lehre und
Grundlage hat. Er hatte also ausgezeichnete Kenntnisse dieses Sūtras, war aber
mit dem damaligen sehr theoretischen Verständnis überhaupt nicht zufrieden und
legt in diesem Kapitel sein eigenes umfassendes Verstehen dar. Was ist nun der
Kern dieses großen Werkes?
Der japanische Ausdruck ten im
Titel Hokke ten hokke bedeutet
„bewegen“ und „drehen“, so dass das Lotos-Sūtra
diese Bewegung, also das Handeln und Geschehenlassen, als zentrale Aussage
enthält. Es geht nicht um das unbewegte, unveränderliche Sein außerhalb der
Zeit, das zumeist die Grundlage der westlichen Philosophie ist. Hō bedeutet „Wirklichkeit“, „Wahrheit“
oder das „Gesetz des Universums“, und ke bedeutet
„Blume“. Eine andere Übersetzung könnte wie folgt lauten: „Die wunderbare Welt
(und Wahrheit) ist wie eine Blume und bewegt die wunderbare Welt, die selbst
wie eine Blume ist.“
Damit ist auch das buddhistische Weltbild und die buddhistische Lehre
Dōgens charakterisiert: Wir leben in einer wunderbaren Welt, die für uns immer
klarer und schöner wird, je mehr wir ins Gleichgewicht gelangen. Dieses
Gleichgewicht ereignet sich in der Zazen-Praxis und im Handeln des täglichen
Lebens. Die Welt ist also in der Balance der Bewegung.
Dōgens zentrale Aussage: „Die Dharma-Blume (der Wahrheit) dreht die
Blume der Dharma-Welt“ erschließt
sich zunächst nicht dem unterscheidenden Denken, weil scheinbar genau dasselbe
zweimal gesagt wird, die doppelte Aussage wäre daher redundant. Sie geht also
über das lineare, unterscheidende Denken hinaus und will offensichtlich eine
höhere intuitive Wahrheit ansprechen, die zudem mit poetischer Ausstrahlung
verbunden ist. Im gesamten Kapitel wird die Dharma-Blume als Symbol der Welt
und des Universums beschrieben.
Die Dharma-Blume dreht sich nach Dôgen bei der ursprünglichen Praxis des
Bodhisattva-Weges und weicht nicht einmal geringfügig davon ab. Es ist die den
unterscheidenden Verstand und Intellekt überschreitende Weisheit der Buddhas
und damit fest auf der Wirklichkeit gegründet. Diese intuitive Weisheit
ereignet sich nach Dōgen vor allem im Samadhi und in der Zazen-Praxis und ist
schwer zu erfassen und schwer zu erlangen. Die Buddhas sind darin zusammen mit
den Buddhas und existieren genau so, wie sich die Dharma-Blume dreht.
Gleichzeitig offenbaren sich die konkreten Dinge und Phänomene dieser
Welt unmittelbar in der wunderbaren Dharma-Blume. Sie verliert sich nicht in
fantastischen Illusionen und wirklichkeitsfernen Träumen, denn so etwas endet
immer in Enttäuschungen und Negativität. Im Gegensatz dazu enthüllt, offenbart
und verwirklicht sich die Dharma-Blume, und damit ist der Zugang zu ihr für die
Menschen in der ganzen Welt und im großen Universum eröffnet.
Wenn dies geschieht, werden nach Dōgen die „Objekte“ nicht im
herkömmlichen Sinne als außerhalb von uns selbst gesehen, und die umfassende
Praxis der Dharma-Blume vollendet sich in ihrer eigenen Bewegung. Im tiefen
Vertrauen auf das eine Fahrzeug des Buddhismus erfüllt sich der große Dharma
und offenbart sich in der ganzen Schönheit der Wirklichkeit:
„Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können
vollständig verwirklichen, dass alle Dharmas wirklich Form sind.“
Mit der Blume des Dharma existieren die Orte wirklich, an denen Buddha
lehrte, gibt es den Raum, den großen Ozean und die große Erde, und diese sind
für die Menschen das eigene vertraute Land. Wenn sich die Dharma-Blume dreht,
ist sie dies Handeln, das nicht starr, unveränderlich und unbeweglich ist,
sondern die lebendige Wirklichkeit und der Schatz des wahren Dharma-Auges.
Dōgen zitiert die Geschichte von Hotatsu, der in jungen Jahren Mönch
wurde und sich vollständig dem Lotos-Sūtra
widmete. Er prahlte sogar damit, dass er das Lotos-Sūtra auswendig hersagen konnte und bereits mehr als
dreitausend Mal rezitiert hatte. Der große Meister Daikan Enō, der selbst nicht
lesen und schreiben konnte, sagte ihm jedoch:
„Auch wenn du das Sūtra zehntausendmal (rezitiert
hast), wirst du nicht einmal in der Lage sein, (deine eigenen und andere)
Fehler zu erkennen, wenn du es nicht wirklich verstanden (und erfahren) hast.“
Daraufhin wurde der Mönch Hotatsu sehr nachdenklich und war tief
verunsichert. Meister Daikan Enō schlug ihm vor, dass er anfangen solle, den Text
bis zu einer Stelle zu rezitieren, an der der Meister ihm die große, umfassende
Bedeutung dieses Sūtra erläutern wolle. Dies sei nämlich die umfassende Lehre
und Weisheit von Gautama Buddha selbst, und sie werde auf verschiedenen Wegen
und mit tiefgründigen Gleichnissen angesprochen, aufgedeckt, erklärt und
verwirklicht. Dadurch könne man sich den Zugang zu dieser umfassenden Weisheit
eröffnen. „Du musst jetzt darauf vertrauen, dass Buddhas Weisheit einfach dein
natürlicher Zustand des Geistes ist“, sagte er zu dem Mönch. Dann fuhr Daikan
Enō mit einem eigenen Gedicht fort:
„Wenn der Geist in Täuschung ist, dreht sich die
Blume des Dharma (allein).
Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehen wir
selbst die Blume des Dharma.
Wenn wir nicht Klarheit über uns selbst haben, wird
(das Sūtra) wegen seiner (großen) Bedeutung
(unser) Feind, ganz gleich, wie häufig wir es
rezitieren.
Ohne (selbstsüchtige) Absicht ist der Geist
wahrhaftig.
Mit (selbstsüchtiger) Absicht wird der Geist falsch.
Wenn wir dieses „mit und ohne“ (Absicht)
überschreiten,
fahren wir ewig mit dem weißen Ochsengespann.“
Meister Daikan Enō erläuterte dem Mönch vertieft das Wesentliche des Lotos-Sūtra, und sagte, dass die meisten
Probleme durch die eigenen Vorstellungen und Fantasien entstehen, die nicht mit
der Wirklichkeit übereinstimmen.“
Gerade wenn man den Verstand und Intellekt bis zum Äußersten bemüht und
damit immer weiter fortfährt, wird man sich vom wesentlichen Inhalt des Sūtras
immer weiter entfernen.
Gautama Buddha gestattete seinen Zuhörern bei einer seiner berühmten
Lehrreden, ihren Platz zu verlassen und fortzugehen, wenn sie mit dem Gesagten
nicht einverstanden waren. Dadurch drehte sich die Dharma-Blume ohne sie. Es
gibt nach Dōgen nur dieses eine authentische buddhistische Fahrzeug in der Gegenwart,
und durch dieses Fahrzeug gelangt man zur Wirklichkeit. Die Wirklichkeit
wiederum sei keine Vorstellung und kein Begriff, sondern der Schatz der Dharma-Blume
selbst, der uns schon immer gehört. Das Sūtra der Blume des Dharma sei immer
anwesend, von Zeitalter zu Zeitalter, vom Morgen bis zum Abend. Wir legen es niemals
aus der Hand, es gibt überhaupt keine Zeit, in der wir es nicht lesen, denn es
ist das Universum selbst.
In der obigen Geschichte erfuhr der Mönch Hotatsu plötzlich das große
Erwachen und sprang vor Freude in die Höhe. Er verfasste spontan das folgende
Gedicht:
„Dreitausend Mal (habe ich) das
Sūtra rezitiert:
Vergessen durch einen Satz des
Meisters vom (Berg) Sôkei.
Vor der Klärung des zentralen
Bedeutung von (Buddhas) Erscheinen in der Welt:
Wie können wir verhindern, dass die
sinnlosen Leben wiederkehren?
…
Ursprünglich sind wir Könige im Dharma.“
Mit diesem Gedicht erhielt der Mönch Hotatsu vom Meister die Bestätigung
und Dharma-Übertragung und den Namen „Der sūtralesende Mönch“.
Wie in dieser Begebenheit begann sich die Blume des Dharma durch Meister
Daikan Enō immer mehr zu verbreiten, als Blume des Dharma, die die Blume des
Dharma immer wieder dreht. Bis dahin hatte es diese große Wahrheit nicht
gegeben. Es ergibt daher Dōgen zufolge keinen Sinn, die anderen Fahrzeuge des
Buddhismus immer wieder zu erforschen. Nach Dōgen ist die Gegenwart die
Wirklichkeit so, wie sie ist: die Wahrheit der wirklichen Form, der wirklichen
Natur, des wirklichen Körpers, der wirklichen Energie, der wirklichen Ursachen,
der wirklichen Wirkungen, und damit ist sie die sich drehende Blume des Dharma.
Wenn der Geist in Illusionen verstrickt ist, werden wir von der Blume
des Dharma gedreht. Dann sind wir nicht frei. Aber ganz gleich, ob die Blume
des Dharma sich selbst dreht oder von uns gedreht wird, sie ist immer das eine,
umfassende Buddha-Fahrzeug und das große Wesentliche. Wir müssen uns also keine
Sorgen machen, dass der Geist eventuell voller Täuschungen ist, denn das Handeln
ist der Bodhisattva-Weg selbst, und es ist das Handeln im Augenblick. Wir
dienen damit den Buddhas. Dies ist die ursprüngliche Praxis des
Bodhisattva-Weges. Es ist die unmittelbare Augenblicklichkeit der sich
drehenden Blume des Dharma.
Das wichtige Gleichnis des brennenden Hauses im Lotos-Sūtra kann man folgendermaßen zusammenfassen: Obgleich das
Haus bereits an mehreren Stellen in Flammen steht, spielen die Kinder drinnen
unbekümmert weiter und sind so sehr in ihr Spiel vertieft, dass sie die
drohende Gefahr durch das Feuer überhaupt nicht bemerken. Der Vater versucht
sie zu überreden, aus dem Haus herauszulaufen, um sich vor den Flammen zu
retten, aber sie hören überhaupt nicht zu und spielen weiter. Darauf verspricht
er ihnen, dass draußen wunderschöne Kutschen mit Gespannen auf sie warten, die
viel schöner sind als ihr Spiel im brennenden Haus. Dies überzeugt die Kinder
sofort, und sie laufen aus dem Haus. Dann erkennen sie plötzlich, in welch
großer Gefahr sie gewesen sind. Eine dieser Kutschen ist prächtig geschmückt
und wird von friedlichen weißen Ochsen gezogen. Sie ist schöner als die Kinder
es sich vorstellen konnten.
Es ist klar, dass mit diesem Gleichnis die Rettung durch die
Buddha-Lehre gemeint ist, die dazu verhilft, dem brennenden Durcheinander des
gewöhnlichen Lebens der quälenden Ideen und des eigennützigen Materialismus zu
entkommen. Die weiße Kutsche ist aber nichts anderes als die sich drehende
Blume des Dharma. Es nützt nichts, wenn man das Lotos-Sūtra nur auswendig lernt, es aber nicht umfassend erfährt
und erlebt.
Was bedeutet nun die Aussage: „Wenn der Geist im Zustand der
Verirklichung ist, drehen wir selbst die Blume des Dharma“?
Im „Zustand der Verwirklichung“ wird offensichtlich die Energie der
Realität direkt erfahren und erkannt, sodass wir das Gesetz der Welt
verwirklichen. Diese Verwirklichung bedeutet, die Blume des Dharma zu drehen,
und dabei handeln wir im Alltag. Wenn wir selbst die Blume des Dharma drehen,
bedeutet dies, dass es diese eine Sein-Zeit ist, in der der Buddha lebt. Wir
sind dann nicht von den anderen und der Welt getrennt. Wir haben dann die
Freiheit zu handeln, wie wir wollen und sind in Harmonie mit der Welt.
In der Zeit, wenn die Blume des Dharma sich dreht, gibt es nach Dōgen
die geistige Verwirklichung als Blume des Dharma, und die Dharma-Blume
existiert als geistige Verwirklichung von uns und der Welt. Dies gilt konkret
bei den Dingen und Phänomenen und ideell im Geist, oder, wie Dōgen sagt,
innerhalb des wirklichen Raumes.
Das Unmittelbare im Hier und Jetzt und das allgemein Geistige bilden
eine untrennbare Einheit. Dies sei, so sagt Dōgen, die Verwirklichung des
Drehens der Dharma-Blume. Wenn wir uns selbst verändern und drehen, entfaltet
die Bodhi-Weisheit ihre Kraft, und dies ist die reine Welt. Wenn wir für einen
guten Freund sorgen, sind wir ihm nahe, so wie auch er uns nahe ist, und dies
ist das Drehen der Blume des Dharma. Dann sind Geist und Körper ohne Begrenzung
und frei.
Dōgen stellt am Ende dieses Kapitels fest, dass seit Bekanntwerden des Lotos-Sūtra viele Kommentare und
Interpretationen geschrieben worden waren. Kein Kommentar habe jedoch das Wesen
der drehenden Blume des Dharma wirklich in der vollen Tiefe und in dem Umfang
wie der große Meister und ewige Buddha Daikan Enō erfasst. Seitdem wir jedoch
die Worte von Meister Daikan Enō gehört haben, haben wir die Begegnung des
ewigen Buddha mit dem ewigen Buddha erfahren, und wir leben im ewigen
Buddha-Land. Dies ist für uns alle eine große Freude. Die Wirklichkeit ist die
drehende Blume des Dharma, sie existiert so, wie sie ist, und ist ein Schatz,
sie ist das helle Licht, der Sitz der Wahrheit, denn die Dharma-Blume ist groß,
weit und ewig.
Dies ist allerdings auch der Geist mit Täuschungen, der von der Blume
des Dharma gedreht wird, und sie ist der Geist der Verwirklichung, der selbst
die Blume des Dharma dreht. Nichts kann ausgeschlossen werden. Dies alles ist
wirklich genau die Dharma-Blume, die die Blume des Dharma dreht.
Dōgen schließt mit dem Gedicht:
„Wenn der Geist im Zustand der
Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma.
Wenn der Geist im Zustand der
Verwirklichung ist, drehen wir die Blume des Dharma.
Wenn die vollkommene Verwirklichung
diesem gleichen kann,
dreht die Blume des Dharma die Blume
des Dharma.“
Die Blume des Dharma offenbart sich selbst also in voller Frische und
strahlender Schönheit im Zustand jenseits des angelernten Wissens und jenseits
des eindimensionalen intellektuellen Denkens. Wir sollten dies stets im Sinn
behalten und fest darauf vertrauen. Die Blume des Dharma ist nach Dōgen zu
fein, zu wunderbar und zu umfassend für das unterscheidende lineare Denken.
Link :Zum Film Buddha und Gomera, english