In diesem
Kapitel des Shōbōgenzō (Shōji)
beschreibt Dōgen sein tiefes Verständnis für die großen Fragen von
Leben und Tod in der Wirklichkeit des Buddhismus.[i] Wir
erfahren, was der Zen zur Bewältigung von Leben, Altern und Tod beitragen kann.
Dōgen bearbeitet dieses Thema
auf der Grundlage seiner umfassenden buddhistischen Praxis und Lehre. Gerade im
Hinblick auf die stark mit Emotionen und Ängsten besetzte Frage nach dem Tod
und dem leidvollen Leben ist er überzeugt, dass ein intellektuelles, nur
theoretisches Verstehen dessen, was Tod und Leben bedeuten, unzureichend ist.
Besonders gefährlich seien weltfremde Doktrinen, die nicht wirklich
weiterhelfen. Die Zen-Lehre von den Erfahrungen der Wirklichkeit im Augenblick
darf nicht mit der hoch abstrakten Doktrin des Momentanismus der Sautrantika zu
Zeit Vasubandhus verwechselt werden. Diese kann Kontinuität in Wechselwirkung
mit dem Jetzt und Augenblick des Lebens und Handelns nicht sinnvoll wiedergeben.
Diese Doktrin verliert sich in scholastischen Spekulationen und ist nicht in
Leben und Tod im Hier und Jetzt eingebettet. Die Wirklichkeit in unserem
täglichen Leben und Handeln selbst kann mit solchen Doktrinen nicht
realitätsnah erfahren werden. Sie erschweren die Prozesse der Befreiung und
Emanzipation oder machen sie sogar unmöglich. Vor allem geht es Dōgen darum,
dass Leben und Tod in der vollen Wirklichkeit im Jetzt der Gegenwart geschehen und nicht nachträglich intellektuell
reflektiert werden. Dabei dürfen Doktrinen und Verhärtungen für Vorstellungen,
Gefühle, Ängste und Worte nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden dürfen.
Der japanische Begriff shōji kann nicht wörtlich mit einem
Begriff übersetzt werden, da wir im Westen in allen Sprachen zwei eigenständige
Wörter dafür haben, nämlich „Leben“ und „Tod“, die immer als vollständig
getrennt gedacht werden. Dies betont besonders Rolf Elberfeld in seiner
Übersetzung dieses Kapitels.[ii] Im
Einklang mit Nishijima Roshi möchte ich daher diese Einheit durch eine
Schreibweise mit Bindestrichen – „Leben-und-Tod“ – verdeutlichen. So wird es
auch in der englischen Übersetzung des Shōbōgenzō
gehandhabt.
Da das Kapitel Shōji relativ kurz ist, aber eine
zentrale Bedeutung hat, sollen Details zitiert und behandelt werden. Dabei soll
die Verständlichkeit der Zitate durch Zusätze in Klammern und Kommentare
verbessert werden. Wenn „Leben und Tod“ ohne Bindestriche geschrieben wird,
sind die gewöhnliche westliche Vorstellung und die damit verbundenen Emotionen
gemeint, die Leiden verursachen und durch das Erwachen im Buddha-Dharma
überwunden werden können. Dōgen erklärt:
„Weil es im Leben-und-Tod Buddha
(als Wirklichkeit) gibt, gibt es nicht Leben und Tod (wie in der üblichen
Vorstellung). Wir können auch sagen: Weil im (wirklichen) Leben-und-Tod gerade
nicht (die Vorstellung und der Begriff) ‚Buddha’ vorhanden ist, sind wir nicht
im (wirklichen) Leben-und-Tod verunreinigt.“
In dieser Aussage werden die
buddhistische Wirklichkeit von Leben-und-Tod und die gewöhnliche Vorstellung
des Lebens und des Todes einander gegenübergestellt und voneinander
unterschieden. Dōgen betont hier, dass der Begriff eines gedachten Buddhas
nicht ausreicht, denn dieser ist keine Wirklichkeit im Augenblick des Hier und
Jetzt. Er hebt hervor, dass Leben-und-Tod als Wirklichkeit im menschlichen
Leben real erfahren werden. Diese Erfahrung müsse von dem Begriff „Buddha“ und
auch von der buddhistischen Theorie und besonders von verzerrenden Doktrinen
unterschieden werden. Er ergänzt: „(Diese) Bedeutung wurde von (den Meistern) Kassan und Jōzan formuliert. (Es) waren die Worte zweier Zen-Meister, und es
waren die Worte von Menschen, die die Wahrheit erlangt hatten. Daher wurden sie
sicherlich nicht vergeblich niedergeschrieben (und an uns übermittelt).“
Kassan ist
dafür bekannt, dass er selbst viele Jahre damit gerungen hatte, Worte und
buddhistische Wirklichkeit zu trennen. Als er später Meister und Leiter eines
Klosters geworden war, legte er darauf beim Buddha-Weg und beim höchsten
Zustand des Erwachens den größten Wert. Sein Entwicklungsgang wird im Shinji Shōbōgenzō in einem sehr
wichtigen Kōan-Gespräch geschildert und wurde von Nishijima Roshi ausführlich
kommentiert. Es geht bei dem Zitat genau darum, dass die Wirklichkeit von
Leben-und-Tod von den Begriffen und
Vorstellungen unterschieden werden muss. Diese Wirklichkeit kann nur im
Augenblick erfahren werden, sodass der Gedanke an den Tod im Augenblick des
Lebens nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern nur eine Aktivität des
Gehirns ist. Dōgen fährt fort:
„Ein Mensch, der sich vom Leben
und Tod befreien will, sollte genau diese Wahrheit erhellen. Wenn jemand nach
Buddha sucht, außerhalb von Leben-und-Tod, ist es dasselbe, als wenn ein Wagen
mit (seiner Deichsel) nach Norden gerichtet ist, um in (das südliche Land) Etsu
zu fahren. Dasselbe gilt, wenn man nach Süden schaut und hofft, den nördlichen
Polarstern zu sehen.“
Dōgen will damit bildhaft und
eindeutig ausdrücken, dass beides völlig unsinnig ist. Die Befreiung von Leben
und Tod als Leiden könne nur durch das Erleben der Wirklichkeit von
Leben-und-Tod sowie im Verwirklichen des Buddha-Dharma und durch kraftvolles ethisches
Handeln erreicht werden.
Wenn man Worte und wirkliches
Erleben verwechselt, „bedeutet dies, dass man so immer mehr (falsche) Ursachen
von Leben und Tod anhäuft und vollständig den Weg der Befreiung verloren hat.“
Das heißt, dass durch Unklarheit über die Wirklichkeit von Leben-und-Tod
fortlaufend neue negative verzerrende Einflüsse auf uns einwirken. Dies kann
zum Beispiel dadurch geschehen, dass wir die Bedeutung des Augenblicks nicht
kennen oder verloren haben. Gleiches gilt, wenn das Gesetz von Ursache und
Wirkung nicht klar einbezogen wird. Die falschen Vorstellungen von Leben und
Tod haben nach Dōgen zur Folge, dass sie sich in einem selbstverstärkenden
Prozess immer mehr verhärten.
„Wenn wir verstehen, dass nur
Leben-und-Tod (als Buddha-Dharma) selbst das Nirvāna sind, ist es völlig
sinnlos, dass wir das Leben und den Tod hassen und das Nirvāna anstreben. Dann
existieren zum ersten Mal die (wahren) Hilfsmittel, um sich von Leben und Tod
zu befreien.“
Dōgen versteht das Nirvāna nicht als Erwartung eines jenseitigen Paradieses nach dem Tod, sondern als Teil des
verwirklichten Lebens im gegenwärtigen Augenblick. Hier besteht also im
Gegensatz zu manchen anderen buddhistischen Linien eine Übereinstimmung mit
Nāgārjuna. Ein solcher höchster Zustand ist das Erwachen zur Freiheit in der
Gegenwart.
Es ist ein schwerer Fehler, wenn
wir unser Leben nur als lineare Zeitstrecke verstehen, die mit der Geburt
beginnt und mit dem Tod endet:
„Geburt ist ein Zustand in einem
Augenblick, der schon eine Vergangenheit hat und der eine Zukunft haben wird.
Aus diesem Grund wird im Buddha-Dharma gesagt, dass (im gegenwärtigen
Augenblick) das Erscheinen genau das Nicht-Erscheinen ist. Auslöschen (Tod) ist
ein Zustand in einem Augenblick, der auch eine Vergangenheit und Zukunft hat.“
Wie Dōgen im Kapitel „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt“ eingehend erklärt, gibt es
nämlich im Augenblick kein Erscheinen und auch nicht die Vorstellung des
Nicht-Erscheinens. Der Augenblick ist so in den Prozess des Lebens eingebettet
wie ein Punkt auf einer Linie. Beide sind verbunden und können nicht sinnvoll
getrennt werden. Die gegenwärtigen Augenblicke des Lebens sind einzigartig und
entwickeln ihre Kraft aus sich und der Wechselwirkung mit der Vergangenheit und
Zukunft. Sie werden als Wirklichkeit erfahren und sind gleichzeitig Teil des
Lebensprozesses.
Es ist unsinnig zu sagen, dass
die Augenblicke isoliert und aus dem Nichts entstehen, wie es der Momentanismus
tut. Sie sind Teil des verbundenen Prozesses in der Bewegung, und dieser
Prozess entsteht und vergeht in Wechselwirkung mit der jeweiligen Situation.
Das Entstehen isolierter Augenblicke ist eine doktrinäre, nur intellektuell
gedachte und metaphysische Annahme. Der wahre Augenblick wird erlebt und
erfahren und hat damit die direkte Verbindung zur Wirklichkeit. Intellektuelles
Denken verhindert meist ein solches direktes Erleben, da es sich allein im
Geist und damit im Gehirn vollzieht. Es hat nur Verbindung zu gespeicherten
Erinnerungen früheren Denkens und Erlebens oder gedachten Erwartungen für die
Zukunft. Was für das Entstehen und Erscheinen gilt, trifft genauso für das
Verschwinden und Vergehen zu, wenn das direkte Erleben der Wirklichkeit
ausgeschaltet ist. Derartige Vorstellungen und komplexe Denkweisen mögen philosophisch
interessant sein, aber sie haben selten die erweiternde Kraft des Augenblicks,
sie machen meist wenig Sinn.
„In der Zeit, die Leben genannt
wird, gibt es (in der Wirklichkeit) nichts außerhalb des Lebens. In der Zeit,
die Tod genannt wird, gibt es nichts außerhalb des Todes. Wenn daher das Leben
kommt, ist es genau das Leben, und wenn der Tod kommt, ist es genau der Tod.
Sagt nicht, wenn ihr dies unterscheidet, dass ihr Sklave von (Leben und Tod)
seid, und werdet nicht durch Wünsche an sie gefesselt.“
Damit sagt Dōgen, dass sich das
Leben im Augenblick des Lebens verwirklicht und nicht in der dualistischen
Vorstellung und philosophischen Theorie. Wir sollen uns weder gedanklich noch
emotional an Leben oder Tod klammern. Dann erleben wir Befreiung, Kreativität
und schöpferisches Tun und Erfahren im Hier und Jetzt. Laut
Nishijima Roshi haben wir dann die Freiheit zu tun, was wir wollen, und das im
Einklang mit Ethik und Moral. Dōgen fährt fort:
„Dieses Leben-und-Tod ist genau
das heilige Leben des Buddhas. Wenn
wir es hassen und es loswerden wollen, ist es dasselbe, als wenn wir das
heilige Leben Buddhas verlieren wollen.“
Denn das Erwachen ist für jeden
Menschen wie für Gautama Buddha möglich, weil es die eigentliche Natur der
Entwicklung und Kreativität des Menschen ist. Wenn wir uns jedoch auf diesen
Gedanken fixieren, verlieren wir die Wirklichkeit, und dies sei dasselbe, wie
das heilige Leben Buddhas zu verlieren. Wir sollen uns daher nicht an die
Theorie und nicht an Doktrinen von Leben-und-Tod klammern und damit die
Wirklichkeit des Erlebens wie unter einer schweren Wolke verdecken. Darauf hat
nicht zuletzt Meister Kassan
hingewiesen. Dōgen sagt außerdem:
„Wenn wir ohne Abneigung und
ohne Sehnsucht sind, dann treten wir zum ersten Mal in den (wahren) Geist
Buddhas ein. Aber bedenkt dies nicht (nur) mit dem (verstandesmäßigen) Geist
und sagt es nicht nur in Worten! Wenn wir genau unseren eigenen Körper und unseren
eigenen Geist loslassen und sie in das Haus
Buddhas werfen, werden sie von der Seite Buddhas in Handeln umgesetzt.“
Diese Aussage darf man nicht als
Unterwerfung unter einen fremden Willen verstehen, die zur Unselbstständigkeit
und Naivität führt. Der Buddhismus ist eine Lehre der Emanzipation und des
freien Humanismus. Ein Missbrauch für diktatorische Regime ist daher im Kern
ausgeschlossen.
„Wenn wir dies dann fortlaufend
befolgen, ohne irgendeine Gewalt auszuüben und ohne unseren Geist (nur intellektuell)
zu benutzen, werden wir frei von (Fixierungen von) Leben und Tod, und wir
werden Buddha. Wer würde (dabei nur) träge im (denkenden) Geist bleiben?“
Im Leben kommt es auf aktives
Handeln und Erfahren an. Besonders problematisch ist es, wenn die von Buddha
genannten fünf Hemmnisse die Oberhand gewinnen, wie zum Beispiel Trägheit,
Hektizismus und Übelwollen.
Das unterscheidende
intellektuelle Denken ist nach Dōgen also nicht wirklich geeignet, um die
Probleme von Leben und Tod zu meistern. Damit ist jedoch niemals die Ablehnung
geistiger Tätigkeit gemeint, sondern von unnützen scholastischen
Spitzfindigkeiten. Besonders problematisch sind andauerndes Grübeln und
depressive Panik.
Zum Schluss fasst Dōgen die
Kernpunkte des Weges zum Erwachen zusammen:
„Kein Unrecht zu erzeugen, nicht
an Leben-und-Tod zu haften, tiefes Mitgefühl für alle Lebewesen zu zeigen, die
‚Höheren‘ zu achten und Mitgefühl für die ‚Tieferen‘ zu empfinden. Wir sollten
frei von einem Geist sein, der Abneigungen gegenüber den tausend Dingen (dieser
Welt) hat, und frei sein von dem Geist, der diese begehrt. Der Geist, der ohne
(duales) Denken und ohne Gram ist: Dieser wird Buddha genannt. Suche nichts
anderes.“
In dieser Aufzählung
wird zuerst auf das ethische Handeln verwiesen und das Mitgefühl angesprochen.
Dann betont Dōgen den Zustand des Gleichgewichts und des Mittleren Weges, der
frei von Hass, Neid und Abhängigkeit ist, Extreme und Ideologien meidet, aber
auch nicht in träumerische Romantik abgleitet. Dabei wird die buddhistische, klare
Intuition von dem gewöhnlichen intellektuellen Denken und der Scholastik
abgegrenzt. Auch das Versinken in ungesteuerte Emotionalität des Leidens wie
Kummer, Jammer, Gram und Verzweiflung, die in den Vier Edlen Wahrheiten genau geschildert werden, widerspricht der
positiven buddhistischen Wirklichkeit, die nicht zuletzt im Lotos-Sūtra poetisch beschrieben wir
[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 277ff.
ZEN Schatzkammer, Kap. 92, Bd. 3, S. 293ff.: „Die Befreiung von Leben und Tod
im Buddhismus (Shōji)“
[ii] Elberfeld, Rolf; Ohashi, Ryōsuke: Dōgen: Shōbōgenzō.
Ausgewählte Schriften. Anders Philosophieren aus dem Zen