Sonntag, 9. Januar 2022

MMK, Kap.15: Die Wirklichkeit der Dinge, Phänomene und Ereignisse und die fiktive unveränderliche Eigen-Substanz

 

Mit diesem Kapitel beendet Nāgārjuna den zweiten Hauptteil seiner scharfsinnigen Analysen, in denen es um die Dharmas in der Welt geht, also um Dinge, Phänomene, Ideen, Ereignisse, Zustände und Prozesse usw.[i] Er behandelt damit die Einzelheiten und die Vielfalt in der Welt, um die Grundlage für den nächsten Teil zu erarbeiten, für das Ganze des Menschen. Die Doktrin von unveränderlichen und unteilbaren Bausteinen für die Dharmas in der Welt und beim Menschen lehnt er radikal als verfälschten Buddhismus ab.

Nāgārjuna geht darauf ein, welche Eigenschaften die wirklichen Dharmas haben. Sie wurden im vorbuddhistischen Indien metaphysisch als unveränderliche „Bausteine“ der gesamten Welt und des Lebens verstanden. Er stellt fest, dass solche statischen und unveränderlichen Bausteine der zentralen buddhistischen Lehre von Veränderung, gemeinsamem Entstehen in Wechselwirkung, Kausalität und Befreiung grundsätzlich widersprechen. Außerdem bekräftigt er, dass eine substantiale Doktrin das wirkliche Erwachen und die Befreiung des Menschen nicht erklären kann. Die wichtigsten Eckpunkte des Buddhismus sind in diesem Zusammenhang:

– Veränderung und Bewegung, aber keine Statik und Unveränderlichkeit,

– zusammenhängende Prozesse und Ereignisse, aber kein plötzlicher Beginn aus dem Nichts und kein plötzliches Ende in das Nichts,

– kein Nihilismus,

– keine Extreme wie absolute Existenz oder Nicht-Existenz, sondern die Realität des Mittleren Weges,

– gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung, aber keine isolierten unveränderlichen Entitäten,

– keine absolute Differenz und keine absolute Identität,

– Kausalität und Leerheit als Sichtweise für das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung,

– Einklang mit den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad Buddhas,

– Einklang mit den ethischen Regeln der buddhistischen Gelöbnisse.

 

Vers 15.1

Das Zusammen-Entstehen und Zusammen-Werden einer Eigen-Substanz (svabhāva), die ganz aus sich selbst geworden ist, ist nicht passend. Sie muss durch wechselwirkende Faktoren und einen veranlassenden Impuls (Kausalität) entstanden sein.

Eine sowohl durch Kausalität als auch wechselwirkende Faktoren entstandene Eigen-Substanz wäre etwas (künstlich) Geschaffenes.

 

Ein unveränderliches substantiales Seiendes, die Eigen-Substanz, die ohne Wechselwirkung ist, müsste aus sich selbst geschaffen sein. So etwas widerspricht jedoch der Wirklichkeit, die immer wechselwirkende Faktoren hat. Nāgārjuna arbeitet heraus, dass die Vorstellung und Idee eines unveränderlichen und isolierten Dharma, der aus sich selbst entstanden ist, eine metaphysische Doktrin, Spekulation oder Projektion eines Menschen ist.

Zu einem unveränderlichen Phänomen (Dharma), das allein aus sich heraus geworden ist, isoliert besteht und keine Entwicklung zulässt, passt kein gemeinsames Werden und kein „Sich-Zusammenfinden“ im lebenden Prozess. Ich bezeichne ein solches fiktives Seiendes als unveränderliche Eigen-Substanz. Das heißt, dass dieses Phänomen angeblich geworden ist, aber statisch oder sogar erstarrt ist. Veränderungs- und Lernprozesse sind mit einer statischen Weltanschauung von Dingen, Phänomen und Ideen nicht vereinbar. Nāgārjuna spricht davon, dass solche Vorstellungen nicht real sind und im Geist künstlich erzeugt und hervorgebracht werden. Durch die behauptete Isolation solcher Dinge und Phänomene voneinander kann es gerade keine Wechselwirkung, keine soziale Interaktion und auch keine menschliche Empathie geben. Nishijima Roshi ergänzt hierzu: „Die subjektive Existenz kann so verstanden werden, dass sie weitgehend künstlich durch die Menschen erzeugt wurde.“

Mit philosophischer Präzision destruiert Nāgārjuna die Doktrin des Substantialismus, also einer illusionären unveränderlichen Substanz im Seienden und in den Dharmas. Diese Doktrin, die sich auch innerhalb des Buddhismus entwickelt hatte, behauptet sogar, dass eine solche Substanz die wahre Eigen-Natur aller Dinge, Phänomene und Ereignisse sei. Das ist aber Unsinn und eine naive unbegründete Metaphysik. Mit den Methoden der Phänomenologie kann eine solche fiktive Eigen-Substanz oder Eigen-Natur nicht begründet werden. Nāgārjuna analysiert gründlich die Illusion einer unveränderlichen Substanz des Seins, des Seienden und des gesamten Menschen, in Sanskrit svabhāva. Dieser Begriff und dessen Semantik sind also ein zentraler Schlüssel zum Verständnis des gesamten MMK. Damit verbunden ist die Falsifizierung der angeblichen Fremd-Substanz:

 

Vers 15.3

Im Falle der Abwesenheit der Eigen-Substanz fragt sich, von woher etwas als Fremd-Substanz entstehen und werden würde.

Denn der Begriff der Fremd-Substanz wird aus dem Begriff der Eigen-Substanz abgeleitet.

 

Nāgārjuna führt in diesem Vers die Destruktion der Doktrin eines fremden unveränderlichen isolierten Seienden, der Fremd-Substanz, fort. Die dabei vorausgesetzte unveränderliche isolierte Eigen-Substanz des anderen fremden Dharmas müsste ebenfalls total aus sich selbst entstehen. Diese fremden Dharmas hätten auch keine Wechselwirkung mit irgendetwas anderem, da sie ja als isoliert angenommen werden.

Eine solche unveränderliche und isolierte Fremd-Substanz ist wie die Eigen-Substanz nur eine Idee, Ideologie oder ein Glaube an die unveränderliche Ur-Substanz eines Dings oder Phänomens, sie ist aber in der Realität nicht zu finden. Ganz im Gegenteil können wir beobachten, dass in der Wirklichkeit alle Dharmas nicht von den anderen Dharmas total getrennt sind, sondern sich in Wechselwirkung miteinander befinden. Außerdem verändern sie sich fortlaufend. Nach meinem Verständnis ist die griechische Philosophie von Parmenides und Platon durch eine solche Utopie maßgeblich verengt. Diese Verengung kann man durchaus als „Geburtsfehler“ der abendländischen Metaphysik bezeichnen, die auch von Heidegger beklagt wird. Er spricht vom „Ende der Philosophie“.

Durch die Destruktion einer doktrinären Substanz im Sein und Seienden und in falsch verstandenen Dharmas erarbeitet Nāgārjuna die Voraussetzungen, um die zentralen Fragen und fundamentalen Probleme des Menschen, des Selbst, der Kausalität, Emanzipation, der Befreiung und Erleuchtung zu behandeln. Damit schafft er die tragfähigen Grundlagen, um die Überwindung des Leidens nach den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad sowie die Vermeidung von Extremen der Existenz und Nicht-Existenz wirkungsvoll zu erreichen.

Die Semantik der in diesem Kapitel verwendeten Sanskrit-Begriffe bhāva (langes ā) und svabhāva hat nach meinem Verständnis eine beachtliche Ähnlichkeit mit dem unveränderlichen Sein und Seienden der westlichen Philosophie. Bei Nāgārjuna ist damit besonders das Substanzhafte des Seienden gemeint, das er als doktrinär-metaphysisch ablehnt. Er hat aber keine Vorbehalte gegen das dynamische und damit realistische Seiende in der Welt und beim Menschen. Die Doktrin der Substanz des Seienden und der Dharmas bezeichne ich daher im Einklang mit anderen Autoren als Substantialismus. In diesem Kapitel wird also vor allem das Substantialistische des Seienden (svabhāva) destruiert, das ich fiktive Eigen-Substanz nenne. Daraus wird sich die Frage ableiten, was das Selbst oder das Ich des Menschen wirklich ist.

Der Buddhismus stellt das Entstehen, Werden, die Emanzipation und Therapie sowie das Zur-Ruhe-Kommen des Menschen in den Mittelpunkt. Wie bereits erläutert, gibt es im Sanskrit für „Werden“ und „Entstehen“ den Begriff bhava (kurzes a) und für das Statische oder nicht veränderliche Substanzhafte den Begriff bhāva. In diesem MMK-Kapitel steht der zusammengesetzte Begriff svabhāva im Zentrum, also das unveränderliche und aus sich selbst entstandene Seiende, das Nāgārjuna als illusionären und täuschenden „Wesenskern“ oder „Substanzkern“ der Dharmas bezeichnet – die Eigen-Substanz.

In dem Sanskritwort bhāva für das statische Seiende schwingt zwar ein Rest von Werden und Entstehen (bhava) mit, aber die Hauptbedeutung zur Zeit Nāgārjunas sind Dauer und Substantialität des Seienden oder der Dharmas. Eine genaue Übersetzung von bhāva könnte „aus sich selbst gewordenes, unveränderliches substantiales Seiendes“ lauten, weil damit auch die „Gewordenheit“ angesprochen wird. Diese semantisch treffende Formulierung, die Elisabeth Steinbrückner in der wörtlichen Übersetzung verwendet, würde jedoch im Rahmen dieser Untersuchung und Interpretation das Verständnis zusätzlich erschweren. Daher möchte ich vor allem den kürzeren Begriff „Eigen-Substanz“, aber auch „substantiales Seiendes“, „Substanz-Seiendes“ oder „Pseudo-Substanz“ verwenden. Weitgehend synonym damit werde ich auch den etwas einfacheren Begriff „Substanzhaftes“ benutzen. In der MMK-Literatur finden sich vielfältige Alternativen für den zentralen Begriff svabhāva, zum Beispiel Selbstnatur, Self-Nature, Eigennatur, Eigenselbst, Eigenwesen und Selbst-Existenz, die mich aber nicht überzeugen. Den Begriff „Natur“ halte ich sogar für irreführend.

Nishijima Roshi erwähnt in diesem Zusammenhang weitere wichtige Aspekte: Das Seiende des Selbst und die subjektive Existenz des Menschen würden zwar häufig aus dem Sanskrit (svabhāva) mit „Selbstnatur“ oder „Selbstexistenz“ übersetzt, aber er möchte dafür den Begriff Idealismus verwenden, „also das Weltbild und die Lebensphilosophie, die dahinter stehen, nämlich dass das Denken, die Ideen und Ideale als die angeblich wahre oder höchste Wirklichkeit verstanden werden. Entsprechend wird das Materielle (und auch das dynamische Handeln) abgewertet oder sogar als unwirklich bezeichnet.“ Ähnliches gibt es in der griechischen Philosophie bei Platon. Der Buddhismus gehe jedoch über den Idealismus hinaus und nehme „die umfassende dynamische Wirklichkeit als Lebensgrundlage“.

Die Wirklichkeit wird maßgeblich durch unrealistische Extreme verborgen, erklärt Nāgārjuna.

 

Vers 15.7

In der Lehre des Erhabenen für Kaccāna wurden die beiden Extreme verneint: „Etwas existiert“ unverändert und „Etwas existiert (überhaupt) nicht“.

Der Erhabene beleuchtet und klärt damit die substantiale Doktrin des Seienden und Nicht-Seienden.

 

Mit diesem Vers spricht Nāgārjuna explizit Gautama Buddhas Lehre für den Schüler Kaccāna an. Darin lehnt Buddha die Extreme der Existenz und der Nicht-Existenz des Nichts eindeutig ab. Auf diese Weise beschreibt Nāgārjuna den Mittleren Weg als den befreienden Weg des Lebens, der mit solchen Extremen der Existenz unvereinbar ist. Dieser Weg führt aus dem Leiden heraus und ermöglicht Erwachen und Erleuchtung.

Die Extreme führen dagegen zu wirklichkeitsfremden Weltanschauungen und, schlimmer noch, zu Ideologien, die oft menschenverachtende Taten zur Folge haben. Man denke nur an die Rassenideologie der NS-Zeit und die islamischen Extreme der Terroristen zum Beispiel in Syrien, Afghanistan oder im Irak. Auch grausame Ideologien des mittelalterlichen europäischen Katholizismus sind solche Extreme. Sie führten zum Beispiel zu den Verbrechen der Kreuzzüge.

Der Mittlere Weg bedeutet aber keineswegs, dass es um Mittelmäßigkeit geht, sondern ganz im Gegenteil, dass es sich um den kraftvollen befreienden Weg des Lebens handelt: Dieser Weg ist die Kraft der Mitte und nicht die Krankheit der Extreme. Dabei wird die Realität des Entstehens und Vergehens betont, also die Prozesshaftigkeit der Welt und des Lebens.[ii]

Nishijima Roshi unterstreicht: „Kaccāna war ein wichtiger Schüler Gautama Buddhas. Der Erwachte hatte eine sehr kritische Einstellung zu langwierigen Diskussionen über Existenz oder Nicht-Existenz.“ Derartige abstrakte Diskussionen seien für Buddha überflüssig und würden vom Eigentlichen des Buddhismus wegführen. Sie seien weitgehend sinnlos und von geringer Klarheit. Nishijima sagt außerdem, dass bei der Wahrnehmung unser Gehirn nicht vollkommen exakt arbeiten würde. Die materielle Welt werde mit unseren Sinnesorganen nur zu einem gewissen Teil der Wirklichkeit erkannt: „Wir müssen uns davor hüten, dass wir das, was wir sehen, hören, fühlen usw. als die vollkommene umfassende oder absolute Realität verstehen.“ Dann sei der Schritt zu einer fiktiven, metaphysischen „Eigen-Natur“ nicht mehr weit. Das wäre ein naives Verständnis der Natur und der Wirklichkeit. Aber gerade um diese große Realität gehe es, „wenn wir aus den (doktrinären) Täuschungen des Lebens herauskommen wollen, um unsere Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten auszuschöpfen“.

 

Vers 15.10

Die Aussage „etwas existiert“ bedeutet, dass man an der Doktrin von Dauerhaftigkeit und Ewigkeit festhält.

Wer aber sagt „etwas existiert nicht“, vertritt die (ebenfalls täuschende) Doktrin jähen Abschneidens und des Nichts.

Deswegen möge der Einsichtige sich nicht auf die Zustände von „es existiert“ und „es existiert nicht“ stützen.

 

Die Zustände von Existenz und Nicht-Existenz sind also Extreme und werden von Buddha und Nāgārjuna falsifiziert, da sie nicht in der Welt als Wahrheit und Wirklichkeit zu finden sind. Der Mittlere Weg vermeidet Extreme, die in die Irre führen, und entwickelt seine Kraft zur Emanzipation und positiven Veränderung aus der Ablehnung der Extreme. Dazu Nishijima Roshi: „Wenn wir an einen unveränderlichen und festen, ewigen Kern der Wirklichkeit glauben, widerspricht das der Augenblicklichkeit und Veränderung in der Realität. Eine Augenblicklichkeit kann es gar nicht geben, wenn etwas unveränderlich ist.“

Mit diesem zusammenfassenden Kapitel schafft Nāgārjuna eine tragfähige Grundlage für die folgenden Kapitel, die sich mit dem ganzen wirklichen Menschen beschäftigen. Er wird sich vor allem auf den altindischen Glauben an einen ātman beziehen, also die ewige Ich-Substanz, und einen ewigen nicht-materiellen und unsichtbaren Ich-Kern des Menschen untersuchen. Im alten Indien glaubten die Menschen daran, dass dieser Ich-Kern endlos durch die Wiedergeburten wandern müsse, bis er in der Ewigkeit im Nirvāna aufgehen und „verwehen“ würde.


[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 228ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 141ff.

[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 232f.