Berge sind etwas Festes wie die Erde, und Wasser ist das Element des Flüssigen. Auf poetische Weise beschreibt Dōgen die Wirklichkeit der Berge und Wasser, der Wolken und des Himmels: „Denkt daran, dass diese (Aussage) ‚Der Ostberg bewegt sich auf dem Wasser‘ die Knochen und das Mark der buddhistischen Vorfahren ist. Die Wasser werden am Fuß des Ostberges verwirklicht; darauf reiten Berge die Wolken und wandern durch den Himmel. Die Kronen der Wasser sind die Berge, deren Wandern aufwärts und abwärts immer auf dem Wasser ist.“[i]
Das Wasser bewegt sich in flüssiger Form in Bächen,
Strömen und Flüssen und füllt die großen Ozeane dieser Erde. Die Berge sind
darüber und bauen sozusagen auf den Wassern auf. Die Wasser sind die Füße der
Berge. Wasser steigt außerdem als Dampf in die Wolken, und es ist wieder
Wasser, wenn es auf der Erde angekommen ist. Indem Dōgen die Berge auch als
Kronen der Wasser bezeichnet, bringt er die fundamentale Beziehung zwischen
beiden zum Ausdruck.
Wenn wir unser erlerntes Wissen und unsere scheinbare
Sicherheit, dass Berge unbeweglich sind, hinter uns lassen, die Natur genau
sehen und mit ihr in Wechselwirkung kommen, ist es nicht zu entscheiden, ob
sich die Berge oder die Wasser bewegen. Die Wolken oberhalb der Berge bewegen
sich ebenfalls, aber auch hier entsteht der Eindruck, dass die Berge gegen die
Wolken wandern und dass Wolken und Berge beide in Bewegung sind. Ein solches
ganzheitliches Verständnis der Bewegung in der Natur realisiert sich auf der
Ebene des Sehens und geht darüber hinaus. Dann ist nichts mehr starr und nichts
verharrt unbeweglich an seinem Platz. Wir erfahren die Berge und Wasser nicht
als außerhalb von uns selbst und als bloße Objekte der Beobachtung. Dadurch entsteht
eine neue befreiende Beweglichkeit des eigenen Selbst. Daher kann man die
Bewegung der Berge als Gleichnis für die Bewegung der eigenen Psyche und des
eigenen Geistes verstehen. Alte und scheinbar unumstößliche Blockaden im
Menschen können sich auflösen, und es ereignet sich ein befreiendes,
natürliches Fließen. Die Worte sind nach Nishijima Roshi damit die Wirklichkeit
selbst, und dies ist genau der Sinn der oben zitierten Kōan-Geschichte vom
Ostberg.
Nun zitiert Dōgen eine Aussage, die Meister Nangaku
zugeschrieben wird: „Weil die Zehen der Berge über alle Arten von Wasser
wandern können und die Wasser zum Tanzen bringen, ist das Wandern frei in allen
Richtungen, und die Praxis-und-Erfahrung ist nicht Nicht-Leben (es gibt sie
also wirklich!).“ Das bedeutet, dass die Ganzheit von Praxis und Erfahrung ganz
real und die Wirklichkeit selbst ist.[ii] Die
Formulierung, dass die Fußzehen der Berge auf den Wassern wandern, beruht auf
der Beobachtung, dass Flüsse, welche die Berghänge hinabfließen, die Hänge so
unterteilen, dass es aussieht, als hätten die Berge Zehen. Unten vereinigen
sich die einzelnen Bergflüsse dann zu größeren Strömen, auf denen die Berge
sozusagen schwimmen. Durch diese Ganzheit und Wechselwirkung mit den Bergen
werden die Wasser dazu gebracht werden, zu tanzen. Dies beschreibt auch die
Leichtigkeit und Freude, die sich durch die wechselwirkende Ganzheit des
Menschen mit der Natur einstellen.
Die
Eigenschaften des Wassers
Nachdem Dōgen bisher die Berge und ihre Beziehung zum
Wasser in den Mittelpunkt gestellt hat, schildert er nun detailliert die
Eigenschaften des Wassers:
„(Das Wasser) ist weder stark noch schwach, weder
nass noch trocken, es bewegt sich nicht und ist nicht still, es ist weder kalt
noch warm, weder existent noch nicht-existent, weder Täuschung noch
Verwirklichung. Wenn es fest ist, ist es härter als Diamant. Wer könnte es
brechen? Wenn es geschmolzen ist, ist es weicher als verdünnte Milch. Wer
könnte es brechen? (Da) dies so ist, ist es unmöglich, an den wirklichen Tugenden
des Wassers zu zweifeln, die es besitzt.“
Wasser kann verschiedene Formen annehmen: hart
gefroren, flüssig, dampfförmig und sichtbar wie die Wolken und der Nebel, aber
auch unsichtbar in Form der Luftfeuchtigkeit, wenn ein bestimmter
Sättigungsgrad des Wassers in der Luft unterschritten wird. Während es uns bei
den Bergen nicht unmittelbar einleuchtet, dass sie sich teilen und dauernd in
Bewegung befinden, wird uns die Vielfältigkeit und Beweglichkeit des Wassers
klar ersichtlich. Es ist ein Grundstoff des Lebens und der Welt überhaupt. Dies
wird heute immer deutlicher angesichts der Tatsache, dass weite Teile der Erde
versteppen und zu Wüsten werden, weil sich die jährlichen Niederschlagsmengen
verringern. Ein Teil der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu sauberem,
trinkbarem Wasser. Es ist also ein sehr wertvoller Rohstoff.
Dōgen unterscheidet zwischen unseren meist
subjektiven Bewertungen und dem Wasser selbst, das als Teil der Natur wirklich
und frei von Bewertungen da ist. Er will uns auf den Weg zur Wirklichkeit
führen, damit wir einen unmittelbaren Zugang zum So-Sein des Wassers finden.
Was ereignet sich genau in dem Augenblick, wenn wir das Wasser in der Vielfalt
und Realität der Welt ansehen? Auf diese Weise wird eine persönliche
Entwicklung vollzogen, sich der Wirklichkeit dieses Elements zu nähern. Darüber
hinaus ist es „ein Lernen in der Praxis des Wassers, (das) das Wasser sieht“.
Eine solche Formulierung verwendet Dōgen häufiger, um das wirkliche offene
Sehen des Wassers zu beschreiben. Er bittet uns, bei der genauen Untersuchung
der sogenannten externen Welt kraftvoll voranzuschreiten, sie „auszuschöpfen“
und dabei in die Freiheit zu springen. Einfacher ausgedrückt sieht er
für uns die große Hoffnung, dass wir in der engen Verbindung mit der Natur,
hier in Form des Wassers, Vorurteile, Täuschungen und Doktrinen, aber auch
falsche Emotionen und negative Affekte über Bord werfen und dadurch auf dem Weg
in die Freiheit vorankommen. Erwachte Menschen sehen das Wasser wirklich als
Wasser: „Was daher (subjektiv) gesehen wird, unterscheidet sich in der Tat nach
Art des Wesens (das sieht).“
Außerdem betont Dōgen, dass die verschiedenen Arten
des Wassers nicht vom Geist, nicht vom Körper, nicht vom Karma, nicht vom
Selbst und nicht von anderen abhängig sind: „(Die verschiedenen Arten des
Wassers) haben den befreiten Zustand der direkten Beziehung zum Wasser selbst.“
Es geht also um das Wasser, das unabhängig ist von den menschlichen Emotionen,
Vorurteilen und erlerntem Wissen. Wasser ist genau Wasser und kein Feuer, kein
Wind, kein Raum und kein Bewusstsein.
Dagegen bedeutet Abhängigkeit nach Dōgen, „mit einer
begrenzten Sichtweise auf der Basis von Annahmen
zu spekulieren“. Die Wirklichkeit der Dharmas, der Dinge und Phänomene, sei
auf diese Weise nicht zu erfassen und zu erleben; die Wirklichkeit könne sich dann
in der Welt und im Universum überhaupt nicht entfalten. Es sei falsch, sich die
Dharmas als etwas nur materiell Konkretes, also in Form von Entitäten,
vorzustellen. Hierzu zitiert er Gautama Buddha: „Alle Dharmas sind im höchsten
Maße befreit. Sie sind ohne (dauerhaften) Aufenthalt.“ Dōgen erläutert, dass es
eigentlich keine künstlichen Fesseln für die Dharmas gibt, also für die Dinge,
Phänomene und Prozesse der Wirklichkeit, und dass sie jeweils ihren richtigen Platz im Universum haben, aber
diesen dürfen wir uns nicht starr und fixiert vorstellen.
Die Verbindung mit dem Wasser drückt Dōgen kraftvoll
aus: „Wo immer große buddhistische Meister gehen, geht das Wasser. Und wo immer
Wasser geht, verwirklichen sich die großen buddhistischen Meister.“ In der
Ganzheit von Körper-und-Geist, die den Zustand der großen Meister ausmacht, ist
die Wirklichkeit mit dem Wasser unauflösbar verbunden. „Ferner sollten wir in
der Praxis lernen, ob es in den Häusern der buddhistischen Vorfahren im Dharma
Wasser gibt, oder ob es kein Wasser gibt“, so beschreibt er die buddhistische
Wirklichkeit des Wassers und macht deutlich, dass eine romantische,
idealistische und doktrinäre Betrachtungsweise gerade nicht gemeint ist. Nicht
zufällig spricht Dōgen in diesem Zusammenhang davon, wie die großen Meister das
Wasser praktisch nutzten, wie es also
Teil ihres verwirklichten Lebens war: „Es ist Erleuchtung, im Alltag Wasser zu
schöpfen.“