Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
Nāgārjuna analysiert anhand des Sehens die
verschiedenen Wahrnehmungsarten des Menschen, also Sehen, Hören, Riechen,
Schmecken und Tasten, sowie die zugehörigen Funktionen des Denkens, das heißt
die „Denkbereiche“. Auf der Grundlage des Verständnisses der Wirklichkeit als
gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und der Prozessanalyse des Gehens – im
übertragenen Sinn auch der buddhistischen Entwicklung und Emanzipation –
behandelt Kapitel 3 des MMK die möglichst unverstellte Wahrnehmung der
Umgebung, in der wir leben. Es geht also um die Analyse von uns selbst als
„Subjekte“ und unsere Wahrnehmung anderer Menschen. Dabei möchte Nāgārjuna für
die folgenden Analysen Klarheit schaffen und sich von spekulativen metaphysischen
Doktrinen absetzen. Das gilt besonders im Hinblick auf die Illusion von
unveränderlichen und isolierten Substanzen für die Objekte der Wahrnehmung.
Eine solche dualistische Doktrin ist nur scheinbar realistisch.
Nāgārjuna vermittelt eine positive praktische
Lebensphilosophie des Sehens und der übrigen Wahrnehmungsarten. Dabei leugnet
er die mögliche Fehlerhaftigkeit und Ungenauigkeit der sinnlichen Wahrnehmung
keineswegs. Aber nicht zufällig stellt er sie an den Anfang der konkreten
Einzelanalysen, denn eine gut geschulte Wahrnehmung ist für die von ihm
verwendeten Methoden der Phänomenologie und der Empirie von zentraler
Bedeutung.
Vor allem folgende Fragen stehen im Vordergrund: Gibt
es eigentlich getrennte äußere Objekte, die in unserem Geist abgebildet werden
und die wir daher sehen? Oder ist ein solches Modell zu einfach, obgleich wir
es so selbstverständlich finden? Gibt es ein übergeordnetes ewiges
metaphysisches Selbst, das uns als Mensch, der sieht und handelt, beobachtet
und steuert? Da es ein isoliertes unveränderliches Selbst wie den
vorbuddhistischen ātman nicht gibt,
können wir ein solches Selbst phänomenologisch mit den Augen nicht sehen. Es
ist, weil es unsichtbar ist, objektiv als empirische Entität nicht zu sehen.
Vers 3.2
Denn das Sehen sieht eben das eigene Selbst als
Entität nicht.
Wenn aber das Sehen dieses eigene Selbst nicht sieht,
fragt sich, wie es das Selbst des anderen sehen könnte.
Nāgārjuna hält sich also nicht mit der spekulativen
metaphysischen Frage auf, ob es überhaupt ein Substanz-Selbst oder einen ātman, die man wie eine Entität mit den
Augen sehen könnte, geben kann. Ganz pragmatisch stellt er stattdessen fest,
dass ein solches substanzhaftes Selbst mit den Sinnesorganen nicht gesehen
werden kann. Es ist eine metaphysische Spekulation, die im Alltag schwerwiegende
negative Folgen haben kann. Wir
sollten uns auf konkrete sichtbare Fakten beziehen, auch wenn es um vertiefte
philosophische Analysen geht. Dies gilt umso mehr für therapeutische Aufgaben.
Dieser Vers verdeutlicht, dass das MMK sehr
pragmatisch und phänomenologisch aufgebaut ist und damit eine große Nähe zum
Zen-Buddhismus aufweist. Es geht nicht um Spekulationen und Illusionen, nicht
um geglaubte, nicht hinterfragte „heilige“ Doktrinen, sondern um das, was
konkret wahrgenommen und erfahren werden kann. Und in der Tat sind
Entwicklungs- und Lernprozesse unauflösbar mit der Wahrnehmung verbunden, die
immer feiner werden kann und muss, und mit der möglichst genauen
Selbstbeobachtung beim Erleben und Erfahren. Buddha beschreibt diese Gegebenheit
ausführlich im Sūtta „Grundlagen der Achtsamkeit“. Nāgārjuna und Dōgen zeigen
aber auch, dass Buddhismus nicht vollständig durch Materialismus und die
Naturwissenschaft zu erfassen ist, sondern darüber hinausgeht. Auch eine
idealistische Sichtweise kann wie die materialistische nur eine Teilwahrheit
erfassen.
Nāgārjuna widerlegt, dass es unveränderliche
gesonderte substanzhafte Entitäten gibt, das gilt besonders für die Prozesse
von Sehen und Gesehenwerden sowie für den Seher. Der typische Charakter des
rückgekoppelten und vernetzten Sehprozesses der Wirklichkeit würde bei der
Vorstellung von isolierten Entitäten völlig unberücksichtigt bleiben. Die
Aussage „Das Sehen sieht“ ist daher entweder banal und tautologisch oder
beinhaltet den Glauben an eine unsichtbare ewige Substanz, die sieht, und ist
daher unsinnig.
Vers 3.5
Daraus folgt: Weder sieht eben das Sehen, noch sieht
eben das Nicht-Sehen.
Das Untersuchte und mit dem Sehen auch der Seher müssen
durch die Wechselwirkung verstanden werden!
Analog zum Kapitel über das Gehen wiederholt
Nāgārjuna hier, dass bei der Doktrin einer unveränderlichen Substanz weder das
Sehen noch das Nicht-Sehen sieht. Das Nicht-Sehen kann natürlich schon rein
logisch nicht sehen.
Es gibt weder einen dauerhaft existierenden Geher
noch einen solchen Seher, sondern nur die Prozesse und Ereignisse des Sehens,
die aufeinander einwirken und in Wechselwirkung sind. Durch bewusste Reflexion
können unser Entscheiden und Handeln in erheblichem Umfang verstanden werden,
indem die Prozesse des Sehens, Denkens und Handelns miteinander verknüpft
werden. Die zentrale Aussage in der Präambel über das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung erklärt die Wirklichkeit des Sehens am genauesten. Um die
Wechselwirkung von Auge und Form sowie deren unlösbaren Zusammenhang beim Sehen
deutlich zu machen, verweist Nāgārjuna auf die lebende enge Beziehung von
Vater, Mutter und Sohn.
Schließlich zeigt er auf, dass man eine Wirklichkeit ohne Wechselwirkung
nicht nachweisen kann. Ein solcher Nachweis gelingt auch dann nicht, wenn man
eine ausgefeilte Logik verwendet. Die Klarstellungen in diesem Kapitel bilden
eine belastbare Grundlage für den Fortgang der weiteren Untersuchungen.