Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
Das Kapitel über das Gehen und den Geher ist von zentraler Bedeutung für
reale Prozesse im gesamten MMK, aber nicht leicht zu verstehen und zu deuten.
Es hinterfragt tief sitzende Weltanschauungen und metaphysische Annahmen der
Zeit vor Buddha, die später weitgehend unbemerkt die buddhistische Lehre
untergraben haben. Es ist auch heute noch von größter Bedeutung im Hinblick auf
dogmatische Fehlentwicklungen im Westen.
Dieses Kapitel ist in fünf Teile gegliedert. Zuerst geht es um den Weg,
den wir begehen, also das Begangene.
Wir können ihn als konkreten Weg verstehen, den wir jeden Tag gehen, oder
symbolisch und gleichnishaft als buddhistischen
Weg. Wir können den Weg auch als unsere
geistige und psychische Bewegung begreifen, wie zum Beispiel Buddhas Achtfachen Pfad und den Weg der Mitte. Nāgārjuna beschreibt
hier, wie und auf welche Weise solche Wege von uns tatsächlich begangen werden
können und sollten und welche angeblichen Wege nur unbrauchbare oder sogar
gefährliche Doktrinen sind. So gab es in der vorbuddhistischen Zeit Lehrmeinungen,
die behaupteten, dass alle Bewegungen unwirklich und Fiktion seien, weil es in
der Wirklichkeit keine Veränderungen gäbe. Ähnliche Strömungen waren auch in
der antiken griechischen Philosophie zu finden, zum Beispiel bei Zenon mit der
Verallgemeinerung unteilbarer Atome und sogar bei Pamenides und Plato im
Hinblick auf angeblich ewige Ideen.
Für Buddha waren jedoch Veränderungen und wechselwirkende Prozesse für
das Verstehen, die Überwindung des Leidens und die Befreiung grundlegend.
Entsprechend klar sagt Nāgārjuna, dass wir nur in der Gegenwart wirklich
prozesshaft gehen und der Weg wirklich begangen wird. Denn in der Vergangenheit
und Zukunft gibt es unser Gehen nur in unserem Geist oder Gehirn als
Vorstellung, Erinnerung oder Erwartung. Ein nur gedachter buddhistischer Weg
ist nicht die Wirklichkeit hier und jetzt als Handeln und Leben – so wird es im
Zen-Buddhismus ausgedrückt. Und wenn der buddhistische Weg durch erstarrte,
unethische und machtorientierte Doktrinen beeinträchtigt ist, kommen wir auf
ihm überhaupt nicht voran, denn ein solcher Weg kann von uns nicht wirklich
begangen werden! Ideologien und Fixierungen geben nur eine scheinbare
Sicherheit.
Es mag sein, dass wir in unserem Gehirn eine feste Vorstellung vom
Befreiungsweg haben, aber wenn wir ihn nicht selbst konkret begehen, gibt es
laut Nāgārjuna zwei begangene Wege: den wirklichen
und den nur erdachten, geglaubten und
theoretisch erlernten. Das führt zu Verwirrungen und „wegführenden
Fehlentwicklungen“, wie es in der Präambel heißt.
Im zweiten Teil des Kapitels untersucht Nāgārjuna, wer eigentlich auf dem Weg geht.
Er fragt uns, ob wir wirklich von einem Geher sprechen können, wenn dieser
gerade steht, sitzt oder liegt. Ist er immer ein Geher bis an sein Lebensende?
Und war er schon immer als Wesenskern oder als geglaubte unsichtbare unveränderliche Substanz ein Geher,
vielleicht sogar, bevor er gehen lernte? Das klingt zunächst sicher verblüffend
und verwirrend.
Vers 2.8
Es ergibt sich, dass der Geher nicht wirklich geht.
Allerdings geht der Nicht-Geher auch nicht.
Welcher Dritte geht, der ein anderer sein müsste als
der Geher und der Nicht-Geher?
Kompakt
kann man den Inhalt des Verses so zusammenfassen: Einen solchen substanzhaften
unveränderlichen Geher, der von der
Zeit völlig unabhängig ist, gibt es in der Wirklichkeit nicht. Denn er müsste
immer und ohne Unterbrechung dauerhaft existieren. Da zum Beispiel ein Säugling
noch nicht gehen kann, kann er auch kein Geher sein. Und weiter: Wenn ein Geher
gar nicht existiert, kann er auch nicht gehen. Auch ein abstrakter Dritter geht
nicht, denn es kann beim Gehen nur einen Geher und einen Nicht-Geher geben.
Danach würden weder der Geher, noch der Nicht-Geher und auch nicht ein Dritter
gehen. Diese Schlussfolgerungen Nāgārjunas haben für alles Folgende eine große
Bedeutung. Eine unsichtbare unveränderliche Substanz oder Essenz eines Gehers
ist natürlich Spekulation und unreale Metaphysik. Aber diese Weltanschauung ist
auch heute noch weit verbreitet, sei es bewusst oder nicht bewusst.
An
diese Fragen schließen sich allgemeinere Untersuchungen an, zum Beispiel: Wenn
ein Lügner nicht lügt, ist er dann
auch ein Lügner? Buddha beschreibt einen furchtbaren Massenmörder, der in seine
Sangha eintrat und Erleuchtung erlangte. War er dann noch ein Mörder oder war
er schon immer ein Erleuchteter? War er vielleicht schon voher Buddha und hat
es nicht gewusst? Und wenn er wieder aus der Erleuchtung zurückfällt, ist er
dann noch ein Erleuchteter? Wir sehen an diesen Beispielen, dass unsere Sprache
oft falsche unveränderliche Fakten behauptet und Veränderungen sowie
Emanzipationsprozesse ungenau oder sogar fehlerhaft beschreibt. Solche
Doktrinen können den Weg der eigenen Entwicklung und Befreiung fundamental
stören oder unmöglich machen. Das Gegenteil gilt für den Augenblick der
Gegenwart in unseren vernetzten Lebensprozessen: In ihm liegt ein Maximum an
Wirklichkeit und Erleben. Beim buddhistischen Weg geht es um den Prozess der Überwindung des Leidens
durch das von uns selbst gesteuerte Training von Körper, Gefühlen und Geist:
Das sind vernetzte Wechselwirkungen und keine Fiktionen, wie bereits in der
Präambel unmissverständlich erklärt wird.
Eine besondere Gefahr der metaphysischen Verdinglichung und Verhärtung
zur Substanzhaftigkeit und Essenz besteht besonders, wenn Lehren der
menschlichen Veränderung und Prozesse wie diejenige von Gautama Buddha
historisch übermittelt werden. Wie in Indien wird dann zum Teil das Maßgebliche
der ursprünglichen Lehre nach einigen hundert Jahren nicht mehr angemessen
wiedergegeben. Ich stimme mit Kalupahana darin überein, dass dies auf die
Situation zur Zeit Nāgārjunas, etwa 650 Jahre nach Gautama Buddha, zutrifft.[i]
Die beiden Doktrinen des Substantialismus und des Momentanismus drücken diese
Erstarrung und Dogmatisierung der buddhistischen Lehre aus. Die Vertreter des
Substantialismus, die Sarvastivadins, behaupteten die Dauerhaftigkeit und
Unveränderlichkeit von Dingen und Phänomenen. Die Vertreter des Momentanismus,
die Sautrantikas, glaubten an das plötzliche existenzielle zeitliche Ende der
Dinge und Phänomene und an deren plötzlichen Beginn aus dem Nichts.
Vers 2.20
Man könnte im Gegensatz dazu unterscheiden: „Der
Geher ist etwas total anderes als der Gang.“
Daraus ergäbe sich aber, dass das Gehen ganz
unabhängig vom Geher und der Geher ganz unabhängig von dem Gehen existieren.
Gehen, Gang und Geher sind nicht fundamental
verschieden voneinander und keine getrennten unabhängigen metaphysischen
Entitäten. Sie existieren nicht jeweils für sich selbstständig, dauerhaft und
ewig.
Nāgārjuna beweist logisch präzise, dass es bei einem erstarrten Denken
und Reden über das Gehen zwei Geher
geben müsste: einen, der wirklich geht, und einen, den wir uns in unserem
Gehirn abstrakt vorstellen. Nishijima Roshi sagt hierzu: „Die nicht reale Welt
gibt es in unserer Vorstellung und unserem Denken. Wie wir tagtäglich
beobachten können, beeinflussen solche Fiktionen und Ideen unser Handeln
erheblich. Insofern existieren derartige Ideen sozusagen als Scheinrealitäten
in unserem Gehirn.“ Aber die Wirklichkeit des gehenden Menschen ist nicht
mehrfach dualistisch gespalten, sondern ein Ganzes:
Ein Mensch geht auf dem Weg. Nāgārjuna arbeitet hier den gravierenden
Unterschied zwischen Wirklichkeit und Theorien sowie Doktrinen heraus. Für
unseren Befreiungsweg benötigen wir verlässliche Grundlagen und keine
weltfremden metaphysischen Philosophien. Deshalb ist dieses Kapitel so wichtig.
Im dritten Teil wird scharfsinnig bewiesen, dass es beim Gehen auf einem
Weg keinen Anfang und kein Ende geben dürfte, wenn man sich an Worte und
bestimmte Theorien klammert. Dann versteht man das Gehen wie ein statisches
Ding und als metaphysische unveränderliche Substanz. Das erweist sich natürlich
bei genauer Analyse als falsch, wenn wir die Wirklichkeit unverstellt und
direkt erfahren und beobachten. Denn wir Menschen gehen, schlendern, wandern
oder eilen ganz selbstverständlich und weitgehend unbewusst, und ebenso
beginnen und beenden wir das Gehen. Daraus folgt, dass wir die lebenden
vernetzten Prozesse und die Wechselwirkungen des gehenden Menschen ganzheitlich
verstehen müssen.
Im vierten und fünften Teil wird der gesamte Zusammenhang von begangenem
Weg, dem Gehen als Handeln und dem gehenden Menschen analysiert. Dabei stellt
Nāgārjuna fest, dass wir keinen Gang, keinen begangenen Weg und keinen Geher
finden, wenn wir erstarrten statischen und substanzhaften Doktrinen anhängen.
Vers 2.25
Auch ein zugleich existierender und nicht
existierender gewordener (Mensch) geht kein dreifaches Gehen.
Deswegen werden weder ein Gang oder ein Geher noch
das, was begangen werden kann, gefunden.
Um
die paradoxen Probleme bei getrennten, isolierten und unveränderlichen
Entitäten für Geher, Gang, Gehen und Begangen-Werden zu vermeiden, müssen wir
die wirklichen vernetzten Prozesse des Gehens und Begangen-Werdens genauer
analysieren und von der Wirklichkeit des wechselwirkenden gemeinsamen
Entstehens (pratitya samutpada) und
der vernetzten Prozesse ausgehen. Mit der Destruktion scheinbar einfacher
Begriffe und Vorstellungen möchte Nāgārjuna uns eindringlich dazu anregen, über
das scheinbar Selbstverständliche von Gehen, Gang, Begangenem und Geher und
andere Ereignisse und Prozesse nachzudenken, um ein naives und oft gefährliches
Verständnis zu überwinden.
Es kommt genau auf den Augenblick unseres achtsamen unverstellten
Handelns und Bewegens an. Eine solche Wirklichkeit ist ein lebendiges Ganzes
auf dem Achtfachen Pfad und dem Mittleren Weg, eben das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung. Und wenn wir dies ungeteilt und ohne Ablenkung erfahren,
erfüllt es uns mit Freude und Klarheit und befreit uns von Stress und sogar
Angst. So regenerieren wir, wenn wir spazieren gehen. Diese Tatsache hat auch
die heutige Gehirnforschung eindeutig nachgewiesen. Buddha, Nāgārjuna und Dōgen
wussten es schon erheblich früher.
Wenn die Prozesse der Welt ohne
metaphysische Scheinwelten von Doktrinen, Begriffen, Weltanschauungen und
Illusionen, ohne isolierte und als dauerhaft angesehene Essenzen in gemeinsamer
Wechselwirkung entstehen, wird die Welt im Sinne Nāgārjunas als leer bezeichnet. Im Zen-Buddhismus heißt
es: die Wirklichkeit und das Handeln, „wie sie sind“. Dann kann sich die nahezu
unbegrenzte Fülle der wirklichen menschlichen Potenziale mit all ihren auch
unverhofften Möglichkeiten entfalten.
In diesem fundamentalen Kapitel geht es also um das klare Verständnis
von Dynamik, Handeln, Bewegen und Prozessen. In den folgenden Kapiteln des MMK
wird sich zeigen, dass die ausführliche Analyse und Argumentation zum Gehen
auch für andere Prozesse und Vorgänge in gleicher Weise erfolgen kann und muss.
Nāgārjuna verweist daher für Zusammenhänge und Schlussfolgerungen häufiger auf
das zweite Kapitel. Es bildet die Grundlage für die Bearbeitung zentraler
buddhistischer Fragen in späteren Kapiteln, zum Beispiel in Kapitel 25
(Nirvāna) und 24 (Vier Edle Wahrheiten).
Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung die vorgenommene
Unterscheidung von Metaphysik und Wirklichkeit hat. Dazu ist es nützlich, die
weltanschaulichen Grundlagen politischer und religiöser Katastrophen zu analysieren.
So möchte ich ausdrücklich daran erinnern, dass „Ewige Wahrheiten“, deren
Begriffe und absolute Bedeutungen wie „der Arier“ und „der Jude“ zu Fanatismus
und Unmenschlichkeit führten und 50 Millionen Tote zur Folge hatten. Ähnliches
gilt abgeschwächt zum Beispiel auch für Demagogien wie der Kapitalist, der
Sozialist, der Farbige, der Flüchtling, der Unberührbare, die Hexe und für die
meisten Verschwörungstheorien. Sie behaupten Menschen, deren Merkmale und
Charakter unveränderlich seien und bekämpft werden müssten. Und ebenso können
extreme Idealisierungen gefährlich sein.
[i] Kalupahana, David
J.: A History of Buddhist Philosophy