Dienstag, 2. Mai 2023

Der Geist hier und jetzt ist Buddha und Natur

 

Im Kapitel Soko shin ze butsu des Shōbōgenzō grenzt Dōgen die buddhistische Lehre von der altindischen Philosophie und Doktrin des unveränderlichen ātman ab, die zur Zeit Gautama Buddhas beispielhaft von dem Brahmanen Senika vertreten wurde.[i] Mehrere Streitgespräche zwischen Buddha und Senika stellen die wesentlichen Kernpunkte der damals neuen buddhistischen Lehre der Veränderlichkeit und Wechselwirkung sowie den Befreiungsweg treffend dar und zeigen die Unterschiede zur Lehre des Brahmanismus und auch des falsch verstandenen Buddhismus auf.

Senika vertrat den Glauben, es gebe einen ewigen unveränderlichen Seelenkern, eine unveränderliche Existenz oder einen essenziellen unveränderlichen Geist im Menschen. Ein solcher substantialer, aber unsichtbarer Kern sei vom jeweiligen Körper unabhängig und würde durch die verschiedenen Wiedergeburten als unsichtbare unveränderliche Ich-Substanz von einem Körper zum anderen wandern. Dies sei die einzige große Wahrheit, die man leicht verstehen und erkennen könne, und allein durch diese Lehre vom ewigen unveränderlichen Geist würde man ohne Mühe und ohne anstrengende Übungspraxis sofort frei und glücklich werden. Das klingt wirklich verführerisch! Laut Senika kann diese unveränderliche Geist-Substanz zwischen Leid und Freude, Wärme und Kälte, Schmerz und Verwirrung unterscheiden. Sie sei vom Körper völlig unabhängig, absolut selbstständig und könne ohne Schwierigkeiten durch Wände und Materie wandern. Sie würde also nicht durch irgendwelche Dinge, zum Beispiel durch Materie und die materielle Umgebung, eingeschränkt oder behindert.

Senika zufolge durchdringt ein solcher ewiger Geist-Kern sowohl die Seelen der normalen als auch der heiligen Menschen. Habe man erst einmal das ganze Wissen dieses unveränderlichen selbstständigen Geistes erlangt, so sagt er, dann gäbe es keine Täuschungen mehr über Körper und Seele und keine Irrwege. Man erlange absolutes umfassendes Wissen, sei also allwissend. Dann sei man sofort und ohne Anstrengung frei und müsse nicht mehr leiden. Dadurch könne man auch sein eigenes ursprüngliches, spirituelles Ich-Bewusstsein klar erkennen. Diese geistige Essenz sei ewig und durchdringe alle Welten und alle Zeiten. Demgegenüber seien die Dinge dieser Welt und des Universums vergänglich, sie würden kommen und gehen und hätten keine Beständigkeit. Letztlich seien sie sekundär und auch von geringerem Wert.

Man könne diese Geist-Essenz auch das spirituelle Bewusstsein oder das wahre Selbst nennen. Wer diese ursprüngliche Essenz durch das große Wissen erlangt hat, kann gemäß Senikas Lehre in die Ewigkeit zurückkehren und ist nicht mehr gezwungen, im Kreislauf der Welt erneut unter Leiden wiedergeboren zu werden. Wenn dann der Geist in die Ewigkeit eingehe, sei der Leidenskreislauf von Leben und Tod endgültig beendet, und die Geist-Substanz gehe im unendlichen Ozean in der Essenz auf. Dies sind die Kernaussagen und der Glaube des Brahmanen.

Was sagt nun Meister Dōgen dazu, und wie kennzeichnet er demgegenüber die Lehre des Buddha-Dharma? Im achten Jahrhundert n. Chr. hatte der Buddhismus in China seine Blütezeit erreicht, die wesentlich auf den großen Meister Daikan Enō (Hui Neng) zurückzuführen ist, der ein sechster Nachfolger in China war. Die Kultur im nördlichen China hatte im Buddhismus einen besonders hohen Stand erreicht und unterschied sich damit von dem weniger entwickelten Süden, der damals auch Teile von Kambodscha und Vietnam umfasste. Dōgen berichtet, dass der Buddhismus im Süden weniger klar gewesen sei als im Norden und dass die Lehrmeinungen der sogenannten Meister oft der Lehre des Brahmanen Senika insofern bedenklich nahe gekommen seien, als der Geist oder die geistige Essenz einfach mit Buddha gleichgesetzt wurde. Dōgen lehnt diese Lehre mit Nachdruck ab und erläutert dies anhand des berühmten Satzes „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“. Es geht ihm dabei nicht um Glauben, Wünsche, abstrakte Vorstellungen und eine unsichtbare Geist-Essenz, sondern um die reale Wirklichkeit hier und jetzt, ob wir sie nun mögen oder nicht. Aber diese Wirklichkeit können wir entscheidend mitgestalten. Und eine Flucht aus der Wirklichkeit in schöne Wunschträume oder unbeherrschbare Ängste sei vor allem eine Ursache für das Leiden und die Schmerzen der Menschen. Dies betont nicht zuletzt auch der Psychologe Sigmund Freud.

Was bedeutet nun der zitierte Satz, dass der Geist hier und jetzt Buddha sei? In der Aufzeichnung eines Gesprächs des Nachfolgers von Meister Daikan Enō, der den Ehrennamen großer Landesmeister Daishō hatte und den Dōgen sehr hoch schätzte, wird die falsche oder zumindest sehr ungenaue Lehre des Buddha-Dharma aus dem Süden Chinas anhand der Aussagen eines reisenden Buddhisten wiedergegeben. Dieser erläuterte dem großen Landesmeister, dass die Dharma-Lehrer im Süden sagten, der Satz „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“ kennzeichne nur das Bewusstsein, aber nicht den Körper. Geist und Bewusstsein werden also gleichgesetzt und so konzipiert, dass sie vom Körper getrennt sind. Der Körper habe nur untergeordnete Bedeutung.

Ein solches Bewusstsein habe nach dieser Lehre die wesentliche Eigenschaft, dass es die Essenz des Sehens, Hörens, Wahrnehmens und des Wissens sei. Es steuere dabei exakt alle Handlungen des Menschen und vor allem sein Denken und werde daher auch das „wahre, allumfassende Wissen“ genannt. Die Handlungen und der Körper folgten mit absoluter Genauigkeit diesem Geist. Ein Mensch, der dies erreicht habe, sei daher allwissend. Dieses umfassende Wissen sei der große Buddha, und außer diesem wunderbaren Wissen gäbe es nichts anderes. Das Wissen sei also gemäß dieser Lehre das Höchste und zugleich die Essenz des Universums, und alles andere wie die Materie und der Körper seien dem untergeordnet und weniger wichtig. Der Geist und dieses Wissen seien unvergänglich und verlassen den Körper nach dem Tod. Dies gleiche einem Menschen, der einfach aus seinem brennenden, unbrauchbaren Haus fortgeht, oder einer Schlange, die sich häutet und die alte Haut zurücklässt, um eine neue zu benutzen.

Nach diesen Erläuterungen des Mannes aus dem Süden Chinas sah der große Landesmeister Daishō seine Meinung bestätigt, dass dort irrige Lehren des Buddha-Dharma verbreitet würden. Er bedauerte, dass dadurch die Schüler der jeweiligen sogenannten Meister in unklarer Weise unterrichtet würden und eine völlig falsche Richtung auf dem Buddha-Weg einschlagen müssten. Damit sei der wahre Buddha-Dharma im Süden verloren gegangen, und die Schüler seien in großer Gefahr, da die Überwindung des Leidens völlig verstellt sei. Im Gegensatz dazu überschreite die wahre Lehre gerade das Wissen, das Bewusstsein und die sinnlichen Wahrnehmungen wie Sehen, Hören, Fühlen usw. Allein mit dem intellektuellen Verstand oder mit unseren Sinnesorganen könnten wir die viel zu engen Grenzen des Denkens nicht überschreiten und hätten keinen Zugang zum wahren Buddha-Dharma. Die Lehre des Südens sei also das eigene zweifelhafte Wunschdenken, der einseitige subjektive Glaube und die Doktrin der dortigen Meister. Diese können die große unfassbare Wahrheit nicht annähernd ausloten, die von Gautama Buddha und den großen Vorfahren im Dharma gelehrt und übermittelt wurde.

Nishijima Roshi bezeichnet den Bereich des Denkens und der Ideen als Idealismus und den Bereich der Wahrnehmung und der Sinnesreize als Materialismus. Beide Lebensphilosophien sind für sich genommen zwar nicht ganz falsch, solange sie nicht verabsolutiert und dogmatisch verhärtet sind, aber sie sind einseitig und eindimensional und können der Vielfalt des wunderbaren wirklichen Lebens im Universum und dessen umfassender Wahrheit nicht gerecht werden. Wer sich also in seinem Leben nach einer dieser beiden einseitigen Lebensphilosophien richtet, wird nicht aus dem dauernden Kreislauf des Leidens und der oberflächlichen Scheinfreuden herauskommen, seien sie ideell oder materiell. Er klammert sich an einen Strohhalm, der bei ehrlicher Betrachtung überhaupt nicht tragen kann. Daher muss nach Nishijima Roshi unbedingt die dritte Lebensphilosophie des ethischen Handelns im Hier und Jetzt, also im gegenwärtigen Augenblick, hinzukommen. Die vierte, höchste buddhistische Lebensphilosophie umfasst dann die drei bereits genannten, geht aber darüber hinaus und wird Erwachen, Erleuchtung oder auch Leerheit genannt. Auf dieser höchsten Stufe gibt es die unbedingte Ganzheit und Harmonie mit der Ethik und den Gesetzen des Universums.

Wenn man den Geist nur im Sinne des Idealismus, also als Idee, und daher in einer sehr begrenzten Dimension versteht, kann auch der Satz „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“ nicht mehr umfassend verstanden werden. Hier bedeutet räumlich genau an diesem Ort, und jetzt bedeutet genau in diesem Augenblick. Dieser Ansatz ist auch die zentrale Aussage des Sūtra der Grundlagen der Achtsamkeit. Geist und Buddha sind nicht unabhängig von Raum und Zeit. Der Buddha-Dharma ist die Einheit von Theorie und Praxis und umfasst damit auch das Handeln und die Übungspraxis des Zazen im Hier und Jetzt. Er ist unauflösbar mit der Ethik verbunden und beinhaltet die Gegebenheiten der Wirklichkeit und Wahrheit, so wie sie sind. Der Buddha-Dharma überschreitet die ideologischen Extreme von „es ist“ oder „es existiert“ und „es ist nicht“ oder „es existiert nicht“. Dabei wird nichts durch Glaubensfantasien, spekulatives Denken und Illusionen hinzugefügt, aber auch nichts weggenommen, ausgewählt und selektiert.

Dies wird im Buddhismus mit einem klaren Spiegel verglichen, der alles reflektiert, was vor ihm erscheint, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Es ist sicher kein Geheimnis, dass die Flucht der Menschen vor der Wirklichkeit und Wahrheit die Ursache der meisten geistigen und psychischen Leiden ist, die wir in der heutigen Zeit leider genauso beobachten wie früher. Dabei spielen die Massenmedien mit ihrer Berichterstattung und Werbung eine fatale Rolle. Auch die narzisstische Grandiosität des Ich ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Betroffenen haben den Zugang zur psychischen und sozialen Wirklichkeit verloren und leiden erheblich. Gautama Buddhas Lehre führt hinaus aus diesem Kreislauf des Leidens und öffnet uns für die umfassende Wirklichkeit.

Den wahren Buddha-Geist können wir also durch Denken allein nicht erfassen, sondern müssen ihn handelnd und meditierend erfahren und erforschen, wobei uns das Streben nach der Wahrheit wie ein Kompass auf den richtigen Weg führt. Dieser Geist ist weit mehr als das Denken, denn er umfasst laut Dōgen auch die Wirklichkeit des Bambus, der Berge, Flüsse, der Erde, der Sonne, des Mondes und der Sterne, also auch der Dinge, die wir im Allgemeinen nur als Form und aus materialistischer Sicht betrachten. Dieser im Buddhismus gemeinte umfassende Geist ist also das Leben und Sterben selbst, ist das Kommen und Gehen, die Zazen-Praxis und das alltägliche Leben. Der Zen-Buddhismus lehrt ganz klar, dass wir lernen müssen, unsere Vorstellungen, Ideen, unser Denken und unsere Begriffe von der Wirklichkeit selbst zu unterscheiden und beides nicht miteinander zu verwechseln. Dōgen sagt daher:

„Wenn wir den Willen (zur Wahrheit) niemals erweckt, das Praxis-Training niemals durchlaufen, den Bodhi-Geist niemals (verwirklicht) und Nirvāna niemals (erfahren) haben, dann gibt es keinen (Zustand) ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“

Dieser Wille zur Wahrheit müsse nur in einem einzigen Augenblick oder in einem einzigen Atom des Körpers vorhanden sein, damit er wirksam werden könne und sich der wahre Buddha-Geist verwirkliche. Dieser ist also viel umfassender als die sogenannte „Geist-Essenz“ des Brahmanen Senika und die Lehrmeinungen der damaligen sogenannten Meister im Süden Chinas. Der wahre Geist wird nicht zuletzt durch das Tun mit dem Willen zur Wahrheit im Einklang mit ethischem Handeln verwirklicht.

 



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 74ff.