Montag, 2. Januar 2023

Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle


Nishijima Roshi nannte mir dieses vierte Kapitel des Shōbōgenzō als Beispiel für einen starken Bezug zur materiellen und konkreten Dimension des Lebens und der Welt. Aber wie zu erwarten geht Dōgen weit über unsere westliche Vorstellung des Materialismus und Hedonismus hinaus, die nur eine Teilrealität darstellen.[i] Er zitiert und kommentiert dabei die folgenden Worte des großen Meisters Gensa, den er wegen seiner unverstellten buddhistischen Praxis außerordentlich schätzte: „Das Universum in den zehn Himmelsrichtungen ist eine leuchtende Perle.“ Dieser Satz drückt laut Dōgen das Herz des Buddha-Dharma aus. Das Leben und die Wirklichkeit des Universums werden als leuchtende Perle erlebt. Darin kommt etwas sehr Wichtiges zum Ausdruck, denn über das Schlechte und Negative in dieser Welt wird auch von materialistischen Menschen sehr viel geklagt, und die materielle Gier ist gerade in der heutigen Zeit von vielen nicht zu steuern.

Dass Dōgen das Gleichnis der leuchtende Perle außerordentlich schätzte, belegt, dass der Buddhismus alles andere als eine lebensfeindliche, freudlose und negative Philosophie und Lebenspraxis ist, wie manchmal behauptet wird, sondern dass – ganz im Gegenteil – die Schönheit und der wunderbare Glanz der Welt, der Natur, der Pflanzen und Tiere und des menschlichen Lebens im Mittelpunkt stehen und als die wahre Wirklichkeit erlebt werden.

Die runde Form ist im Buddha-Dharma oft ein Symbol für ein harmonisches und ausgeglichenes Leben und für das Universum. Diese Rundheit wird nicht zuletzt wegen ihrer Schönheit gerühmt. Ecken und Kanten oder gar Stacheln und Borsten werden im Buddhismus meist weniger geschätzt. Das Runde des Vollmondes gilt als der Inbegriff der Schönheit und Harmonie, und so ist auch eine runde Perle Ausdruck für ein schönes und waches Leben. Sie spiegelt alles wider, was um sie herum vorhanden ist, und ist damit mit einem Spiegel vergleichbar, der alles reflektiert, was vor ihm erscheint: der Spiegel der Wirklichkeit.

Eine Perle ist rund wie die Scheibe des Mondes oder der Sonne, aber sie hat auch die Eigenschaft zu rollen und sich zu bewegen und symbolisiert damit wiederum eine ganz lebendige Erfahrung des Buddhismus: die Bewegung, den Wandel und das Handeln. Das Universum und alles in der Natur und im Leben bewegt sich fortwährend, nicht nur in geistiger und psychischer Hinsicht, sondern ganz konkret. Eine rollende Perle verändert sich unaufhörlich in ihrer Schale. Dōgen sagt, dass sie sich damit selbst genug ist, so wie sie ist.

Gensa praktizierte bei seinem Meister Seppō die Zazen-Meditation in der korrekten Haltung mit aller Kraft und Ausdauer, aber eines Tages wollte er das Kloster verlassen und wieder auf Wanderschaft gehen, um andere buddhistische Meister kennenzulernen. Es wird berichtet, dass er nach dem Verlassen des Klosters noch nicht weit gekommen war, als er mit seinem Fuß in den offenen Sandalen heftig gegen einen Stein am Wege stieß und große Schmerzen in dem verletzten Zeh hatte, der stark blutete. Bei diesem plötzlichen schmerzhaften körperlichen Erlebnis hatte er eine vollkommen klare geistige Eingebung. Es schoss ihm durch den Kopf: „(Es wird gesagt, dass) dieser Körper nicht wirklich existiert, woher kommt dann der Schmerz?“ Gleichzeitig erkannte er, dass es sinnlos war, erneut auf Wanderschaft zu gehen und nach irgendetwas Entferntem zu suchen. Er kehrte daher sofort um und ging wieder zu Meister Seppō, dessen Nachfolger er später wurde. Das Kloster verließ er danach nicht mehr.

Seppō fragte Gensa, warum er denn zurückgekommen sei, und dieser antwortete: „Letztlich kann ich mich nicht von anderen täuschen lassen.“ Er erklärte, dass allein die eigene konkrete Erfahrung gerade der materiellen Wirklichkeit maßgeblich sei, unabhängig davon, was andere nun sagen und lehren. Wenn im Buddhismus manche fälschlich behaupten, dass der Geist unabhängig vom Körper existiere und nur der Geist Wirklichkeit habe, so wurde es dem Mönch Gensa im Gegensatz dazu durch den Schmerz blitzartig klar, dass dies nicht richtig sein konnte. Meister Seppō war von der einfachen, präzisen Aussage Gensas sehr beeindruckt und rühmte ihn anderen gegenüber außerordentlich.

Aber der Satz „Das Universum in den zehn Himmelsrichtungen ist eine leuchtende Perle“ muss von jedem Menschen auf das eigene Leben, die eigene Erfahrung und den eigenen buddhistischen Weg angewendet werden, denn auch eine solch großartige, aber dennoch allgemeine Aussage birgt die Gefahr, sich lediglich im Denken und isolierten Geist festzusetzen und als abstrakte Lehre vielleicht nur auswendig hergesagt zu werden.

Dōgen erläutert, dass man das Universum materiell-physikalisch präzise erkennen und deuten müsse. Aus der Welt der Ideen zur konkreten Wirklichkeit vorzustoßen bedeutet also gerade nicht, dass man in einem simplen materiellen Welt- und Lebensverständnis hängen bleibt. Die große Kraft des Zen-Buddhismus liegt aus meiner Sicht darin, dies in aller Klarheit des Hier und Jetzt herausgearbeitet zu haben. Besonders die Zazen-Praxis ermöglicht es uns, die unablässig kreisenden eigenen Gedanken zur Ruhe zu bringen. Auf diese buddhistische Kernlehre hat vor allem Meister Gensa hingewiesen. Im Gleichgewicht der Zazen-Haltung löst sich die Vorstellung eines isolierten Ich auf, denn wir sind ja unauflösbarer Teil der nicht endenden Bewegungen und Wechselwirkungen des Universums.

Dōgen war fest davon überzeugt, dass das wunderbare Gleichnis der Perle zentraler Bestandteil der buddhistischen Lehre ist und sich immer mehr verbreiten würde. Die Wirklichkeit existiert nur im Jetzt der Gegenwart. Diese Gegenwart hat sich zwar aus der Vergangenheit entwickelt, aber die Vergangenheit selbst kann nur gedacht und erinnert werden. Der Körper-Geist ist die Perle des Jetzt, der Wirklichkeit und der Wahrheit.

Im Buddhismus gibt es verschiedene tiefgründige Berichte über die Perle und deren Bedeutung für unser Leben. In einer Geschichte schenkte ein reicher Mann seinem verarmten Freund eine Perle und nähte sie in dessen ärmliches Gewand ein. Der Freund bemerkte die Perle erst nach vielen Jahren und wurde dadurch materiell gerettet. Der große Rhythmus des Lebens besteht nach Dōgen darin, eine Perle zu schenken und eine Perle zu empfangen. Sie ist für ihn ein wunderbares Symbol für das Leben, das strahlend und schön ist und das wir mit dem Buddha-Dharma lieben sollten. Dadurch können wir die einengenden, festgefahrenen Gedanken, Ideen und Doktrinen überwinden und vor allem Beurteilungen und Abwertungen wie Verachtung oder Ablehnung fallen lassen. Die Farben und das Licht der Perle haben kein Ende und sind gleichzeitig „die Tugend des ganzen Alls“, betont Dōgen.

 Link: Yudo´s Zen-Film, English, awards (!)



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 62ff.