Meister Dōgen baute seine buddhistische Lehre auch
auf dem Lotos-Sūtra auf, dem er im
Gegensatz zum landläufigen Verständnis eine neue Bedeutung und Tiefenschärfe
gab. Er interpretierte es nicht als wundergläubigen Volksbuddhismus, sondern
auf der Grundlage des Chan-Buddhismus und Nāgārjunas Mittlerem Weg. Im Kapitel
„Die Dharma-Blume (der Wahrheit) dreht die Blume der Dharma-Welt“ und in diesem
Kapitel über die Form ist es ihm in großartiger Weise gelungen, die
Wirklichkeit und das Universum selbst in Worte zu fassen, soweit dies überhaupt
möglich ist. Zweifellos hatte er damit einen inneren Widerspruch zu bewältigen,
weil die Wirklichkeit und Wahrheit nicht erschöpfend mit Worten beschrieben
werden können, da sie über Beschreibungen hinausgehen. Aber der verbale
Ausdruck ist andererseits unbedingt notwendig, um den Buddha-Dharma lehren und
übermitteln zu können. Im Kapitel über das
Lotos-Sūtra werden vor allem die Großartigkeit, Schönheit und Realität des
Universums geschildert, und es wird erläutert, dass die Wirklichkeit dieser
Welt einer wunderbaren Lotosblume gleicht. Diese Schönheit ist das, was wir als
Form direkt sehen, und nicht eine weit entfernte erträumte Welt ohne reale
Form. Die Welt dreht sich und ist somit in dauernder Bewegung, also keinesfalls
statisch und festgelegt, und das Leben ist dauernd in Entwicklung und Bewegung.
Das ist genau das Thema des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung.
Die Wirklichkeit und deren Formen
Im Kapitel Shohō
jissō beschreibt Dōgen die Wirklichkeit umfassend in einem gewaltigen Wurf,
und gleichzeitig arbeitet er heraus, was er unter „Dharma“ versteht. Dieser
Begriff ist für das westliche Denken nicht einfach zu fassen, denn er bedeutet
sowohl die buddhistische Lehre als auch die Wirklichkeit des Lebens und
Universums selbst. In diesem Sinne lässt sich Dharma übersetzen mit der Formulierung „Dinge und Phänomene“, meint
also diese ganz konkrete Welt. Damit wird die unauflösbare Verbundenheit auch
mit der konkreten Form hervorgehoben. Und vor Dōgen hat Nāgārjuna präzise
bewiesen, dass die Dharmas nicht nach dem Substantialismus der Statik
verstanden werden können.
Häufig wird der Begriff in der Pluralform verwendet –
Dharmas –und bezieht sich dann genau auf die einzelnen Dinge und Phänomene der Wirklichkeit,
also auf die unendliche Vielfalt der Welt und des Lebens. Seit einiger Zeit
wird dies nach Luhmann auch die „unendliche Komplexität“ der Wirklichkeit
genannt. Dazu gehören materielle Dinge und äußere Formen, aber auch Gedanken,
Bilder, Ideen und deren prozesshafte Vernetzungen. Darüber hinaus bezeichnet
der Begriff „Dharmas“ den Sinn, die Bedeutungen und die Bewertungen der
Phänomene. Diese würden wir heute überwiegend dem psychischen Bereich oder der
Seele zuordnen.
Der japanische Titel dieses Kapitels enthält das Wort
sho, das „Vielfalt“, „alles“ und
„Vielfältiges“ bedeutet. Der Begriff hō
bezeichnet die Dharmas, also sowohl physische Dinge als auch geistige Phänomene
und Prozesse. Jitsu bedeutet
„wirklich“ und „real“, und das Wort sō heißt „Form“. Daher lautet die
wörtliche Übersetzung des Titels: „Alle Dinge und Phänomene sind wirkliche
Form.“ Diese wirklichen Formen gehen über die äußerliche Sichtweise der
Materialisten hinaus, die nur das rein Materielle und die äußere Form als
Wirklichkeit anerkennen und damit nur einen Teil der buddhistischen Realität
erfassen können. In der Buddha-Lehre werden
das Handeln, der Augenblick, die Veränderung und das Entstehen sowie der
höchste Zustand des Erwachens als große Wirklichkeit in der Welt verstanden und
gelebt. Diese umfasst alle Lebensdimensionen und übersteigt sie gleichzeitig. Dōgen beschreibt diese Wahrheiten in
einem anderen großartigen Kapitel über die Verwirklichung des Universums, der
Welt und des Menschen (Kapitel 3, Genjō kōan). Dort
entwirft er eine groß angelegte Gesamtlehre des Buddhismus und der Wirklichkeit
auf der Grundlage des von ihm durch den wahren authentischen Buddhismus neu
gedeuteten Lotos-Sūtra.
Viele verstehen das Lotos-Sūtra als die Beschreibung
einer wunderbaren, idealen Welt, die aus Edelsteinen, Gold, Silber, Blumen,
wunderbaren Düften, schöner Musik und prachtvollen Farben besteht, zum Beispiel
das erträumte Nirvāna des Volksbuddhismus. Man könnte daher glauben, dass es
sich um eine idealisierte Welt ohne Hässlichkeit, Böses, ohne Abgründe, ohne
Verbrechen und ohne Betrug handelt und dass diese der „bösen“ Realität
gegenübergestellt wird. Dōgen versteht das Lotos-Sūtra jedoch grundlegend
anders: Er sagt, dass gerade die konkrete Wirklichkeit selbst von wunderbarer
Schönheit und Ausgeglichenheit ist und dass der höchste Zustand des Erwachens,
also die Erleuchtung, jedem zugänglich ist. Damit sind die Schilderungen im
Lotos-Sūtra keine verklärten Bilder eines jenseitigen Paradieses, hoch
geschraubter Doktrinen und einer anderen idealen, gedachten und erträumten
Welt, sondern sie sind die in Worte gefassten Gleichnisse unserer Wirklichkeit,
unseres Universums und unseres eigenen Lebens im Hier und Jetzt. In einer
solchen Realität wird der Gegensatz von äußerer
Form und innerem Sinn aufgehoben,
denn dieser besteht nur im Denken, in Illusionen und theoretischen
Überlegungen. Form und Sinn sind unauflösbar miteinander verbunden, ohne jedoch
eine triviale totale Identität oder ein depressives Nichts damit zu verknüpfen.
Dōgen setzt wie im Lotos-Sūtra die wirkliche Form mit den Dharmas, also der
Vielfalt der Welt, gleich. Er beschreibt alle Dharmas als Form, Natur, Körper,
Geist, Welt, Wolken und Regen und ergänzt: „so wie sie sind“. Sie sind
gleichzeitig auch Handeln: Gehen, Stehen, Sitzen und Niederlegen, so wie dieses
Handeln eben ist. Auch Sorge und Freude, Bewegung und Ruhe sind die wirklichen
Dharmas „wie sie sind“. Das ist eine beachtliche Übereinstimmung mit Nāgārjunas
Mittlerem Weg. Weiterhin gehören dazu die Gegenstände der buddhistischen
Zeremonien, nämlich der Zen-Stab und der Fliegenwedel, und zwar genau so „wie
sie sind“. Dōgen zählt dazu auch die sich drehenden Blumen, das lächelnde
Gesicht, die Weitergabe des Dharma sowie dessen Bestätigung „so wie sie sind“. Er
erwähnt weiterhin das Lernen in der Praxis und das Streben nach der Wahrheit,
genau so „wie sie sind“. Schließlich fügt er die Dauerhaftigkeit der Pinien und
die Reinheit des Bambus hinzu, „so wie
sie sind“. Die Formulierung „so wie es ist“ oder „so wie sie sind“ heißt frei
von Doktrinen und Ideologien, also „leer“.
Dōgen beschreibt unsere Welt als die Wirklichkeit der
Dharmas, sowohl Dinge und materielle Gegebenheiten als auch Handlungen,
psychische Bereiche wie Sorgen und Freude, Gegenstände der buddhistischen
täglichen Zeremonien, aber auch die übermittelten Wahrheiten des Buddha-Dharma
wie das Drehen der Dharma-Blume und das Lächeln im Gesicht der Menschen. Das
Streben und die Suche nach der Wahrheit sowie das praktische Lernen und
Studieren der buddhistischen Lehre sind genauso enthalten wie die wunderbare
Natur der Pinien und des Bambus. Psychische Phänomene und der Sinn des Lebens
besitzen bei Dōgen wie die Form also die unbestrittene Qualität der
Wirklichkeit. Und dies unterscheidet die
buddhistische Sichtweise fundamental vom Lebensverständnis der Materialisten
und Idealisten.
Dōgen zitiert dann Shākyamuni Buddha aus dem Lotos-Sūtra:
„Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können direkt vollkommen
verwirklichen, dass alle Dharmas wirkliche Formen sind. Was ‚alle Dharmas’
genannt wird, sind Formen wie sie sind, die Natur wie sie ist, der Körper wie
er ist, die Energie wie sie ist, das Handeln wie es ist, die Ursachen wie sie
sind, die Bedingungen wie sie sind, die Wirkungen wie sie sind, die Ergebnisse
wie sie sind und der höchste Zustand des Gleichgewichts, des Wesentlichen und
der Einzelheit wie sie sind.“
Die Formulierung „wie es ist“ oder „wie sie sind“
soll den direkten Bezug zur Wirklichkeit herstellen und geht über Worte, Denken
und Doktrinen hinaus. Dōgen zeigt mit seinen Aussagen also direkt auf diese
Wirklichkeit, gerade auch die der Formen. Er schildert, dass sich der höchste
Zustand des Erwachens und des Gleichgewichts als Offenbarung und Ausdruck der
wahren Natur der Dharmas äußert. Sie sind dann ohne Verzerrungen und
Verkürzungen als wirkliche Form klar und intuitiv erfassbar. Dabei wird nichts
weggelassen und nichts hinzugefügt. Dōgens tiefes Verständnis der Form ist
genau das Gegenteil eines absoluten Nichts, sei es depressiv oder
schwärmerisch.
Anschließend betont Dōgen, dass die wirkliche Form
aller Dharmas auch die Bedeutung der Formulierung hat, „die Buddhas (Erwachte)
allein zusammen mit den Buddhas (Erwachten)“ können dies vollständig erfahren.
Das heißt, dass die Buddhas und die erwachten Vorfahren im Dharma, also die
großen Meister in Indien und China, für sich und zusammen dies alles und auch
die Formen tiefgründig erkennen und verwirklichen. Er hebt hervor, dass wir
dies nicht nur als eine Beschreibung des Materiellen verstehen sollen, sondern
als die Wirklichkeit selbst. Die Form soll dabei nicht so gesehen werden, als
ob sie ohne Sinn und Bedeutung sei, aber es gehe auch nicht allein um das
„Wesen und die Essenz“, die formlos und unabhängig von der Materie seien: „Wir
bezeichnen den Zustand, in dem alle Dharmas wirklich alle Dharmas sind, als die
Buddhas allein zusammen mit den Buddhas,
und nennen dies den Zustand, in dem alle Dharmas genau wirkliche Formen sind.“
Damit wird die Ganzheit der Wirklichkeit, des
Universums, der Welt und des Lebens mit den Buddhas ausgedrückt. Dann sei die
wirkliche Form nur die wirkliche Form selbst und fei von Doktrinen. Wenn die
Buddhas in dieser Welt allein und zusammen mit Buddhas erscheinen, ereignen
sich das Lehren, die Praxis und die Erfahrung, dass alle Dharmas die wirklichen
Formen sind. Dōgen fügt hinzu, dass
dabei der Augenblick je im Hier und Jetzt die vollkommene Wirklichkeit ist: Wahre Form gibt es nur im Erleben des
Augenblicks.
Kausalität, Ursache und Wirkung
Dōgen distanziert sich von der Vorstellung, dass
Ursachen, Bedingungen und Wirkungen immer nur ein gedachter philosophischer
Zusammenhang seien. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass häufig
gerade die wirklichen Ursachen und deren Vernetzung weitgehend unklar sind und
scheinrationale Ursachen in unserem Bewusstsein vorherrschen. Hier zeigen sich
wichtige Zusammenhänge mit der Lehre von Sigmund
Freud, der die Heilung der Psyche dadurch in Gang bringt, dass sich der
Patient der ungeschminkten Wirklichkeit stellt, seine Verdrängungen auflöst und
zusammen mit dem Therapeuten eine falsche Verursachung oder Verdrängung der
Realität überwindet. Dabei kommen Scheinrealitäten zur Ruhe. Die tatsächlichen Zusammenhänge von Ursachen und
Wirkungen weichen oft grundsätzlich von den Vorstellungen und subjektiven
psychischen „Wahrheiten“ der Menschen ab. Dies sichert zwar laut Freud ein
kurzfristiges Überleben im Alltag, bleibt aber als psychische Krankheit
schädigend erhalten und muss in einem schmerzhaften Lernprozess zusammen mit
dem Therapeuten bewältigt werden.
Dōgen arbeitet den Unterschied zwischen einem
vorgestellten bzw. ausgedachten Zusammenhang von Ursache und Wirkung und deren
Wirklichkeit heraus. In einem anderen Kapitel[ii] erklärt
er, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung mit der buddhistischen Theorie des
Handelns im Augenblick keinesfalls im Widerspruch steht, was allerdings von
manchen Zen-Buddhisten und sogar von Lehrern leider bisweilen behauptet wurde
und wird.
Weil diese Wirkungen, Formen, die Natur, der Körper
und die Energie direkt miteinander verbunden sind, ist dies die wirkliche Form.
Weil diese Wirkungen die Formen, die Natur, den Körper und die Energie nicht
beschränken, sind sie wirkliche Formen. Die Aussage „Formen wie sie sind“
bedeutet nicht eine einzelne Form, aber auch keine abstrakte Verallgemeinerung,
sondern dass dies nicht einfach zählbar ist, ohne Grenzen ist und nicht
vollständig in Worten auszudrücken. Es ist die Wirklichkeit selbst.
Maßeinheiten wie 100 oder 1.000 sind ebenfalls nicht brauchbar. Dōgen sagt
hierzu:
„Wir sollten als Maß (nur) das Maß aller Dharmas
verwenden, und wir sollten als Maß (nur) das Maß der wirklichen Form
gebrauchen. Der Grund ist, dass die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas
vollständig verwirklichen können, dass alle Dharmas wirkliche Form sind.“ Und
er führt weiter aus: „Weil die Existenz der Wahrheit so wie diese ist, sind die
Buddha-Länder der zehn Richtungen nur allein die Buddhas zusammen mit den
Buddhas.“ Und dies gelte für alle und sogar für deren Hälfte, also immer und in
jedem Fall.
Die Wirklichkeit des Menschen und seiner Komponenten
In diesem Kapitel geht es Dōgen in ganz besonderer
Weise darum, die Wirklichkeit des Menschen und seiner fünf Komponenten, der
Skandhas, selbst anzusprechen und nicht in abstrakten Überlegungen, Theorien
und Worten hängen zu bleiben. Dabei wird die Unterscheidung von Subjekt und
Objekt aufgehoben, so als ob ein „Mensch sich selbst gespiegelt im Wasser sieht
und das Spiegelbild den Menschen sieht“. Das ist die Wechselwirkung der
Wirklichkeit. Dōgen bezieht dann die Dharma-Übertragung und Bestätigung mit ein
und stellt fest: „Die Buddhas empfangen zusammen den Dharma zum Guten für die
Buddhas, die zusammen sind.“ Dies gilt für Leben-und-Sterben sowie
Kommen-und-Gehen, die damit wirklich existieren.
„Auf dieser Basis existiert das Streben des Geistes,
der Übung und von Leben und Nirvāna“, betont er. Dabei erfassen wir diese
Wirklichkeit und halten sie fest und lassen sie ein andermal wieder los: „Mit
diesem Lebensblut öffnen sich die Blumen und reifen die Früchte. Mit diesen
Knochen und diesem Mark existieren Mahākāshyapa und Ānanda. Die Formen des Windes und des Regens, des Wassers und des Feuers
wie sie sind, sind die vollkommene Verwirklichung von sich selbst.“
Nach Dōgen wandeln wir das Gewöhnliche und das
Heilige auf der Grundlage dieser konkreten Körper-Energie um. Dies gilt auch
für die ganz realen Wirkungen-und-Ursachen, die nicht voneinander getrennt
werden können. Wir überschreiten dann sogar die Buddhas und Vorfahren im
Dharma. Durch diese unmittelbaren Ursachen-und-Wirkungen wird der Erdboden in
Gold umgewandelt. In gleicher Weise wird der Dharma übermittelt und die Robe
weitergegeben.
Dōgen zitiert dann Gautama Buddha aus dem Lotos-Sūtra,
der davon spricht, dass wir „das Siegel der wirklichen Form für die anderen
Menschen lehren“. Damit ist das umfassende und intuitive Lehren, Zuhören und
Verstehen gemeint, wenn wir „mit den Augen hören“ und mit den „Ohren sehen“.
Hiermit wird auch unterstrichen, dass es nicht um das angehäufte Wissen für
sich selbst geht, sondern dass die Lehre für die anderen wesentlich ist, um sie
auf den Buddha-Weg zu führen.
Den höchsten Zustand und die Verwirklichung selbst
setzt Dōgen mit dem Lotos-Sūtra gleich, denn in diesem Sūtra gehe es nicht um
erbauliche Geschichten und märchenhafte idealisierte Welten, sondern es
ermögliche den Handelnden, dass sie die „geschickten Mittel“ eines Bodhisattva
zur Verfügung haben und anderen damit helfen. Dōgen zitiert Shākyamuni Buddha:
„Das höchste und vollkommene Erwachen (Anuttara samyak-sambodhi) aller
Bodhisattvas ist ganz mit diesem Sūtra verbunden. Dieses Sūtra öffnet das Tor
der geschickten Mittel.“
Bodhisattvas sind nach Dōgen „nicht zwei Menschen,
sie sind jenseits vom Selbst und von anderen. Sie sind auch keine
Persönlichkeiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern Buddha zu
werden ist ihr Dharma-Verhalten, indem sie den Bodhisattva-Weg praktizieren.“
Er betont, dass die Buddhas und Bodhisattvas immer weiter praktizieren und sich
damit von den gewöhnlichen Menschen unterscheiden. Er bezeichnet die „geschickten Mittel“ als Tor des
Lernens und der Praxis des ganzen Universums und nicht als etwas
Vorübergehendes und Ausgedachtes. Schließlich hält er fest: „Obgleich dieses
Tor der geschickten Mittel sich so offenbart, dass es das ganze Universum der
zehn Richtungen mit dem (wirklichen) Universum der zehn Richtungen abdeckt,
sind jene, die sich von allen Bodhisattvas unterscheiden, nicht in deren
Weltraum.“
Dōgen bedauert, dass in den vorhergehenden 200 bis
300 Jahren viele falsche Lehrer den wahren Kern des Lotos-Sūtra weder erfasst
hatten noch richtig lehren konnten. Es verflachte deshalb zu einem Buch des
wundergläubigen Volksbuddhismus. Oft hätten sie die Form vom Inhalt und Sinn
abgetrennt und damit die wirkliche Form vollständig missverstanden. Nāgārjuna
und Dōgen betonen übereinstimmend die
Ganzheit und Verbundenheit von Inhalt und Form und verwerfen eine
Unterscheidung, die weder dem Inhalt noch der Form gerecht werde.
Dann zitiert und kritisiert Dōgen den Zen-Meister O-an Donge, der 1163 starb, also bereits
einer späten Phase des chinesischen Buddhismus angehörte. O-an Donge lehrte
einen Mönch auf falsche Weise folgendermaßen:
„Wenn du auf einfache Weise (den Buddha-Dharma)
verstehen willst, beobachte 24 Stunden (des Tages) lang nur den Zustand, wie
der Geist erscheint und sich die Bilder bewegen.“ Weiter sagte er: „Außerdem
ist dies ohne räumliche Form und Abgrenzung. Außen und Innen sind eine Einheit
(…). Diejenigen, die diesen Zustand erreicht haben, heißen Menschen, die in der
Wahrheit leicht und unbeschwert sind, die aufgehört haben (Kompliziertes) zu
studieren, und frei in ihrem Tun sind.“
Dōgen kritisiert Meister O-an in aller Härte. Er habe
sich zwar bemüht, das Wesentliche der wirklichen Form und des Buddha-Dharma
auszudrücken, sei aber dabei keineswegs zum Kern vorgestoßen. Das Beobachten
der kommenden und gehenden Gedanken und der aufsteigenden und vergehenden
Bilder im Geist sei nicht die volle Wirklichkeit der fünf Komponenten des
Menschen. Genauso sei die Formulierung „Außen und Innen“ missverständlich, da
sie die umfassende Wirklichkeit nicht beschreibe. Auch die Zeitstrecke von 24
Stunden eines Tages entspräche nicht der Wirklichkeit des Augenblicks im Hier
und Jetzt, sondern sie sei an Vorstellungen von der linearen Zeit und an
erlernte Denkgewohnheiten gebunden. Trotzdem lobt er schließlich doch Meister
O-an, da dieser im Gegensatz zu vielen anderen Lehrern seines Zeitalters
wenigstens einen Teil der Wirklichkeit von der wahren Form gelehrt habe.
Am Ende des Kapitels zitiert Dōgen noch ein Gedicht
seines eigenen Meisters Tendō Nyojō, des „ewigen
Buddha“:
„Es gibt (sanfte) Kälber heute Nacht auf dem Berg
Tendō.
Gautamas goldenes Antlitz offenbart wirkliche Form.
Wie könnten wir dessen unermesslichen Wert begleichen, wenn wir es erwerben
wollten?
Der Ruf des Kuckucks, darüber eine einzelne Wolke.“
Der Ausdruck „sanfte Kälber“ wurde für die
friedlichen Mönche verwendet, die sich im Kloster von Tendō Nyojō in der
wunderbaren Sommernacht versammelt hatten. Der Kuckuck ruft unmittelbar und
wird von allen direkt als Wirklichkeit wahrgenommen. Er ist Teil der wirklichen
Form, die beim Hören nicht auf die sinnliche Wahrnehmung der Ohren beschränkt
ist.
Es folgt eine Kōan-Geschichte von Meister Gensa. Als dieser die jungen Schwalben
des Klosters zwitschern hörte, sagte er: „(Dies ist) die tiefgründige Lehre und
Sprache der wirklichen Form, und sie lehrt hervorragend den wahren Kern des
Dharma.“ Danach stieg er von seinem Meister-Sitz herab. Aber ein Mönch
erwartete noch weitere bedeutungsvolle Erklärungen von ihm und sagte: „Ich
verstehe nicht.“ Der Meister
antwortete: „Geh fort! Niemand glaubt dir.“
Was soll damit ausgedrückt werden? Die Aussage des
Mönchs, dass er nicht verstehe, was der Meister gesagt hat, kann bedeuten, dass
er im Buddha-Dharma noch nicht kundig ist, weil er die unmittelbare Schönheit
und Wahrheit der Schwalben nicht „verstanden“ hat. Es könnte aber auch
umgekehrt bedeuten, dass er die Grenzen des intellektuellen Verstehens und
unterscheidenden Denkens bereits erfahren hat und damit einen wesentlichen
Bereich des Buddha-Dharma erfasst hat. Die Reaktion des Meisters, „Geh fort!“,
erscheint zunächst etwas barsch, soll aber sicher heißen, dass es keinen Sinn
macht, lange darüber zu sprechen, wie die Schwalben zwitschern, sondern dass
man dies am besten direkt hört, erlebt und erfährt. Es sei nicht sinnvoll, sich
in dieser Situation komplizierte Gedanken zu machen und sich feinsinnig und
vielleicht sogar spitzfindig darüber zu unterhalten, wenn die Wirklichkeit der
zwitschernden Schwalben unmittelbar erfahren wird. Man sollte also den
Schwalben genau zuhören, sich öffnen und mit ihrer Wirklichkeit verschmelzen
und keine ablenkenden und störenden Unterhaltungen pflegen. Die Aufforderung
„Geh fort!“ kann also auch bedeuten: „Komme zur Wirklichkeit im Hier und Jetzt
der jungen zwitschernden Schwalben und dieses wunderbaren Sommertages!“
Am Ende des Kapitels fasst Dōgen die Kernpunkte
zusammen: „Denkt daran, die wirkliche Form ist das wahre Lebensblut, das vom
rechtmäßigen Nachfolger empfangen und an den authentischen Nachfolger weitergegeben
wurde. Alle Dharmas sind der vollständig verwirklichte Zustand der Buddhas
allein, zusammen mit den Buddhas. Und der Zustand der Buddhas allein, zusammen
mit den Buddhas, ist die Schönheit der Form wie sie ist.“
Auch wenn Buddha die fünf Komponenten in seiner Lehre dargestellt hat, kann eine nur theoretische Unterteilung des Menschen in fünf gesonderte Komponenten die wunderbare Welt nicht annähernd beschreiben. Buddhas Lehre würde sonst zu der hohlen Hülle einer Doktrin reduziert und hätte keine verändernde und verwandelnde Kraft.