Sonntag, 9. Januar 2022

Die Erregung, der Erregte und das Gleichgewicht, MMK, Kap. 6

 

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

In diesem Kapitel gibt Nāgārjuna einen Einstieg in die Analyse und Praxis, wie wir im Buddhismus auf dem Mittleren Weg mit starken Gefühlen, Affekten, Erregung, großer Liebe, großem Mitgefühl und letztlich mit Gier, Neid und Hass richtig umgehen. Das Ziel ist es, extreme Affekte, Ideologien, Abhängigkeiten, Fremdsteuerungen usw. klar zu erkennen und vor allem durch die Praxis zur Ruhe kommen zu lassen. Extreme sollten wir immer vermeiden, um uns selbst und anderen nicht zu schaden und unsere eigene Emanzipation und Befreiung voranzubringen. In der wahren und befreiten Lebensform gibt es keine Extreme wie Materialismus, Ideologien, Aktionismus und geistige Fragmentierung.

Nāgārjuna destruiert die unbrauchbaren und gefährlichen metaphysischen Doktrinen und Ideologien, die oft die Gefühle und Affekte noch weiter verstärken. Sie gehen ganz in die Irre und führen zum Leiden. Zudem werden sie dem heilsamen Wandel und der Emanzipation des Menschen nicht gerecht, da ihnen ein statisches und häufig exaltiertes lernfeindliches Weltbild zugrunde liegt. Zudem gehen sie von spekulativen philosophischen Annahmen aus, die der Vernunft widersprechen und somit nicht im Einklang mit der Philosophie Buddhas und Nāgārjunas stehen. Wer vollständig erregt ist, schaltet seine eigene Vernunft aus und verliert sein Gleichgewicht. Für andere Menschen und die Umgebung kann ein solcher Mensch zur großen Gefahr werden. Das gilt vor allem für den dogmatischen Substantialismus, also den Glauben an die eigene unveränderliche ewige Substanz. Es ist erstaunlich, dass Erregte sich selbst zumindest für die Zeit der Erregung für Helden halten. Erstaunlich deshalb, weil sie Vernunft, Ethik und Selbstkontrolle ausschalten. Nach der Gehirnforschung ist in diesem Zustand das Frontalhirn abgeschaltet.

In den Originalversen in Sanskrit verwendet Nāgārjuna in diesem Kapitel den Begriff rāga für „Erregung“ und „Leidenschaft“; er ist von „färben“ abgeleitet. Die wichtigen Fragen lauten: Wie werden Geist, Psyche und Körper durch Affekte, zu starke unkontrollierte Gefühle oder durch emotionale Fesseln und eruptive Durchbrüche verändert und verfärbt? Wie kann man sie steuern, wie kommen sie zur Ruhe? Welches belastbare buddhistische Wissen gibt es dazu und was ist falsches Scheinwissen, das heute im Internet zu Recht als Fake bezeichnet wird?

Aber auch im Buddhismus gibt es Verführungen des kommerziellen Marktes, zum Beispiel das Angebot einer „Schnell-Erleuchtung“ und Befreiung von Stress und Affekten durch Unterwerfung und den Glauben an eine unseriöse Methode. So kann man die Erregung nicht zur Ruhe bringen. Es ist daher unsere Aufgabe, die zum Teil verzerrte Lehre Buddhas über die Erregung und emotionale Extreme gründlich zu analysieren.

Zur Überwindung von Erregung und unkontrollierter Leidenschaft nennt er die hilfreichen Faktoren des Erwachens: Achtsamkeit, Energie, Gestilltheit und vor allem die Freude. Damit gibt er die Richtung für unsere Weiterentwicklung vor, nämlich die Überwindung von Erregung und Leidenschaft, um damit Kummer, Jammer, Gram, Verzweiflung, Angst, Stress, Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit und Zukunftsangst, unter denen heute so viele Menschen leiden, zu bewältigen. Bei der Betrachtung unserer eigenen Gefühle rät uns Buddha, mit Achtsamkeit Folgendes zu erkennen: „Ich empfinde ein freudiges Gefühl“ oder „Ich empfinde ein leidiges Gefühl“. Das sei der Ausgangspunkt der eigenen Weiterentwicklung.

Wichtig ist, das Entstehen und Vergehen von starken Affekten zu betrachten und zu „verstehen“, um daraus für die Gestaltung und Veränderung des eigenen Lebens Klarheit zu gewinnen. Zur philosophischen Analyse sagt Nāgārjuna:

 

Vers 6.1

Falls ein leidenschaftlich Erregter vor der Erregung entstehen würde und die Erregung noch beiseitegelassen hat, würde mit diesem Menschen die Erregung erst entstehen, nachdem sie in Wechselwirkung mit ihm ist.

Ein Erregter würde daher bereits vorher existieren und die Erregung würde erst danach entstehen.

 

Das klingt tatsächlich zunächst eigenartig. Nāgārjuna zeigt mit diesem Vers, dass es unsinnig ist zu sagen, dass es einen unabhängigen erregten Menschen geben kann, der zunächst ohne Erregung ist, denn beides hängt unabdingbar zusammen. Die Wahrheit ist einfach: Der erregte Mensch und die Erregung können in der Wirklichkeit nicht voneinander getrennt werden, denn sie bedingen sich in Wechselwirkung gegenseitig, und es handelt sich um ein gemeinsames Entstehen. Der erregte Mensch und die Erregung fallen in der Wirklichkeit örtlich und zeitlich zusammen, sie sind keine isolierten Entitäten. Ein solcher metaphysischer Glauben ist also unsinnig.

Wenn der erregte Mensch dagegen zur Ruhe kommt, entstehen neue Impulse und Energien und werden für unsere Lebenspraxis wirksam. Dabei ergeben sich die Kraft, Motivation und der Mut zur Veränderung besonders durch Freude und nicht durch depressive und zerstörerische Selbstvorwürfe, wie es uns manche tradierte Religionen vielleicht weismachen wollen!

Nāgārjuna beschreibt in diesem Kapitel die vorbuddhistische Auffassung und die erneut auftauchenden sektiererischen Doktrinen, dass die Erregung und der erregte Mensch verschiedene und getrennte Dinge und Entitäten seien. Die Erregung wird dabei wie eine getrennte Wesenheit oder Substanz betrachtet, die irgendwie schon vorhanden ist, herbeikommt und den Menschen ergreift oder in ihn fährt und ihn besetzt. Das erscheint recht skurril, ist aber als Weltanschauung auch in unserer Kultur in ähnlicher Form durchaus zu finden, allerdings oft unbewusst.

Diese Doktrinen vereinfachen laut Nāgārjuna einen lebenden psychischen und wechselwirkenden Prozess viel zu stark, indem sie von einem unveränderlichen substantialen Kern ausgehen, der dann sichtbar werde, wenn er qualifizierende Merkmale bekomme. Habe er nicht mindestens ein Merkmal, sei er unsichtbar. So sei zum Beispiel der „Substanzkern“ des Apfels unsichtbar und neutral; er habe keine Eigenschaft und Qualität. Um sichtbar zu werden, benötige er Merkmale wie Farbe, Größe und Reifegrad. Dieses metaphysische Modell überträgt Nāgārjuna auf den Erregten und die Erregung und analysiert es auf innere Widersprüche, um sie zu destruieren.

Aus diesem falschen Modell ergeben sich spitzfindige philosophische Fragen, wie zum Beispiel ob die Erregung vor dem Menschen da war und ihn dann ergriffen hat oder ob die Erregung umgekehrt erst später hinzugekommen ist. Wenn die Erregung nun den Menschen ergriffen hat, stellt sich die Frage, ob die Erregung und der erregte Mensch dann eine Einheit sind oder nicht – also die Frage nach Identität oder Differenz, die auch in der westlichen Philosophie intensiv diskutiert wird. Nāgārjuna macht deutlich, dass die Extreme von absoluter Identität oder absoluter Differenz in der Wirklichkeit nicht vorkommen. Er sagt: Buddha lehrt im Achtfachen Pfad ganz direkt, wie wir uns selbst von Affekten und ungesteuerter Leidenschaft befreien und emanzipieren können, und verzichtet auf philosophische Spitzfindigkeiten, die meist praktisch wenig helfen. Aber falsche, irreführende Philosophien müssen gründlich analysiert, erkannt und überwunden werden. Nāgārjuna erklärt, dass er von einer metaphysischen Substanz und der Verdinglichung psychischer Prozesse nichts hält, gerade im Hinblick auf die Erregung. Aus der Gehirnforschung wissen wir, dass es um Bahnungen, synaptische Spuren, Muster und dynamische Informationen im neuronalen Netz und deren Veränderungen geht. Damit ist die dargestellte Philosophie von getrennten und weitgehend statischen Entitäten oder Eigen-Substanzen der Erregung und des erregten Menschen auch wissenschaftlich eindeutig widerlegt.

Zu weiteren theoretischen Überlegungen zur Erregung äußert sich Nāgārjuna folgendermaßen: Es kann keinen Erregten geben, der immer und dauernd ein Erregter war und ist, und es kann keine Erregung geben, wenn kein erregter Mensch da ist. Wenn Erregung und Erregter zwar gleichzeitig, aber unabhängig und getrennt voneinander entstehen oder da sind, gibt es ebenfalls keine Wechselwirkung und keinen Bezug zur Wirklichkeit. Die Erregung und den erregten Menschen kann man nicht wie „Gefährten“ verstehen, wenn sie getrennt sind. Nāgārjuna spricht die damaligen irreführenden buddhistischen Doktrinen an und betont, dass es nicht um ein dringend erwünschtes Ziel geht, bei dem zunächst getrennte dauerhafte Entitäten, also Dualitäten, von erregtem Menschen und Erregung unterstellt werden. Diese getrennten Entitäten können nicht durch die Religion wie ein Wunder zur Einheit gebracht werden.

Schließlich verallgemeinert er den geklärten Zusammenhang auf alle Dharmas, also die Dinge, Phänomene und Prozesse dieser Welt.

 

Vers 6.10

Auf diese Weise ist es möglich, dass die Erregung nicht total identisch und nicht total getrennt von dem Erregten ist.

Wie für Erregung ist es auch für alle wahren Dharmas möglich: Sie sind nicht total identisch und nicht total verschieden.

 

Der Grundfehler liegt nach Nāgārjuna darin, dass die Dharmas, also die Dinge und Phänomene, als gesonderte und isolierte unveränderliche Eigen-Substanzen (svabhāva) angenommen werden (Substantialismus). Sie müssten dann total identisch oder total verschieden sein. Ein Drittes gäbe es nicht. Das sind aber unrealistische Extreme, die schon Buddha als falsche Sichtweisen abgelehnt hat. Die Dharmas entstehen und vergehen in Wirklichkeit vernetzt und in Wechselwirkung. In der Wirklichkeit gibt es also weder die totale Gleichheit noch den totalen Unterschied. Eine solche Vorstellung kommt nur in unserem Denken oder unserer Sprache vor, aber nicht in der vernetzten Wirklichkeit. Dies wurde im Zen-Buddhismus besonders überzeugend herausgearbeitet und in der Praxis gelehrt.

Nāgārjuna lehnt am Beispiel von Erregung und Erregtem also eine Doktrin metaphysischer getrennter Entitäten, die uns überfallartig und plötzlich ergreifen, radikal ab. Sie stimmen mit dem authentischen Buddhismus nicht überein. Der buddhistische Weg der Befreiung und Emanzipation, den Buddha im Achtfachen Pfad konkret darstellt, führt uns zum Gleichgewicht, zur Selbststeuerung und Selbstkontrolle. Dadurch überwinden wir die Abhängigkeit von Erregungszuständen oder explodierenden Affekten, die uns überschwemmen. Am besten kann dieser Pfad als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung verstanden und konkret von uns gegangen werden. Auf diese Wechselwirkung können wir selbst aktiv einwirken und gerade bei Erregung und ungesteuerter Leidenschaft zunehmende Lernprozesse der Klarheit und des Selbstvertrauens vollziehen.