Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
In diesem Kapitel gibt Nāgārjuna einen Einstieg in
die Analyse und Praxis, wie wir im Buddhismus auf dem Mittleren Weg mit starken
Gefühlen, Affekten, Erregung, großer Liebe, großem Mitgefühl und letztlich mit
Gier, Neid und Hass richtig umgehen. Das Ziel ist es, extreme Affekte,
Ideologien, Abhängigkeiten, Fremdsteuerungen usw. klar zu erkennen und vor
allem durch die Praxis zur Ruhe kommen zu lassen. Extreme sollten wir immer
vermeiden, um uns selbst und anderen nicht zu schaden und unsere eigene
Emanzipation und Befreiung voranzubringen. In der wahren und befreiten
Lebensform gibt es keine Extreme wie Materialismus, Ideologien, Aktionismus und
geistige Fragmentierung.
Nāgārjuna destruiert die unbrauchbaren und
gefährlichen metaphysischen Doktrinen und Ideologien, die oft die Gefühle und
Affekte noch weiter verstärken. Sie gehen ganz in die Irre und führen zum
Leiden. Zudem werden sie dem heilsamen Wandel und der Emanzipation des Menschen
nicht gerecht, da ihnen ein statisches und häufig exaltiertes lernfeindliches
Weltbild zugrunde liegt. Zudem gehen sie von spekulativen philosophischen
Annahmen aus, die der Vernunft widersprechen und somit nicht im Einklang mit
der Philosophie Buddhas und Nāgārjunas stehen. Wer vollständig erregt ist,
schaltet seine eigene Vernunft aus und verliert sein Gleichgewicht. Für andere
Menschen und die Umgebung kann ein solcher Mensch zur großen Gefahr werden. Das
gilt vor allem für den dogmatischen Substantialismus, also den Glauben an die
eigene unveränderliche ewige Substanz. Es ist erstaunlich, dass Erregte sich
selbst zumindest für die Zeit der Erregung für Helden halten. Erstaunlich
deshalb, weil sie Vernunft, Ethik und Selbstkontrolle ausschalten. Nach der
Gehirnforschung ist in diesem Zustand das Frontalhirn abgeschaltet.
In den Originalversen in Sanskrit verwendet
Nāgārjuna in diesem Kapitel den Begriff rāga
für „Erregung“ und „Leidenschaft“; er ist von „färben“ abgeleitet. Die
wichtigen Fragen lauten: Wie werden Geist, Psyche und Körper durch Affekte, zu
starke unkontrollierte Gefühle oder durch emotionale Fesseln und eruptive
Durchbrüche verändert und verfärbt?
Wie kann man sie steuern, wie kommen sie zur Ruhe? Welches belastbare
buddhistische Wissen gibt es dazu und was ist falsches Scheinwissen, das heute
im Internet zu Recht als Fake
bezeichnet wird?
Aber auch im Buddhismus gibt es Verführungen des
kommerziellen Marktes, zum Beispiel das Angebot einer „Schnell-Erleuchtung“ und
Befreiung von Stress und Affekten durch Unterwerfung und den Glauben an eine
unseriöse Methode. So kann man die Erregung nicht zur Ruhe bringen. Es ist
daher unsere Aufgabe, die zum Teil verzerrte Lehre Buddhas über die Erregung
und emotionale Extreme gründlich zu analysieren.
Zur Überwindung von Erregung und unkontrollierter
Leidenschaft nennt er die hilfreichen Faktoren des Erwachens: Achtsamkeit,
Energie, Gestilltheit und vor allem die Freude. Damit gibt er die Richtung für
unsere Weiterentwicklung vor, nämlich die Überwindung von Erregung und
Leidenschaft, um damit Kummer, Jammer, Gram, Verzweiflung, Angst, Stress,
Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und Zukunftsangst, unter denen heute so viele
Menschen leiden, zu bewältigen. Bei der Betrachtung unserer eigenen Gefühle rät
uns Buddha, mit Achtsamkeit Folgendes zu erkennen: „Ich empfinde ein freudiges
Gefühl“ oder „Ich empfinde ein leidiges Gefühl“. Das sei der Ausgangspunkt der
eigenen Weiterentwicklung.
Wichtig ist, das Entstehen und Vergehen von starken
Affekten zu betrachten und zu „verstehen“, um daraus für die Gestaltung und
Veränderung des eigenen Lebens Klarheit zu gewinnen. Zur philosophischen
Analyse sagt Nāgārjuna:
Vers 6.1
Falls ein leidenschaftlich Erregter vor der Erregung
entstehen würde und die Erregung noch beiseitegelassen hat, würde mit diesem
Menschen die Erregung erst entstehen, nachdem sie in Wechselwirkung mit ihm
ist.
Ein Erregter würde daher bereits vorher existieren
und die Erregung würde erst danach entstehen.
Das klingt tatsächlich zunächst eigenartig. Nāgārjuna
zeigt mit diesem Vers, dass es unsinnig ist zu sagen, dass es einen
unabhängigen erregten Menschen geben kann, der zunächst ohne Erregung ist, denn
beides hängt unabdingbar zusammen. Die Wahrheit ist einfach: Der erregte Mensch
und die Erregung können in der Wirklichkeit nicht voneinander getrennt werden,
denn sie bedingen sich in Wechselwirkung gegenseitig, und es handelt sich um
ein gemeinsames Entstehen. Der erregte Mensch und die Erregung fallen in der
Wirklichkeit örtlich und zeitlich zusammen, sie sind keine isolierten
Entitäten. Ein solcher metaphysischer Glauben ist also unsinnig.
Wenn der erregte Mensch dagegen zur Ruhe kommt,
entstehen neue Impulse und Energien und werden für unsere Lebenspraxis wirksam.
Dabei ergeben sich die Kraft, Motivation und der Mut zur Veränderung besonders
durch Freude und nicht durch depressive und zerstörerische Selbstvorwürfe, wie
es uns manche tradierte Religionen vielleicht weismachen wollen!
Nāgārjuna beschreibt in diesem Kapitel die
vorbuddhistische Auffassung und die erneut auftauchenden sektiererischen
Doktrinen, dass die Erregung und der erregte Mensch verschiedene und getrennte Dinge und Entitäten seien. Die Erregung wird dabei wie eine getrennte
Wesenheit oder Substanz betrachtet, die irgendwie schon vorhanden ist,
herbeikommt und den Menschen ergreift oder in ihn fährt und ihn besetzt. Das
erscheint recht skurril, ist aber als Weltanschauung auch in unserer Kultur in
ähnlicher Form durchaus zu finden, allerdings oft unbewusst.
Diese Doktrinen vereinfachen laut Nāgārjuna einen
lebenden psychischen und wechselwirkenden Prozess viel zu stark, indem sie von
einem unveränderlichen substantialen Kern ausgehen, der dann sichtbar werde,
wenn er qualifizierende Merkmale bekomme. Habe er nicht mindestens ein Merkmal,
sei er unsichtbar. So sei zum Beispiel der „Substanzkern“ des Apfels unsichtbar
und neutral; er habe keine Eigenschaft und Qualität. Um sichtbar zu werden,
benötige er Merkmale wie Farbe, Größe und Reifegrad. Dieses metaphysische
Modell überträgt Nāgārjuna auf den Erregten und die Erregung und analysiert es
auf innere Widersprüche, um sie zu destruieren.
Aus diesem falschen Modell ergeben sich spitzfindige
philosophische Fragen, wie zum Beispiel ob die Erregung vor dem Menschen da war
und ihn dann ergriffen hat oder ob die Erregung umgekehrt erst später
hinzugekommen ist. Wenn die Erregung nun den Menschen ergriffen hat, stellt
sich die Frage, ob die Erregung und der erregte Mensch dann eine Einheit sind
oder nicht – also die Frage nach Identität oder Differenz, die auch in der
westlichen Philosophie intensiv diskutiert wird. Nāgārjuna macht deutlich, dass
die Extreme von absoluter Identität oder absoluter Differenz in der
Wirklichkeit nicht vorkommen. Er sagt: Buddha lehrt im Achtfachen Pfad ganz
direkt, wie wir uns selbst von Affekten und ungesteuerter Leidenschaft befreien
und emanzipieren können, und verzichtet auf philosophische Spitzfindigkeiten,
die meist praktisch wenig helfen. Aber falsche, irreführende Philosophien
müssen gründlich analysiert, erkannt und überwunden werden. Nāgārjuna erklärt,
dass er von einer metaphysischen Substanz und der Verdinglichung psychischer
Prozesse nichts hält, gerade im Hinblick auf die Erregung. Aus der
Gehirnforschung wissen wir, dass es um Bahnungen, synaptische Spuren, Muster
und dynamische Informationen im neuronalen Netz und deren Veränderungen geht.
Damit ist die dargestellte Philosophie von getrennten und weitgehend statischen
Entitäten oder Eigen-Substanzen der Erregung und des erregten Menschen auch
wissenschaftlich eindeutig widerlegt.
Zu weiteren theoretischen Überlegungen zur Erregung
äußert sich Nāgārjuna folgendermaßen: Es kann keinen Erregten geben, der immer
und dauernd ein Erregter war und ist, und es kann keine Erregung geben, wenn
kein erregter Mensch da ist. Wenn Erregung und Erregter zwar gleichzeitig, aber
unabhängig und getrennt voneinander entstehen oder da sind, gibt es ebenfalls
keine Wechselwirkung und keinen Bezug zur Wirklichkeit. Die Erregung und den
erregten Menschen kann man nicht wie „Gefährten“ verstehen, wenn sie getrennt
sind. Nāgārjuna spricht die damaligen irreführenden buddhistischen Doktrinen an
und betont, dass es nicht um ein dringend erwünschtes Ziel geht, bei dem
zunächst getrennte dauerhafte Entitäten, also Dualitäten, von erregtem Menschen
und Erregung unterstellt werden. Diese getrennten Entitäten können nicht durch
die Religion wie ein Wunder zur Einheit gebracht werden.
Schließlich verallgemeinert er den geklärten
Zusammenhang auf alle Dharmas, also die Dinge, Phänomene und Prozesse dieser
Welt.
Vers 6.10
Auf diese Weise ist es möglich, dass die Erregung
nicht total identisch und nicht total getrennt von dem Erregten ist.
Wie für Erregung ist es auch für alle wahren Dharmas
möglich: Sie sind nicht total identisch und nicht total verschieden.
Der
Grundfehler liegt nach Nāgārjuna darin, dass die Dharmas, also die Dinge und
Phänomene, als gesonderte und isolierte unveränderliche Eigen-Substanzen (svabhāva) angenommen werden
(Substantialismus). Sie müssten dann total identisch oder total verschieden
sein. Ein Drittes gäbe es nicht. Das sind aber unrealistische Extreme, die
schon Buddha als falsche Sichtweisen abgelehnt hat. Die Dharmas entstehen und
vergehen in Wirklichkeit vernetzt und in Wechselwirkung. In der Wirklichkeit gibt es also weder die totale Gleichheit noch den
totalen Unterschied. Eine solche Vorstellung kommt nur in unserem Denken oder
unserer Sprache vor, aber nicht in der vernetzten Wirklichkeit. Dies wurde im
Zen-Buddhismus besonders überzeugend herausgearbeitet und in der Praxis
gelehrt.
Nāgārjuna lehnt am Beispiel von Erregung und
Erregtem also eine Doktrin metaphysischer getrennter Entitäten, die uns
überfallartig und plötzlich ergreifen, radikal ab. Sie stimmen mit dem
authentischen Buddhismus nicht überein. Der buddhistische Weg der Befreiung und
Emanzipation, den Buddha im Achtfachen Pfad konkret darstellt, führt uns zum
Gleichgewicht, zur Selbststeuerung und Selbstkontrolle. Dadurch überwinden wir
die Abhängigkeit von Erregungszuständen oder explodierenden Affekten, die uns
überschwemmen. Am besten kann dieser Pfad als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung verstanden und konkret von
uns gegangen werden. Auf diese
Wechselwirkung können wir selbst aktiv einwirken und gerade bei Erregung und
ungesteuerter Leidenschaft zunehmende Lernprozesse der Klarheit und des
Selbstvertrauens vollziehen.