Im Kapitel Soko shin ze butsu des Shōbōgenzō grenzt Dōgen die buddhistische Lehre von der altindischen Philosophie und Doktrin des unveränderlichen ātman ab, die zur Zeit Gautama Buddhas beispielhaft von dem Brahmanen Senika vertreten wurde.[i] Mehrere Streitgespräche zwischen Buddha und Senika stellen die wesentlichen Kernpunkte der damals neuen buddhistischen Lehre der Veränderlichkeit und Wechselwirkung sowie den Befreiungsweg treffend dar und zeigen die Unterschiede zur Lehre des Brahmanismus und auch des falsch verstandenen Buddhismus auf.
Senika vertrat den Glauben, es
gebe einen ewigen unveränderlichen Seelenkern, eine unveränderliche Existenz
oder einen essenziellen unveränderlichen Geist im Menschen. Ein solcher
substantialer, aber unsichtbarer Kern sei vom jeweiligen Körper unabhängig und
würde durch die verschiedenen Wiedergeburten als unsichtbare unveränderliche Ich-Substanz von einem Körper zum
anderen wandern. Dies sei die einzige große Wahrheit, die man leicht verstehen
und erkennen könne, und allein durch diese Lehre
vom ewigen unveränderlichen Geist würde man ohne Mühe und ohne anstrengende
Übungspraxis sofort frei und glücklich
werden. Das klingt wirklich verführerisch! Laut Senika kann diese unveränderliche
Geist-Substanz zwischen Leid und Freude, Wärme und Kälte, Schmerz und
Verwirrung unterscheiden. Sie sei vom Körper völlig unabhängig, absolut
selbstständig und könne ohne Schwierigkeiten durch Wände und Materie wandern.
Sie würde also nicht durch irgendwelche Dinge, zum Beispiel durch Materie und
die materielle Umgebung, eingeschränkt oder behindert.
Senika zufolge durchdringt ein
solcher ewiger Geist-Kern sowohl die
Seelen der normalen als auch der heiligen Menschen. Habe man erst einmal das ganze
Wissen dieses unveränderlichen selbstständigen Geistes erlangt, so sagt er,
dann gäbe es keine Täuschungen mehr über Körper und Seele und keine Irrwege.
Man erlange absolutes umfassendes Wissen, sei also allwissend. Dann sei man
sofort und ohne Anstrengung frei und müsse nicht mehr leiden. Dadurch könne man
auch sein eigenes ursprüngliches,
spirituelles Ich-Bewusstsein klar erkennen. Diese geistige Essenz sei ewig
und durchdringe alle Welten und alle Zeiten. Demgegenüber seien die Dinge
dieser Welt und des Universums vergänglich, sie würden kommen und gehen und hätten
keine Beständigkeit. Letztlich seien sie sekundär und auch von geringerem Wert.
Man könne diese Geist-Essenz
auch das spirituelle Bewusstsein oder
das wahre Selbst nennen. Wer diese ursprüngliche Essenz durch das große
Wissen erlangt hat, kann gemäß Senikas Lehre in die Ewigkeit zurückkehren und ist
nicht mehr gezwungen, im Kreislauf der Welt erneut unter Leiden wiedergeboren
zu werden. Wenn dann der Geist in die
Ewigkeit eingehe, sei der Leidenskreislauf
von Leben und Tod endgültig beendet, und die Geist-Substanz gehe im unendlichen
Ozean in der Essenz auf. Dies sind die Kernaussagen und der Glaube des
Brahmanen.
Was sagt nun Meister Dōgen dazu,
und wie kennzeichnet er demgegenüber die Lehre des Buddha-Dharma? Im achten
Jahrhundert n. Chr. hatte der Buddhismus in China seine Blütezeit erreicht, die
wesentlich auf den großen Meister Daikan
Enō (Hui Neng) zurückzuführen ist, der ein sechster Nachfolger in China
war. Die Kultur im nördlichen China hatte im Buddhismus einen besonders hohen
Stand erreicht und unterschied sich damit von dem weniger entwickelten Süden,
der damals auch Teile von Kambodscha und Vietnam umfasste. Dōgen berichtet, dass der
Buddhismus im Süden weniger klar gewesen sei als im Norden und dass die
Lehrmeinungen der sogenannten Meister oft der Lehre des Brahmanen Senika
insofern bedenklich nahe gekommen seien, als der Geist oder die geistige Essenz einfach mit Buddha gleichgesetzt
wurde. Dōgen lehnt diese Lehre mit Nachdruck ab und erläutert dies anhand des
berühmten Satzes „Der Geist hier und
jetzt ist Buddha“. Es geht ihm dabei nicht um Glauben, Wünsche, abstrakte
Vorstellungen und eine unsichtbare Geist-Essenz, sondern um die reale Wirklichkeit
hier und jetzt, ob wir sie nun mögen oder nicht. Aber diese Wirklichkeit können
wir entscheidend mitgestalten. Und eine Flucht aus der Wirklichkeit in schöne
Wunschträume oder unbeherrschbare Ängste sei vor allem eine Ursache für das
Leiden und die Schmerzen der Menschen. Dies betont nicht zuletzt auch der
Psychologe Sigmund Freud.
Was bedeutet nun der zitierte
Satz, dass der Geist hier und jetzt Buddha sei? In der Aufzeichnung eines
Gesprächs des Nachfolgers von Meister Daikan Enō, der den Ehrennamen großer
Landesmeister Daishō hatte und den
Dōgen sehr hoch schätzte, wird die falsche oder zumindest sehr ungenaue Lehre
des Buddha-Dharma aus dem Süden Chinas anhand der Aussagen eines reisenden
Buddhisten wiedergegeben. Dieser erläuterte dem großen Landesmeister, dass die
Dharma-Lehrer im Süden sagten, der Satz „Der
Geist hier und jetzt ist Buddha“ kennzeichne nur das Bewusstsein, aber nicht den Körper. Geist und Bewusstsein werden
also gleichgesetzt und so konzipiert, dass sie vom Körper getrennt sind. Der
Körper habe nur untergeordnete Bedeutung.
Ein solches Bewusstsein habe
nach dieser Lehre die wesentliche Eigenschaft, dass es die Essenz des Sehens, Hörens, Wahrnehmens und des Wissens sei. Es
steuere dabei exakt alle Handlungen des Menschen und vor allem sein Denken und
werde daher auch das „wahre, allumfassende Wissen“ genannt. Die Handlungen und
der Körper folgten mit absoluter Genauigkeit diesem Geist. Ein Mensch, der dies
erreicht habe, sei daher allwissend.
Dieses umfassende Wissen sei der große Buddha, und außer diesem wunderbaren
Wissen gäbe es nichts anderes. Das Wissen sei also gemäß dieser Lehre das Höchste und zugleich die Essenz des Universums, und alles andere
wie die Materie und der Körper seien dem untergeordnet und weniger wichtig. Der
Geist und dieses Wissen seien unvergänglich
und verlassen den Körper nach dem Tod. Dies gleiche einem Menschen, der einfach
aus seinem brennenden, unbrauchbaren Haus fortgeht, oder einer Schlange, die
sich häutet und die alte Haut zurücklässt, um eine neue zu benutzen.
Nach diesen Erläuterungen des
Mannes aus dem Süden Chinas sah der große Landesmeister Daishō seine Meinung bestätigt, dass dort irrige Lehren des
Buddha-Dharma verbreitet würden. Er bedauerte, dass dadurch die Schüler der
jeweiligen sogenannten Meister in unklarer Weise unterrichtet würden und eine
völlig falsche Richtung auf dem Buddha-Weg einschlagen müssten. Damit sei der
wahre Buddha-Dharma im Süden verloren gegangen, und die Schüler seien in großer
Gefahr, da die Überwindung des Leidens völlig verstellt sei. Im Gegensatz dazu überschreite die wahre Lehre gerade das
Wissen, das Bewusstsein und die sinnlichen Wahrnehmungen wie Sehen, Hören,
Fühlen usw. Allein mit dem intellektuellen Verstand oder mit unseren
Sinnesorganen könnten wir die viel zu engen Grenzen des Denkens nicht
überschreiten und hätten keinen Zugang zum wahren Buddha-Dharma. Die Lehre des
Südens sei also das eigene zweifelhafte Wunschdenken,
der einseitige subjektive Glaube und
die Doktrin der dortigen Meister. Diese können die große unfassbare Wahrheit nicht annähernd ausloten, die von Gautama
Buddha und den großen Vorfahren im Dharma gelehrt und übermittelt wurde.
Nishijima Roshi bezeichnet den
Bereich des Denkens und der Ideen als Idealismus und den Bereich der
Wahrnehmung und der Sinnesreize als Materialismus. Beide Lebensphilosophien
sind für sich genommen zwar nicht ganz falsch, solange sie nicht verabsolutiert
und dogmatisch verhärtet sind, aber sie sind einseitig und eindimensional und können der Vielfalt des wunderbaren wirklichen
Lebens im Universum und dessen umfassender Wahrheit nicht gerecht werden. Wer
sich also in seinem Leben nach einer dieser beiden einseitigen
Lebensphilosophien richtet, wird nicht aus dem dauernden Kreislauf des Leidens
und der oberflächlichen Scheinfreuden herauskommen, seien sie ideell oder
materiell. Er klammert sich an einen Strohhalm, der bei ehrlicher Betrachtung
überhaupt nicht tragen kann. Daher muss nach Nishijima Roshi unbedingt die
dritte Lebensphilosophie des ethischen Handelns im Hier und Jetzt, also im
gegenwärtigen Augenblick, hinzukommen. Die vierte, höchste buddhistische Lebensphilosophie
umfasst dann die drei bereits genannten, geht aber darüber hinaus und wird Erwachen, Erleuchtung oder auch Leerheit
genannt. Auf dieser höchsten Stufe gibt es die unbedingte Ganzheit und Harmonie
mit der Ethik und den Gesetzen des Universums.
Wenn man den Geist nur im Sinne
des Idealismus, also als Idee, und daher in einer sehr begrenzten Dimension
versteht, kann auch der Satz „Der Geist
hier und jetzt ist Buddha“ nicht mehr umfassend verstanden werden. Hier bedeutet räumlich genau an diesem
Ort, und jetzt bedeutet genau in
diesem Augenblick. Dieser Ansatz ist auch die zentrale Aussage des Sūtra der Grundlagen der Achtsamkeit.
Geist und Buddha sind nicht unabhängig von Raum und Zeit. Der Buddha-Dharma ist
die Einheit von Theorie und Praxis und umfasst damit auch das Handeln und die
Übungspraxis des Zazen im Hier und Jetzt. Er ist unauflösbar mit der Ethik
verbunden und beinhaltet die Gegebenheiten der Wirklichkeit und Wahrheit, so wie sie sind. Der Buddha-Dharma
überschreitet die ideologischen Extreme von „es ist“ oder „es existiert“ und „es
ist nicht“ oder „es existiert nicht“. Dabei wird nichts durch
Glaubensfantasien, spekulatives Denken und Illusionen hinzugefügt, aber auch
nichts weggenommen, ausgewählt und selektiert.
Dies wird im Buddhismus mit
einem klaren Spiegel verglichen, der alles reflektiert, was vor ihm erscheint,
ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Es ist sicher kein Geheimnis, dass
die Flucht der Menschen vor der
Wirklichkeit und Wahrheit die Ursache der meisten geistigen und psychischen
Leiden ist, die wir in der heutigen Zeit leider genauso beobachten wie früher.
Dabei spielen die Massenmedien mit ihrer Berichterstattung und Werbung eine
fatale Rolle. Auch die narzisstische
Grandiosität des Ich ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Betroffenen
haben den Zugang zur psychischen und sozialen Wirklichkeit verloren und leiden
erheblich. Gautama Buddhas Lehre führt hinaus aus diesem Kreislauf des Leidens
und öffnet uns für die umfassende Wirklichkeit.
Den wahren Buddha-Geist können
wir also durch Denken allein nicht erfassen, sondern müssen ihn handelnd und
meditierend erfahren und erforschen, wobei uns das Streben nach der Wahrheit
wie ein Kompass auf den richtigen Weg führt. Dieser Geist ist weit mehr als das
Denken, denn er umfasst laut Dōgen auch die Wirklichkeit des Bambus, der Berge,
Flüsse, der Erde, der Sonne, des Mondes und der Sterne, also auch der Dinge,
die wir im Allgemeinen nur als Form und aus materialistischer Sicht betrachten.
Dieser im Buddhismus gemeinte umfassende Geist ist also das Leben und Sterben
selbst, ist das Kommen und Gehen, die Zazen-Praxis und das alltägliche Leben.
Der Zen-Buddhismus lehrt ganz klar, dass wir lernen müssen, unsere Vorstellungen,
Ideen, unser Denken und unsere Begriffe von der Wirklichkeit selbst zu
unterscheiden und beides nicht miteinander zu verwechseln. Dōgen sagt daher:
„Wenn wir den Willen (zur Wahrheit)
niemals erweckt, das Praxis-Training niemals durchlaufen, den Bodhi-Geist
niemals (verwirklicht) und Nirvāna niemals (erfahren) haben, dann gibt es
keinen (Zustand) ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“
Dieser Wille zur Wahrheit müsse nur in einem einzigen
Augenblick oder in einem einzigen Atom des Körpers vorhanden sein, damit er
wirksam werden könne und sich der wahre Buddha-Geist verwirkliche. Dieser ist
also viel umfassender als die sogenannte „Geist-Essenz“ des Brahmanen Senika
und die Lehrmeinungen der damaligen sogenannten Meister im Süden Chinas. Der
wahre Geist wird nicht zuletzt durch das Tun mit dem Willen zur Wahrheit im Einklang mit ethischem Handeln verwirklicht.
[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 74ff.