Dienstag, 8. November 2022

Die wunderbare Form der Dinge und Phänomene in unserer Welt



Die Wirklichkeit und deren erkennbare Formen im Hier und Jetzt haben im Zen eine sehr große Bedeutung für den Weg der Befreiung. Sehr markant kommt dies im 50. Kapitel des Shōbōgenzō („Shohō jissō“) zum Ausdruck.[i] Und die wahre Form ist immer wirklich, über das Materielle hinaus!

Meister Dōgen baute seine buddhistische Lehre auch auf dem Lotos-Sūtra auf, dem er im Gegensatz zum landläufigen Verständnis eine neue Bedeutung und Tiefenschärfe gab. Er interpretierte es nicht als wundergläubigen Volksbuddhismus, sondern auf der Grundlage des Chan-Buddhismus und Nāgārjunas Mittlerem Weg. Im Kapitel „Die Dharma-Blume (der Wahrheit) dreht die Blume der Dharma-Welt“ und in diesem Kapitel über die Form ist es ihm in großartiger Weise gelungen, die Wirklichkeit und das Universum selbst in Worte zu fassen, soweit dies überhaupt möglich ist. Zweifellos hatte er damit einen inneren Widerspruch zu bewältigen, weil die Wirklichkeit und Wahrheit nicht erschöpfend mit Worten beschrieben werden können, da sie über Beschreibungen hinausgehen. Aber der verbale Ausdruck ist andererseits unbedingt notwendig, um den Buddha-Dharma lehren und übermitteln zu können. Im Kapitel über das Lotos-Sūtra werden vor allem die Großartigkeit, Schönheit und Realität des Universums geschildert, und es wird erläutert, dass die Wirklichkeit dieser Welt einer wunderbaren Lotosblume gleicht. Diese Schönheit ist das, was wir als Form direkt sehen, und nicht eine weit entfernte erträumte Welt ohne reale Form. Die Welt dreht sich und ist somit in dauernder Bewegung, also keinesfalls statisch und festgelegt, und das Leben ist dauernd in Entwicklung und Bewegung. Das ist genau das Thema des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung.

Die Wirklichkeit und deren Formen 

Im Kapitel Shohō jissō beschreibt Dōgen die Wirklichkeit umfassend in einem gewaltigen Wurf, und gleichzeitig arbeitet er heraus, was er unter „Dharma“ versteht. Dieser Begriff ist für das westliche Denken nicht einfach zu fassen, denn er bedeutet sowohl die buddhistische Lehre als auch die Wirklichkeit des Lebens und Universums selbst. In diesem Sinne lässt sich Dharma übersetzen mit der Formulierung „Dinge und Phänomene“, meint also diese ganz konkrete Welt. Damit wird die unauflösbare Verbundenheit auch mit der konkreten Form hervorgehoben. Und vor Dōgen hat Nāgārjuna präzise bewiesen, dass die Dharmas nicht nach dem Substantialismus der Statik verstanden werden können.

Häufig wird der Begriff in der Pluralform verwendet – Dharmas –und bezieht sich dann genau auf die einzelnen Dinge und Phänomene der Wirklichkeit, also auf die unendliche Vielfalt der Welt und des Lebens. Seit einiger Zeit wird dies nach Luhmann auch die „unendliche Komplexität“ der Wirklichkeit genannt. Dazu gehören materielle Dinge und äußere Formen, aber auch Gedanken, Bilder, Ideen und deren prozesshafte Vernetzungen. Darüber hinaus bezeichnet der Begriff „Dharmas“ den Sinn, die Bedeutungen und die Bewertungen der Phänomene. Diese würden wir heute überwiegend dem psychischen Bereich oder der Seele zuordnen.

Der japanische Titel dieses Kapitels enthält das Wort sho, das „Vielfalt“, „alles“ und „Vielfältiges“ bedeutet. Der Begriff bezeichnet die Dharmas, also sowohl physische Dinge als auch geistige Phänomene und Prozesse. Jitsu bedeutet „wirklich“ und „real“, und das Wort heißt „Form“. Daher lautet die wörtliche Übersetzung des Titels: „Alle Dinge und Phänomene sind wirkliche Form.“ Diese wirklichen Formen gehen über die äußerliche Sichtweise der Materialisten hinaus, die nur das rein Materielle und die äußere Form als Wirklichkeit anerkennen und damit nur einen Teil der buddhistischen Realität erfassen können. In der Buddha-Lehre werden das Handeln, der Augenblick, die Veränderung und das Entstehen sowie der höchste Zustand des Erwachens als große Wirklichkeit in der Welt verstanden und gelebt. Diese umfasst alle Lebensdimensionen und übersteigt sie gleichzeitig. Dōgen beschreibt diese Wahrheiten in einem anderen großartigen Kapitel über die Verwirklichung des Universums, der Welt und des Menschen (Kapitel 3, Genjō kōan). Dort entwirft er eine groß angelegte Gesamtlehre des Buddhismus und der Wirklichkeit auf der Grundlage des von ihm durch den wahren authentischen Buddhismus neu gedeuteten Lotos-Sūtra.

Viele verstehen das Lotos-Sūtra als die Beschreibung einer wunderbaren, idealen Welt, die aus Edelsteinen, Gold, Silber, Blumen, wunderbaren Düften, schöner Musik und prachtvollen Farben besteht, zum Beispiel das erträumte Nirvāna des Volksbuddhismus. Man könnte daher glauben, dass es sich um eine idealisierte Welt ohne Hässlichkeit, Böses, ohne Abgründe, ohne Verbrechen und ohne Betrug handelt und dass diese der „bösen“ Realität gegenübergestellt wird. Dōgen versteht das Lotos-Sūtra jedoch grundlegend anders: Er sagt, dass gerade die konkrete Wirklichkeit selbst von wunderbarer Schönheit und Ausgeglichenheit ist und dass der höchste Zustand des Erwachens, also die Erleuchtung, jedem zugänglich ist. Damit sind die Schilderungen im Lotos-Sūtra keine verklärten Bilder eines jenseitigen Paradieses, hoch geschraubter Doktrinen und einer anderen idealen, gedachten und erträumten Welt, sondern sie sind die in Worte gefassten Gleichnisse unserer Wirklichkeit, unseres Universums und unseres eigenen Lebens im Hier und Jetzt. In einer solchen Realität wird der Gegensatz von äußerer Form und innerem Sinn aufgehoben, denn dieser besteht nur im Denken, in Illusionen und theoretischen Überlegungen. Form und Sinn sind unauflösbar miteinander verbunden, ohne jedoch eine triviale totale Identität oder ein depressives Nichts damit zu verknüpfen.

Dōgen setzt wie im Lotos-Sūtra die wirkliche Form mit den Dharmas, also der Vielfalt der Welt, gleich. Er beschreibt alle Dharmas als Form, Natur, Körper, Geist, Welt, Wolken und Regen und ergänzt: „so wie sie sind“. Sie sind gleichzeitig auch Handeln: Gehen, Stehen, Sitzen und Niederlegen, so wie dieses Handeln eben ist. Auch Sorge und Freude, Bewegung und Ruhe sind die wirklichen Dharmas „wie sie sind“. Das ist eine beachtliche Übereinstimmung mit Nāgārjunas Mittlerem Weg. Weiterhin gehören dazu die Gegenstände der buddhistischen Zeremonien, nämlich der Zen-Stab und der Fliegenwedel, und zwar genau so „wie sie sind“. Dōgen zählt dazu auch die sich drehenden Blumen, das lächelnde Gesicht, die Weitergabe des Dharma sowie dessen Bestätigung „so wie sie sind“. Er erwähnt weiterhin das Lernen in der Praxis und das Streben nach der Wahrheit, genau so „wie sie sind“. Schließlich fügt er die Dauerhaftigkeit der Pinien und die Reinheit des Bambus hinzu, „so wie sie sind“. Die Formulierung „so wie es ist“ oder „so wie sie sind“ heißt frei von Doktrinen und Ideologien, also „leer“.

Dōgen beschreibt unsere Welt als die Wirklichkeit der Dharmas, sowohl Dinge und materielle Gegebenheiten als auch Handlungen, psychische Bereiche wie Sorgen und Freude, Gegenstände der buddhistischen täglichen Zeremonien, aber auch die übermittelten Wahrheiten des Buddha-Dharma wie das Drehen der Dharma-Blume und das Lächeln im Gesicht der Menschen. Das Streben und die Suche nach der Wahrheit sowie das praktische Lernen und Studieren der buddhistischen Lehre sind genauso enthalten wie die wunderbare Natur der Pinien und des Bambus. Psychische Phänomene und der Sinn des Lebens besitzen bei Dōgen wie die Form also die unbestrittene Qualität der Wirklichkeit. Und dies unterscheidet die buddhistische Sichtweise fundamental vom Lebensverständnis der Materialisten und Idealisten.

Dōgen zitiert dann Shākyamuni Buddha aus dem Lotos-Sūtra: „Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können direkt vollkommen verwirklichen, dass alle Dharmas wirkliche Formen sind. Was ‚alle Dharmas’ genannt wird, sind Formen wie sie sind, die Natur wie sie ist, der Körper wie er ist, die Energie wie sie ist, das Handeln wie es ist, die Ursachen wie sie sind, die Bedingungen wie sie sind, die Wirkungen wie sie sind, die Ergebnisse wie sie sind und der höchste Zustand des Gleichgewichts, des Wesentlichen und der Einzelheit wie sie sind.“

Die Formulierung „wie es ist“ oder „wie sie sind“ soll den direkten Bezug zur Wirklichkeit herstellen und geht über Worte, Denken und Doktrinen hinaus. Dōgen zeigt mit seinen Aussagen also direkt auf diese Wirklichkeit, gerade auch die der Formen. Er schildert, dass sich der höchste Zustand des Erwachens und des Gleichgewichts als Offenbarung und Ausdruck der wahren Natur der Dharmas äußert. Sie sind dann ohne Verzerrungen und Verkürzungen als wirkliche Form klar und intuitiv erfassbar. Dabei wird nichts weggelassen und nichts hinzugefügt. Dōgens tiefes Verständnis der Form ist genau das Gegenteil eines absoluten Nichts, sei es depressiv oder schwärmerisch.

Anschließend betont Dōgen, dass die wirkliche Form aller Dharmas auch die Bedeutung der Formulierung hat, „die Buddhas (Erwachte) allein zusammen mit den Buddhas (Erwachten)“ können dies vollständig erfahren. Das heißt, dass die Buddhas und die erwachten Vorfahren im Dharma, also die großen Meister in Indien und China, für sich und zusammen dies alles und auch die Formen tiefgründig erkennen und verwirklichen. Er hebt hervor, dass wir dies nicht nur als eine Beschreibung des Materiellen verstehen sollen, sondern als die Wirklichkeit selbst. Die Form soll dabei nicht so gesehen werden, als ob sie ohne Sinn und Bedeutung sei, aber es gehe auch nicht allein um das „Wesen und die Essenz“, die formlos und unabhängig von der Materie seien: „Wir bezeichnen den Zustand, in dem alle Dharmas wirklich alle Dharmas sind, als die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas, und nennen dies den Zustand, in dem alle Dharmas genau wirkliche Formen sind.“

Damit wird die Ganzheit der Wirklichkeit, des Universums, der Welt und des Lebens mit den Buddhas ausgedrückt. Dann sei die wirkliche Form nur die wirkliche Form selbst und fei von Doktrinen. Wenn die Buddhas in dieser Welt allein und zusammen mit Buddhas erscheinen, ereignen sich das Lehren, die Praxis und die Erfahrung, dass alle Dharmas die wirklichen Formen sind. Dōgen fügt hinzu, dass dabei der Augenblick je im Hier und Jetzt die vollkommene Wirklichkeit ist: Wahre Form gibt es nur im Erleben des Augenblicks.

Kausalität, Ursache und Wirkung

Dōgen distanziert sich von der Vorstellung, dass Ursachen, Bedingungen und Wirkungen immer nur ein gedachter philosophischer Zusammenhang seien. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass häufig gerade die wirklichen Ursachen und deren Vernetzung weitgehend unklar sind und scheinrationale Ursachen in unserem Bewusstsein vorherrschen. Hier zeigen sich wichtige Zusammenhänge mit der Lehre von Sigmund Freud, der die Heilung der Psyche dadurch in Gang bringt, dass sich der Patient der ungeschminkten Wirklichkeit stellt, seine Verdrängungen auflöst und zusammen mit dem Therapeuten eine falsche Verursachung oder Verdrängung der Realität überwindet. Dabei kommen Scheinrealitäten zur Ruhe. Die tatsächlichen Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen weichen oft grundsätzlich von den Vorstellungen und subjektiven psychischen „Wahrheiten“ der Menschen ab. Dies sichert zwar laut Freud ein kurzfristiges Überleben im Alltag, bleibt aber als psychische Krankheit schädigend erhalten und muss in einem schmerzhaften Lernprozess zusammen mit dem Therapeuten bewältigt werden.

Dōgen arbeitet den Unterschied zwischen einem vorgestellten bzw. ausgedachten Zusammenhang von Ursache und Wirkung und deren Wirklichkeit heraus. In einem anderen Kapitel[ii] erklärt er, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung mit der buddhistischen Theorie des Handelns im Augenblick keinesfalls im Widerspruch steht, was allerdings von manchen Zen-Buddhisten und sogar von Lehrern leider bisweilen behauptet wurde und wird.

Weil diese Wirkungen, Formen, die Natur, der Körper und die Energie direkt miteinander verbunden sind, ist dies die wirkliche Form. Weil diese Wirkungen die Formen, die Natur, den Körper und die Energie nicht beschränken, sind sie wirkliche Formen. Die Aussage „Formen wie sie sind“ bedeutet nicht eine einzelne Form, aber auch keine abstrakte Verallgemeinerung, sondern dass dies nicht einfach zählbar ist, ohne Grenzen ist und nicht vollständig in Worten auszudrücken. Es ist die Wirklichkeit selbst. Maßeinheiten wie 100 oder 1.000 sind ebenfalls nicht brauchbar. Dōgen sagt hierzu:

„Wir sollten als Maß (nur) das Maß aller Dharmas verwenden, und wir sollten als Maß (nur) das Maß der wirklichen Form gebrauchen. Der Grund ist, dass die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas vollständig verwirklichen können, dass alle Dharmas wirkliche Form sind.“ Und er führt weiter aus: „Weil die Existenz der Wahrheit so wie diese ist, sind die Buddha-Länder der zehn Richtungen nur allein die Buddhas zusammen mit den Buddhas.“ Und dies gelte für alle und sogar für deren Hälfte, also immer und in jedem Fall.

Die Wirklichkeit des Menschen und seiner Komponenten

In diesem Kapitel geht es Dōgen in ganz besonderer Weise darum, die Wirklichkeit des Menschen und seiner fünf Komponenten, der Skandhas, selbst anzusprechen und nicht in abstrakten Überlegungen, Theorien und Worten hängen zu bleiben. Dabei wird die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben, so als ob ein „Mensch sich selbst gespiegelt im Wasser sieht und das Spiegelbild den Menschen sieht“. Das ist die Wechselwirkung der Wirklichkeit. Dōgen bezieht dann die Dharma-Übertragung und Bestätigung mit ein und stellt fest: „Die Buddhas empfangen zusammen den Dharma zum Guten für die Buddhas, die zusammen sind.“ Dies gilt für Leben-und-Sterben sowie Kommen-und-Gehen, die damit wirklich existieren.

„Auf dieser Basis existiert das Streben des Geistes, der Übung und von Leben und Nirvāna“, betont er. Dabei erfassen wir diese Wirklichkeit und halten sie fest und lassen sie ein andermal wieder los: „Mit diesem Lebensblut öffnen sich die Blumen und reifen die Früchte. Mit diesen Knochen und diesem Mark existieren Mahākāshyapa und Ānanda. Die Formen des Windes und des Regens, des Wassers und des Feuers wie sie sind, sind die vollkommene Verwirklichung von sich selbst.“

Nach Dōgen wandeln wir das Gewöhnliche und das Heilige auf der Grundlage dieser konkreten Körper-Energie um. Dies gilt auch für die ganz realen Wirkungen-und-Ursachen, die nicht voneinander getrennt werden können. Wir überschreiten dann sogar die Buddhas und Vorfahren im Dharma. Durch diese unmittelbaren Ursachen-und-Wirkungen wird der Erdboden in Gold umgewandelt. In gleicher Weise wird der Dharma übermittelt und die Robe weitergegeben.

Dōgen zitiert dann Gautama Buddha aus dem Lotos-Sūtra, der davon spricht, dass wir „das Siegel der wirklichen Form für die anderen Menschen lehren“. Damit ist das umfassende und intuitive Lehren, Zuhören und Verstehen gemeint, wenn wir „mit den Augen hören“ und mit den „Ohren sehen“. Hiermit wird auch unterstrichen, dass es nicht um das angehäufte Wissen für sich selbst geht, sondern dass die Lehre für die anderen wesentlich ist, um sie auf den Buddha-Weg zu führen.

Den höchsten Zustand und die Verwirklichung selbst setzt Dōgen mit dem Lotos-Sūtra gleich, denn in diesem Sūtra gehe es nicht um erbauliche Geschichten und märchenhafte idealisierte Welten, sondern es ermögliche den Handelnden, dass sie die „geschickten Mittel“ eines Bodhisattva zur Verfügung haben und anderen damit helfen. Dōgen zitiert Shākyamuni Buddha: „Das höchste und vollkommene Erwachen (Anuttara samyak-sambodhi) aller Bodhisattvas ist ganz mit diesem Sūtra verbunden. Dieses Sūtra öffnet das Tor der geschickten Mittel.“

Bodhisattvas sind nach Dōgen „nicht zwei Menschen, sie sind jenseits vom Selbst und von anderen. Sie sind auch keine Persönlichkeiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern Buddha zu werden ist ihr Dharma-Verhalten, indem sie den Bodhisattva-Weg praktizieren.“ Er betont, dass die Buddhas und Bodhisattvas immer weiter praktizieren und sich damit von den gewöhnlichen Menschen unterscheiden. Er bezeichnet die „geschickten Mittel“ als Tor des Lernens und der Praxis des ganzen Universums und nicht als etwas Vorübergehendes und Ausgedachtes. Schließlich hält er fest: „Obgleich dieses Tor der geschickten Mittel sich so offenbart, dass es das ganze Universum der zehn Richtungen mit dem (wirklichen) Universum der zehn Richtungen abdeckt, sind jene, die sich von allen Bodhisattvas unterscheiden, nicht in deren Weltraum.“

Dōgen bedauert, dass in den vorhergehenden 200 bis 300 Jahren viele falsche Lehrer den wahren Kern des Lotos-Sūtra weder erfasst hatten noch richtig lehren konnten. Es verflachte deshalb zu einem Buch des wundergläubigen Volksbuddhismus. Oft hätten sie die Form vom Inhalt und Sinn abgetrennt und damit die wirkliche Form vollständig missverstanden. Nāgārjuna und Dōgen betonen übereinstimmend die Ganzheit und Verbundenheit von Inhalt und Form und verwerfen eine Unterscheidung, die weder dem Inhalt noch der Form gerecht werde.

Dann zitiert und kritisiert Dōgen den Zen-Meister O-an Donge, der 1163 starb, also bereits einer späten Phase des chinesischen Buddhismus angehörte. O-an Donge lehrte einen Mönch auf falsche Weise folgendermaßen:

„Wenn du auf einfache Weise (den Buddha-Dharma) verstehen willst, beobachte 24 Stunden (des Tages) lang nur den Zustand, wie der Geist erscheint und sich die Bilder bewegen.“ Weiter sagte er: „Außerdem ist dies ohne räumliche Form und Abgrenzung. Außen und Innen sind eine Einheit (…). Diejenigen, die diesen Zustand erreicht haben, heißen Menschen, die in der Wahrheit leicht und unbeschwert sind, die aufgehört haben (Kompliziertes) zu studieren, und frei in ihrem Tun sind.“

Dōgen kritisiert Meister O-an in aller Härte. Er habe sich zwar bemüht, das Wesentliche der wirklichen Form und des Buddha-Dharma auszudrücken, sei aber dabei keineswegs zum Kern vorgestoßen. Das Beobachten der kommenden und gehenden Gedanken und der aufsteigenden und vergehenden Bilder im Geist sei nicht die volle Wirklichkeit der fünf Komponenten des Menschen. Genauso sei die Formulierung „Außen und Innen“ missverständlich, da sie die umfassende Wirklichkeit nicht beschreibe. Auch die Zeitstrecke von 24 Stunden eines Tages entspräche nicht der Wirklichkeit des Augenblicks im Hier und Jetzt, sondern sie sei an Vorstellungen von der linearen Zeit und an erlernte Denkgewohnheiten gebunden. Trotzdem lobt er schließlich doch Meister O-an, da dieser im Gegensatz zu vielen anderen Lehrern seines Zeitalters wenigstens einen Teil der Wirklichkeit von der wahren Form gelehrt habe.

Am Ende des Kapitels zitiert Dōgen noch ein Gedicht seines eigenen Meisters Tendō Nyojō, des „ewigen Buddha“:

„Es gibt (sanfte) Kälber heute Nacht auf dem Berg Tendō.
Gautamas goldenes Antlitz offenbart wirkliche Form.
Wie könnten wir dessen unermesslichen Wert begleichen, wenn wir es erwerben wollten?
Der Ruf des Kuckucks, darüber eine einzelne Wolke.“

 

Der Ausdruck „sanfte Kälber“ wurde für die friedlichen Mönche verwendet, die sich im Kloster von Tendō Nyojō in der wunderbaren Sommernacht versammelt hatten. Der Kuckuck ruft unmittelbar und wird von allen direkt als Wirklichkeit wahrgenommen. Er ist Teil der wirklichen Form, die beim Hören nicht auf die sinnliche Wahrnehmung der Ohren beschränkt ist.

Es folgt eine Kōan-Geschichte von Meister Gensa. Als dieser die jungen Schwalben des Klosters zwitschern hörte, sagte er: „(Dies ist) die tiefgründige Lehre und Sprache der wirklichen Form, und sie lehrt hervorragend den wahren Kern des Dharma.“ Danach stieg er von seinem Meister-Sitz herab. Aber ein Mönch erwartete noch weitere bedeutungsvolle Erklärungen von ihm und sagte: „Ich verstehe nicht.“ Der Meister antwortete: „Geh fort! Niemand glaubt dir.“

Was soll damit ausgedrückt werden? Die Aussage des Mönchs, dass er nicht verstehe, was der Meister gesagt hat, kann bedeuten, dass er im Buddha-Dharma noch nicht kundig ist, weil er die unmittelbare Schönheit und Wahrheit der Schwalben nicht „verstanden“ hat. Es könnte aber auch umgekehrt bedeuten, dass er die Grenzen des intellektuellen Verstehens und unterscheidenden Denkens bereits erfahren hat und damit einen wesentlichen Bereich des Buddha-Dharma erfasst hat. Die Reaktion des Meisters, „Geh fort!“, erscheint zunächst etwas barsch, soll aber sicher heißen, dass es keinen Sinn macht, lange darüber zu sprechen, wie die Schwalben zwitschern, sondern dass man dies am besten direkt hört, erlebt und erfährt. Es sei nicht sinnvoll, sich in dieser Situation komplizierte Gedanken zu machen und sich feinsinnig und vielleicht sogar spitzfindig darüber zu unterhalten, wenn die Wirklichkeit der zwitschernden Schwalben unmittelbar erfahren wird. Man sollte also den Schwalben genau zuhören, sich öffnen und mit ihrer Wirklichkeit verschmelzen und keine ablenkenden und störenden Unterhaltungen pflegen. Die Aufforderung „Geh fort!“ kann also auch bedeuten: „Komme zur Wirklichkeit im Hier und Jetzt der jungen zwitschernden Schwalben und dieses wunderbaren Sommertages!“

Am Ende des Kapitels fasst Dōgen die Kernpunkte zusammen: „Denkt daran, die wirkliche Form ist das wahre Lebensblut, das vom rechtmäßigen Nachfolger empfangen und an den authentischen Nachfolger weitergegeben wurde. Alle Dharmas sind der vollständig verwirklichte Zustand der Buddhas allein, zusammen mit den Buddhas. Und der Zustand der Buddhas allein, zusammen mit den Buddhas, ist die Schönheit der Form wie sie ist.“

Auch wenn Buddha die fünf Komponenten in seiner Lehre dargestellt hat, kann eine nur theoretische Unterteilung des Menschen in fünf gesonderte Komponenten die wunderbare Welt nicht annähernd beschreiben. Buddhas Lehre würde sonst zu der hohlen Hülle einer Doktrin reduziert und hätte keine verändernde und verwandelnde Kraft.



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 3, S. 116ff.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 4, S. 89ff.