Samstag, 10. Dezember 2022

Die Schönheit und Wirklichkeit der Berge und Wasser

 

Berge sind etwas Festes wie die Erde, und Wasser ist das Element des Flüssigen. Auf poetische Weise beschreibt Dōgen die Wirklichkeit der Berge und Wasser, der Wolken und des Himmels: „Denkt daran, dass diese (Aussage) ‚Der Ostberg bewegt sich auf dem Wasser‘ die Knochen und das Mark der buddhistischen Vorfahren ist. Die Wasser werden am Fuß des Ostberges verwirklicht; darauf reiten Berge die Wolken und wandern durch den Himmel. Die Kronen der Wasser sind die Berge, deren Wandern aufwärts und abwärts immer auf dem Wasser ist.“[i]

Das Wasser bewegt sich in flüssiger Form in Bächen, Strömen und Flüssen und füllt die großen Ozeane dieser Erde. Die Berge sind darüber und bauen sozusagen auf den Wassern auf. Die Wasser sind die Füße der Berge. Wasser steigt außerdem als Dampf in die Wolken, und es ist wieder Wasser, wenn es auf der Erde angekommen ist. Indem Dōgen die Berge auch als Kronen der Wasser bezeichnet, bringt er die fundamentale Beziehung zwischen beiden zum Ausdruck.

Wenn wir unser erlerntes Wissen und unsere scheinbare Sicherheit, dass Berge unbeweglich sind, hinter uns lassen, die Natur genau sehen und mit ihr in Wechselwirkung kommen, ist es nicht zu entscheiden, ob sich die Berge oder die Wasser bewegen. Die Wolken oberhalb der Berge bewegen sich ebenfalls, aber auch hier entsteht der Eindruck, dass die Berge gegen die Wolken wandern und dass Wolken und Berge beide in Bewegung sind. Ein solches ganzheitliches Verständnis der Bewegung in der Natur realisiert sich auf der Ebene des Sehens und geht darüber hinaus. Dann ist nichts mehr starr und nichts verharrt unbeweglich an seinem Platz. Wir erfahren die Berge und Wasser nicht als außerhalb von uns selbst und als bloße Objekte der Beobachtung. Dadurch entsteht eine neue befreiende Beweglichkeit des eigenen Selbst. Daher kann man die Bewegung der Berge als Gleichnis für die Bewegung der eigenen Psyche und des eigenen Geistes verstehen. Alte und scheinbar unumstößliche Blockaden im Menschen können sich auflösen, und es ereignet sich ein befreiendes, natürliches Fließen. Die Worte sind nach Nishijima Roshi damit die Wirklichkeit selbst, und dies ist genau der Sinn der oben zitierten Kōan-Geschichte vom Ostberg.

Nun zitiert Dōgen eine Aussage, die Meister Nangaku zugeschrieben wird: „Weil die Zehen der Berge über alle Arten von Wasser wandern können und die Wasser zum Tanzen bringen, ist das Wandern frei in allen Richtungen, und die Praxis-und-Erfahrung ist nicht Nicht-Leben (es gibt sie also wirklich!).“ Das bedeutet, dass die Ganzheit von Praxis und Erfahrung ganz real und die Wirklichkeit selbst ist.[ii] Die Formulierung, dass die Fußzehen der Berge auf den Wassern wandern, beruht auf der Beobachtung, dass Flüsse, welche die Berghänge hinabfließen, die Hänge so unterteilen, dass es aussieht, als hätten die Berge Zehen. Unten vereinigen sich die einzelnen Bergflüsse dann zu größeren Strömen, auf denen die Berge sozusagen schwimmen. Durch diese Ganzheit und Wechselwirkung mit den Bergen werden die Wasser dazu gebracht werden, zu tanzen. Dies beschreibt auch die Leichtigkeit und Freude, die sich durch die wechselwirkende Ganzheit des Menschen mit der Natur einstellen.

 

Die Eigenschaften des Wassers

Nachdem Dōgen bisher die Berge und ihre Beziehung zum Wasser in den Mittelpunkt gestellt hat, schildert er nun detailliert die Eigenschaften des Wassers:

„(Das Wasser) ist weder stark noch schwach, weder nass noch trocken, es bewegt sich nicht und ist nicht still, es ist weder kalt noch warm, weder existent noch nicht-existent, weder Täuschung noch Verwirklichung. Wenn es fest ist, ist es härter als Diamant. Wer könnte es brechen? Wenn es geschmolzen ist, ist es weicher als verdünnte Milch. Wer könnte es brechen? (Da) dies so ist, ist es unmöglich, an den wirklichen Tugenden des Wassers zu zweifeln, die es besitzt.“

Wasser kann verschiedene Formen annehmen: hart gefroren, flüssig, dampfförmig und sichtbar wie die Wolken und der Nebel, aber auch unsichtbar in Form der Luftfeuchtigkeit, wenn ein bestimmter Sättigungsgrad des Wassers in der Luft unterschritten wird. Während es uns bei den Bergen nicht unmittelbar einleuchtet, dass sie sich teilen und dauernd in Bewegung befinden, wird uns die Vielfältigkeit und Beweglichkeit des Wassers klar ersichtlich. Es ist ein Grundstoff des Lebens und der Welt überhaupt. Dies wird heute immer deutlicher angesichts der Tatsache, dass weite Teile der Erde versteppen und zu Wüsten werden, weil sich die jährlichen Niederschlagsmengen verringern. Ein Teil der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem, trinkbarem Wasser. Es ist also ein sehr wertvoller Rohstoff.

Dōgen unterscheidet zwischen unseren meist subjektiven Bewertungen und dem Wasser selbst, das als Teil der Natur wirklich und frei von Bewertungen da ist. Er will uns auf den Weg zur Wirklichkeit führen, damit wir einen unmittelbaren Zugang zum So-Sein des Wassers finden. Was ereignet sich genau in dem Augenblick, wenn wir das Wasser in der Vielfalt und Realität der Welt ansehen? Auf diese Weise wird eine persönliche Entwicklung vollzogen, sich der Wirklichkeit dieses Elements zu nähern. Darüber hinaus ist es „ein Lernen in der Praxis des Wassers, (das) das Wasser sieht“. Eine solche Formulierung verwendet Dōgen häufiger, um das wirkliche offene Sehen des Wassers zu beschreiben. Er bittet uns, bei der genauen Untersuchung der sogenannten externen Welt kraftvoll voranzuschreiten, sie „auszuschöpfen“ und dabei in die Freiheit zu springen. Einfacher ausgedrückt sieht er für uns die große Hoffnung, dass wir in der engen Verbindung mit der Natur, hier in Form des Wassers, Vorurteile, Täuschungen und Doktrinen, aber auch falsche Emotionen und negative Affekte über Bord werfen und dadurch auf dem Weg in die Freiheit vorankommen. Erwachte Menschen sehen das Wasser wirklich als Wasser: „Was daher (subjektiv) gesehen wird, unterscheidet sich in der Tat nach Art des Wesens (das sieht).“

Außerdem betont Dōgen, dass die verschiedenen Arten des Wassers nicht vom Geist, nicht vom Körper, nicht vom Karma, nicht vom Selbst und nicht von anderen abhängig sind: „(Die verschiedenen Arten des Wassers) haben den befreiten Zustand der direkten Beziehung zum Wasser selbst.“ Es geht also um das Wasser, das unabhängig ist von den menschlichen Emotionen, Vorurteilen und erlerntem Wissen. Wasser ist genau Wasser und kein Feuer, kein Wind, kein Raum und kein Bewusstsein.

Dagegen bedeutet Abhängigkeit nach Dōgen, „mit einer begrenzten Sichtweise auf der Basis von Annahmen zu spekulieren“. Die Wirklichkeit der Dharmas, der Dinge und Phänomene, sei auf diese Weise nicht zu erfassen und zu erleben; die Wirklichkeit könne sich dann in der Welt und im Universum überhaupt nicht entfalten. Es sei falsch, sich die Dharmas als etwas nur materiell Konkretes, also in Form von Entitäten, vorzustellen. Hierzu zitiert er Gautama Buddha: „Alle Dharmas sind im höchsten Maße befreit. Sie sind ohne (dauerhaften) Aufenthalt.“ Dōgen erläutert, dass es eigentlich keine künstlichen Fesseln für die Dharmas gibt, also für die Dinge, Phänomene und Prozesse der Wirklichkeit, und dass sie jeweils ihren richtigen Platz im Universum haben, aber diesen dürfen wir uns nicht starr und fixiert vorstellen.

Die Verbindung mit dem Wasser drückt Dōgen kraftvoll aus: „Wo immer große buddhistische Meister gehen, geht das Wasser. Und wo immer Wasser geht, verwirklichen sich die großen buddhistischen Meister.“ In der Ganzheit von Körper-und-Geist, die den Zustand der großen Meister ausmacht, ist die Wirklichkeit mit dem Wasser unauflösbar verbunden. „Ferner sollten wir in der Praxis lernen, ob es in den Häusern der buddhistischen Vorfahren im Dharma Wasser gibt, oder ob es kein Wasser gibt“, so beschreibt er die buddhistische Wirklichkeit des Wassers und macht deutlich, dass eine romantische, idealistische und doktrinäre Betrachtungsweise gerade nicht gemeint ist. Nicht zufällig spricht Dōgen in diesem Zusammenhang davon, wie die großen Meister das Wasser praktisch nutzten, wie es also Teil ihres verwirklichten Lebens war: „Es ist Erleuchtung, im Alltag Wasser zu schöpfen.“

 Link: Neuer Film, English,  mit acht awards (!)



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 194ff.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 81ff.; Bd. 2, S. 29ff.; Bd. 3, S. 260ff.