Sonntag, 9. Januar 2022

Unser dynamischer Weg des Lebens mit dem richtigen Kompass

 

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

Das Kapitel über das Gehen und den Geher ist von zentraler Bedeutung für reale Prozesse im gesamten MMK, aber nicht leicht zu verstehen und zu deuten. Es hinterfragt tief sitzende Weltanschauungen und metaphysische Annahmen der Zeit vor Buddha, die später weitgehend unbemerkt die buddhistische Lehre untergraben haben. Es ist auch heute noch von größter Bedeutung im Hinblick auf dogmatische Fehlentwicklungen im Westen.

Dieses Kapitel ist in fünf Teile gegliedert. Zuerst geht es um den Weg, den wir begehen, also das Begangene. Wir können ihn als konkreten Weg verstehen, den wir jeden Tag gehen, oder symbolisch und gleichnishaft als buddhistischen Weg. Wir können den Weg auch als unsere geistige und psychische Bewegung begreifen, wie zum Beispiel Buddhas Achtfachen Pfad und den Weg der Mitte. Nāgārjuna beschreibt hier, wie und auf welche Weise solche Wege von uns tatsächlich begangen werden können und sollten und welche angeblichen Wege nur unbrauchbare oder sogar gefährliche Doktrinen sind. So gab es in der vorbuddhistischen Zeit Lehrmeinungen, die behaupteten, dass alle Bewegungen unwirklich und Fiktion seien, weil es in der Wirklichkeit keine Veränderungen gäbe. Ähnliche Strömungen waren auch in der antiken griechischen Philosophie zu finden, zum Beispiel bei Zenon mit der Verallgemeinerung unteilbarer Atome und sogar bei Pamenides und Plato im Hinblick auf angeblich ewige Ideen.

Für Buddha waren jedoch Veränderungen und wechselwirkende Prozesse für das Verstehen, die Überwindung des Leidens und die Befreiung grundlegend. Entsprechend klar sagt Nāgārjuna, dass wir nur in der Gegenwart wirklich prozesshaft gehen und der Weg wirklich begangen wird. Denn in der Vergangenheit und Zukunft gibt es unser Gehen nur in unserem Geist oder Gehirn als Vorstellung, Erinnerung oder Erwartung. Ein nur gedachter buddhistischer Weg ist nicht die Wirklichkeit hier und jetzt als Handeln und Leben – so wird es im Zen-Buddhismus ausgedrückt. Und wenn der buddhistische Weg durch erstarrte, unethische und machtorientierte Doktrinen beeinträchtigt ist, kommen wir auf ihm überhaupt nicht voran, denn ein solcher Weg kann von uns nicht wirklich begangen werden! Ideologien und Fixierungen geben nur eine scheinbare Sicherheit.

Es mag sein, dass wir in unserem Gehirn eine feste Vorstellung vom Befreiungsweg haben, aber wenn wir ihn nicht selbst konkret begehen, gibt es laut Nāgārjuna zwei begangene Wege: den wirklichen und den nur erdachten, geglaubten und theoretisch erlernten. Das führt zu Verwirrungen und „wegführenden Fehlentwicklungen“, wie es in der Präambel heißt.

Im zweiten Teil des Kapitels untersucht Nāgārjuna, wer eigentlich auf dem Weg geht. Er fragt uns, ob wir wirklich von einem Geher sprechen können, wenn dieser gerade steht, sitzt oder liegt. Ist er immer ein Geher bis an sein Lebensende? Und war er schon immer als Wesenskern oder als geglaubte unsichtbare unveränderliche Substanz ein Geher, vielleicht sogar, bevor er gehen lernte? Das klingt zunächst sicher verblüffend und verwirrend.

 

Vers 2.8

Es ergibt sich, dass der Geher nicht wirklich geht.

Allerdings geht der Nicht-Geher auch nicht.

Welcher Dritte geht, der ein anderer sein müsste als der Geher und der Nicht-Geher?

 

Kompakt kann man den Inhalt des Verses so zusammenfassen: Einen solchen substanzhaften unveränderlichen Geher, der von der Zeit völlig unabhängig ist, gibt es in der Wirklichkeit nicht. Denn er müsste immer und ohne Unterbrechung dauerhaft existieren. Da zum Beispiel ein Säugling noch nicht gehen kann, kann er auch kein Geher sein. Und weiter: Wenn ein Geher gar nicht existiert, kann er auch nicht gehen. Auch ein abstrakter Dritter geht nicht, denn es kann beim Gehen nur einen Geher und einen Nicht-Geher geben. Danach würden weder der Geher, noch der Nicht-Geher und auch nicht ein Dritter gehen. Diese Schlussfolgerungen Nāgārjunas haben für alles Folgende eine große Bedeutung. Eine unsichtbare unveränderliche Substanz oder Essenz eines Gehers ist natürlich Spekulation und unreale Metaphysik. Aber diese Weltanschauung ist auch heute noch weit verbreitet, sei es bewusst oder nicht bewusst.

An diese Fragen schließen sich allgemeinere Untersuchungen an, zum Beispiel: Wenn ein Lügner nicht lügt, ist er dann auch ein Lügner? Buddha beschreibt einen furchtbaren Massenmörder, der in seine Sangha eintrat und Erleuchtung erlangte. War er dann noch ein Mörder oder war er schon immer ein Erleuchteter? War er vielleicht schon voher Buddha und hat es nicht gewusst? Und wenn er wieder aus der Erleuchtung zurückfällt, ist er dann noch ein Erleuchteter? Wir sehen an diesen Beispielen, dass unsere Sprache oft falsche unveränderliche Fakten behauptet und Veränderungen sowie Emanzipationsprozesse ungenau oder sogar fehlerhaft beschreibt. Solche Doktrinen können den Weg der eigenen Entwicklung und Befreiung fundamental stören oder unmöglich machen. Das Gegenteil gilt für den Augenblick der Gegenwart in unseren vernetzten Lebensprozessen: In ihm liegt ein Maximum an Wirklichkeit und Erleben. Beim buddhistischen Weg geht es um den Prozess der Überwindung des Leidens durch das von uns selbst gesteuerte Training von Körper, Gefühlen und Geist: Das sind vernetzte Wechselwirkungen und keine Fiktionen, wie bereits in der Präambel unmissverständlich erklärt wird.

Eine besondere Gefahr der metaphysischen Verdinglichung und Verhärtung zur Substanzhaftigkeit und Essenz besteht besonders, wenn Lehren der menschlichen Veränderung und Prozesse wie diejenige von Gautama Buddha historisch übermittelt werden. Wie in Indien wird dann zum Teil das Maßgebliche der ursprünglichen Lehre nach einigen hundert Jahren nicht mehr angemessen wiedergegeben. Ich stimme mit Kalupahana darin überein, dass dies auf die Situation zur Zeit Nāgārjunas, etwa 650 Jahre nach Gautama Buddha, zutrifft.[i] Die beiden Doktrinen des Substantialismus und des Momentanismus drücken diese Erstarrung und Dogmatisierung der buddhistischen Lehre aus. Die Vertreter des Substantialismus, die Sarvastivadins, behaupteten die Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit von Dingen und Phänomenen. Die Vertreter des Momentanismus, die Sautrantikas, glaubten an das plötzliche existenzielle zeitliche Ende der Dinge und Phänomene und an deren plötzlichen Beginn aus dem Nichts.

 

Vers 2.20

Man könnte im Gegensatz dazu unterscheiden: „Der Geher ist etwas total anderes als der Gang.“

Daraus ergäbe sich aber, dass das Gehen ganz unabhängig vom Geher und der Geher ganz unabhängig von dem Gehen existieren.

 

Gehen, Gang und Geher sind nicht fundamental verschieden voneinander und keine getrennten unabhängigen metaphysischen Entitäten. Sie existieren nicht jeweils für sich selbstständig, dauerhaft und ewig.

Nāgārjuna beweist logisch präzise, dass es bei einem erstarrten Denken und Reden über das Gehen zwei Geher geben müsste: einen, der wirklich geht, und einen, den wir uns in unserem Gehirn abstrakt vorstellen. Nishijima Roshi sagt hierzu: „Die nicht reale Welt gibt es in unserer Vorstellung und unserem Denken. Wie wir tagtäglich beobachten können, beeinflussen solche Fiktionen und Ideen unser Handeln erheblich. Insofern existieren derartige Ideen sozusagen als Scheinrealitäten in unserem Gehirn.“ Aber die Wirklichkeit des gehenden Menschen ist nicht mehrfach dualistisch gespalten, sondern ein Ganzes: Ein Mensch geht auf dem Weg. Nāgārjuna arbeitet hier den gravierenden Unterschied zwischen Wirklichkeit und Theorien sowie Doktrinen heraus. Für unseren Befreiungsweg benötigen wir verlässliche Grundlagen und keine weltfremden metaphysischen Philosophien. Deshalb ist dieses Kapitel so wichtig.

Im dritten Teil wird scharfsinnig bewiesen, dass es beim Gehen auf einem Weg keinen Anfang und kein Ende geben dürfte, wenn man sich an Worte und bestimmte Theorien klammert. Dann versteht man das Gehen wie ein statisches Ding und als metaphysische unveränderliche Substanz. Das erweist sich natürlich bei genauer Analyse als falsch, wenn wir die Wirklichkeit unverstellt und direkt erfahren und beobachten. Denn wir Menschen gehen, schlendern, wandern oder eilen ganz selbstverständlich und weitgehend unbewusst, und ebenso beginnen und beenden wir das Gehen. Daraus folgt, dass wir die lebenden vernetzten Prozesse und die Wechselwirkungen des gehenden Menschen ganzheitlich verstehen müssen.

Im vierten und fünften Teil wird der gesamte Zusammenhang von begangenem Weg, dem Gehen als Handeln und dem gehenden Menschen analysiert. Dabei stellt Nāgārjuna fest, dass wir keinen Gang, keinen begangenen Weg und keinen Geher finden, wenn wir erstarrten statischen und substanzhaften Doktrinen anhängen.

 

Vers 2.25

Auch ein zugleich existierender und nicht existierender gewordener (Mensch) geht kein dreifaches Gehen.

Deswegen werden weder ein Gang oder ein Geher noch das, was begangen werden kann, gefunden.

 

Um die paradoxen Probleme bei getrennten, isolierten und unveränderlichen Entitäten für Geher, Gang, Gehen und Begangen-Werden zu vermeiden, müssen wir die wirklichen vernetzten Prozesse des Gehens und Begangen-Werdens genauer analysieren und von der Wirklichkeit des wechselwirkenden gemeinsamen Entstehens (pratitya samutpada) und der vernetzten Prozesse ausgehen. Mit der Destruktion scheinbar einfacher Begriffe und Vorstellungen möchte Nāgārjuna uns eindringlich dazu anregen, über das scheinbar Selbstverständliche von Gehen, Gang, Begangenem und Geher und andere Ereignisse und Prozesse nachzudenken, um ein naives und oft gefährliches Verständnis zu überwinden.

Es kommt genau auf den Augenblick unseres achtsamen unverstellten Handelns und Bewegens an. Eine solche Wirklichkeit ist ein lebendiges Ganzes auf dem Achtfachen Pfad und dem Mittleren Weg, eben das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Und wenn wir dies ungeteilt und ohne Ablenkung erfahren, erfüllt es uns mit Freude und Klarheit und befreit uns von Stress und sogar Angst. So regenerieren wir, wenn wir spazieren gehen. Diese Tatsache hat auch die heutige Gehirnforschung eindeutig nachgewiesen. Buddha, Nāgārjuna und Dōgen wussten es schon erheblich früher.

Wenn die Prozesse der Welt ohne metaphysische Scheinwelten von Doktrinen, Begriffen, Weltanschauungen und Illusionen, ohne isolierte und als dauerhaft angesehene Essenzen in gemeinsamer Wechselwirkung entstehen, wird die Welt im Sinne Nāgārjunas als leer bezeichnet. Im Zen-Buddhismus heißt es: die Wirklichkeit und das Handeln, „wie sie sind“. Dann kann sich die nahezu unbegrenzte Fülle der wirklichen menschlichen Potenziale mit all ihren auch unverhofften Möglichkeiten entfalten.

In diesem fundamentalen Kapitel geht es also um das klare Verständnis von Dynamik, Handeln, Bewegen und Prozessen. In den folgenden Kapiteln des MMK wird sich zeigen, dass die ausführliche Analyse und Argumentation zum Gehen auch für andere Prozesse und Vorgänge in gleicher Weise erfolgen kann und muss. Nāgārjuna verweist daher für Zusammenhänge und Schlussfolgerungen häufiger auf das zweite Kapitel. Es bildet die Grundlage für die Bearbeitung zentraler buddhistischer Fragen in späteren Kapiteln, zum Beispiel in Kapitel 25 (Nirvāna) und 24 (Vier Edle Wahrheiten).

Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung die vorgenommene Unterscheidung von Metaphysik und Wirklichkeit hat. Dazu ist es nützlich, die weltanschaulichen Grundlagen politischer und religiöser Katastrophen zu analysieren. So möchte ich ausdrücklich daran erinnern, dass „Ewige Wahrheiten“, deren Begriffe und absolute Bedeutungen wie „der Arier“ und „der Jude“ zu Fanatismus und Unmenschlichkeit führten und 50 Millionen Tote zur Folge hatten. Ähnliches gilt abgeschwächt zum Beispiel auch für Demagogien wie der Kapitalist, der Sozialist, der Farbige, der Flüchtling, der Unberührbare, die Hexe und für die meisten Verschwörungstheorien. Sie behaupten Menschen, deren Merkmale und Charakter unveränderlich seien und bekämpft werden müssten. Und ebenso können extreme Idealisierungen gefährlich sein.

 


[i] Kalupahana, David J.: A History of Buddhist Philosophy