Sonntag, 9. Januar 2022

Unsere Sinne und die Wahrnehmung, MMK, Kap. 3

 

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

Nāgārjuna analysiert anhand des Sehens die verschiedenen Wahrnehmungsarten des Menschen, also Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, sowie die zugehörigen Funktionen des Denkens, das heißt die „Denkbereiche“. Auf der Grundlage des Verständnisses der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und der Prozessanalyse des Gehens – im übertragenen Sinn auch der buddhistischen Entwicklung und Emanzipation – behandelt Kapitel 3 des MMK die möglichst unverstellte Wahrnehmung der Umgebung, in der wir leben. Es geht also um die Analyse von uns selbst als „Subjekte“ und unsere Wahrnehmung anderer Menschen. Dabei möchte Nāgārjuna für die folgenden Analysen Klarheit schaffen und sich von spekulativen metaphysischen Doktrinen absetzen. Das gilt besonders im Hinblick auf die Illusion von unveränderlichen und isolierten Substanzen für die Objekte der Wahrnehmung. Eine solche dualistische Doktrin ist nur scheinbar realistisch.

Nāgārjuna vermittelt eine positive praktische Lebensphilosophie des Sehens und der übrigen Wahrnehmungsarten. Dabei leugnet er die mögliche Fehlerhaftigkeit und Ungenauigkeit der sinnlichen Wahrnehmung keineswegs. Aber nicht zufällig stellt er sie an den Anfang der konkreten Einzelanalysen, denn eine gut geschulte Wahrnehmung ist für die von ihm verwendeten Methoden der Phänomenologie und der Empirie von zentraler Bedeutung.

Vor allem folgende Fragen stehen im Vordergrund: Gibt es eigentlich getrennte äußere Objekte, die in unserem Geist abgebildet werden und die wir daher sehen? Oder ist ein solches Modell zu einfach, obgleich wir es so selbstverständlich finden? Gibt es ein übergeordnetes ewiges metaphysisches Selbst, das uns als Mensch, der sieht und handelt, beobachtet und steuert? Da es ein isoliertes unveränderliches Selbst wie den vorbuddhistischen ātman nicht gibt, können wir ein solches Selbst phänomenologisch mit den Augen nicht sehen. Es ist, weil es unsichtbar ist, objektiv als empirische Entität nicht zu sehen.

 

Vers 3.2

Denn das Sehen sieht eben das eigene Selbst als Entität nicht.

Wenn aber das Sehen dieses eigene Selbst nicht sieht, fragt sich, wie es das Selbst des anderen sehen könnte.

 

Nāgārjuna hält sich also nicht mit der spekulativen metaphysischen Frage auf, ob es überhaupt ein Substanz-Selbst oder einen ātman, die man wie eine Entität mit den Augen sehen könnte, geben kann. Ganz pragmatisch stellt er stattdessen fest, dass ein solches substanzhaftes Selbst mit den Sinnesorganen nicht gesehen werden kann. Es ist eine metaphysische Spekulation, die im Alltag schwerwiegende negative Folgen haben kann. Wir sollten uns auf konkrete sichtbare Fakten beziehen, auch wenn es um vertiefte philosophische Analysen geht. Dies gilt umso mehr für therapeutische Aufgaben.

Dieser Vers verdeutlicht, dass das MMK sehr pragmatisch und phänomenologisch aufgebaut ist und damit eine große Nähe zum Zen-Buddhismus aufweist. Es geht nicht um Spekulationen und Illusionen, nicht um geglaubte, nicht hinterfragte „heilige“ Doktrinen, sondern um das, was konkret wahrgenommen und erfahren werden kann. Und in der Tat sind Entwicklungs- und Lernprozesse unauflösbar mit der Wahrnehmung verbunden, die immer feiner werden kann und muss, und mit der möglichst genauen Selbstbeobachtung beim Erleben und Erfahren. Buddha beschreibt diese Gegebenheit ausführlich im Sūtta „Grundlagen der Achtsamkeit“. Nāgārjuna und Dōgen zeigen aber auch, dass Buddhismus nicht vollständig durch Materialismus und die Naturwissenschaft zu erfassen ist, sondern darüber hinausgeht. Auch eine idealistische Sichtweise kann wie die materialistische nur eine Teilwahrheit erfassen.

Nāgārjuna widerlegt, dass es unveränderliche gesonderte substanzhafte Entitäten gibt, das gilt besonders für die Prozesse von Sehen und Gesehenwerden sowie für den Seher. Der typische Charakter des rückgekoppelten und vernetzten Sehprozesses der Wirklichkeit würde bei der Vorstellung von isolierten Entitäten völlig unberücksichtigt bleiben. Die Aussage „Das Sehen sieht“ ist daher entweder banal und tautologisch oder beinhaltet den Glauben an eine unsichtbare ewige Substanz, die sieht, und ist daher unsinnig.

 

Vers 3.5

Daraus folgt: Weder sieht eben das Sehen, noch sieht eben das Nicht-Sehen.

Das Untersuchte und mit dem Sehen auch der Seher müssen durch die Wechselwirkung verstanden werden!

 

Analog zum Kapitel über das Gehen wiederholt Nāgārjuna hier, dass bei der Doktrin einer unveränderlichen Substanz weder das Sehen noch das Nicht-Sehen sieht. Das Nicht-Sehen kann natürlich schon rein logisch nicht sehen.

Es gibt weder einen dauerhaft existierenden Geher noch einen solchen Seher, sondern nur die Prozesse und Ereignisse des Sehens, die aufeinander einwirken und in Wechselwirkung sind. Durch bewusste Reflexion können unser Entscheiden und Handeln in erheblichem Umfang verstanden werden, indem die Prozesse des Sehens, Denkens und Handelns miteinander verknüpft werden. Die zentrale Aussage in der Präambel über das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung erklärt die Wirklichkeit des Sehens am genauesten. Um die Wechselwirkung von Auge und Form sowie deren unlösbaren Zusammenhang beim Sehen deutlich zu machen, verweist Nāgārjuna auf die lebende enge Beziehung von Vater, Mutter und Sohn.

Schließlich zeigt er auf, dass man eine Wirklichkeit ohne Wechselwirkung nicht nachweisen kann. Ein solcher Nachweis gelingt auch dann nicht, wenn man eine ausgefeilte Logik verwendet. Die Klarstellungen in diesem Kapitel bilden eine belastbare Grundlage für den Fortgang der weiteren Untersuchungen.