Mit diesem Kapitel beendet Nāgārjuna den zweiten Hauptteil seiner scharfsinnigen Analysen, in denen es um die Dharmas in der Welt geht, also um Dinge, Phänomene, Ideen, Ereignisse, Zustände und Prozesse usw.[i] Er behandelt damit die Einzelheiten und die Vielfalt in der Welt, um die Grundlage für den nächsten Teil zu erarbeiten, für das Ganze des Menschen. Die Doktrin von unveränderlichen und unteilbaren Bausteinen für die Dharmas in der Welt und beim Menschen lehnt er radikal als verfälschten Buddhismus ab.
Nāgārjuna geht darauf ein, welche Eigenschaften die wirklichen Dharmas
haben. Sie wurden im vorbuddhistischen Indien metaphysisch als unveränderliche
„Bausteine“ der gesamten Welt und des Lebens verstanden. Er stellt fest, dass
solche statischen und unveränderlichen Bausteine der zentralen buddhistischen
Lehre von Veränderung, gemeinsamem Entstehen in Wechselwirkung, Kausalität und
Befreiung grundsätzlich widersprechen. Außerdem bekräftigt er, dass eine
substantiale Doktrin das wirkliche Erwachen und die Befreiung des Menschen
nicht erklären kann. Die wichtigsten Eckpunkte des Buddhismus sind in diesem
Zusammenhang:
– Veränderung und Bewegung, aber keine Statik und Unveränderlichkeit,
– zusammenhängende Prozesse und Ereignisse, aber kein plötzlicher Beginn
aus dem Nichts und kein plötzliches Ende in das Nichts,
– kein Nihilismus,
– keine Extreme wie absolute Existenz oder Nicht-Existenz, sondern die
Realität des Mittleren Weges,
– gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung, aber keine isolierten
unveränderlichen Entitäten,
– keine absolute Differenz und keine absolute Identität,
– Kausalität und Leerheit als Sichtweise für das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung,
– Einklang mit den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad
Buddhas,
– Einklang mit den ethischen Regeln der buddhistischen Gelöbnisse.
Vers 15.1
Das Zusammen-Entstehen und Zusammen-Werden einer Eigen-Substanz (svabhāva),
die ganz aus sich selbst geworden ist, ist nicht passend. Sie muss durch wechselwirkende Faktoren und einen
veranlassenden Impuls (Kausalität) entstanden sein.
Eine sowohl durch Kausalität als auch wechselwirkende
Faktoren entstandene Eigen-Substanz wäre etwas (künstlich) Geschaffenes.
Ein
unveränderliches substantiales Seiendes, die Eigen-Substanz, die ohne
Wechselwirkung ist, müsste aus sich selbst geschaffen sein. So etwas
widerspricht jedoch der Wirklichkeit, die immer wechselwirkende Faktoren hat. Nāgārjuna
arbeitet heraus, dass die Vorstellung und Idee eines unveränderlichen und
isolierten Dharma, der aus sich selbst entstanden ist, eine metaphysische
Doktrin, Spekulation oder Projektion eines Menschen ist.
Zu einem unveränderlichen Phänomen (Dharma), das allein aus sich heraus
geworden ist, isoliert besteht und keine Entwicklung zulässt, passt kein gemeinsames
Werden und kein „Sich-Zusammenfinden“ im lebenden Prozess. Ich bezeichne
ein solches fiktives Seiendes als unveränderliche Eigen-Substanz. Das heißt, dass dieses Phänomen
angeblich geworden ist, aber statisch oder sogar erstarrt ist. Veränderungs-
und Lernprozesse sind mit einer statischen Weltanschauung von Dingen, Phänomen
und Ideen nicht vereinbar. Nāgārjuna spricht davon, dass solche Vorstellungen
nicht real sind und im Geist künstlich erzeugt und hervorgebracht werden. Durch
die behauptete Isolation solcher Dinge und Phänomene voneinander kann es gerade
keine Wechselwirkung, keine soziale Interaktion und auch keine menschliche
Empathie geben. Nishijima Roshi ergänzt
hierzu: „Die subjektive Existenz
kann so verstanden werden, dass sie weitgehend künstlich durch die Menschen erzeugt wurde.“
Mit philosophischer Präzision destruiert Nāgārjuna die Doktrin des Substantialismus, also einer
illusionären unveränderlichen
Substanz im Seienden und in den Dharmas. Diese Doktrin, die sich auch innerhalb
des Buddhismus entwickelt hatte, behauptet sogar, dass eine solche Substanz die
wahre Eigen-Natur aller Dinge, Phänomene und Ereignisse sei. Das ist aber
Unsinn und eine naive unbegründete Metaphysik. Mit den Methoden der
Phänomenologie kann eine solche fiktive Eigen-Substanz oder Eigen-Natur nicht
begründet werden. Nāgārjuna analysiert gründlich die Illusion einer
unveränderlichen Substanz des Seins, des Seienden und des gesamten Menschen, in
Sanskrit svabhāva. Dieser Begriff und
dessen Semantik sind also ein zentraler Schlüssel zum Verständnis des gesamten
MMK. Damit verbunden ist die Falsifizierung der angeblichen Fremd-Substanz:
Vers 15.3
Im Falle der Abwesenheit der Eigen-Substanz fragt sich, von woher etwas als Fremd-Substanz entstehen und werden würde.
Denn der Begriff der Fremd-Substanz wird aus dem Begriff der Eigen-Substanz abgeleitet.
Nāgārjuna führt in diesem Vers die
Destruktion der Doktrin eines fremden unveränderlichen isolierten Seienden, der
Fremd-Substanz, fort. Die dabei
vorausgesetzte unveränderliche isolierte Eigen-Substanz des anderen fremden
Dharmas müsste ebenfalls total aus sich selbst entstehen. Diese fremden Dharmas
hätten auch keine Wechselwirkung mit irgendetwas anderem, da sie ja als
isoliert angenommen werden.
Eine solche unveränderliche und isolierte Fremd-Substanz ist wie die
Eigen-Substanz nur eine Idee, Ideologie oder ein Glaube an die unveränderliche
Ur-Substanz eines Dings oder Phänomens, sie ist aber in der Realität nicht zu
finden. Ganz im Gegenteil können wir beobachten, dass in der Wirklichkeit alle
Dharmas nicht von den anderen Dharmas total getrennt sind, sondern sich in
Wechselwirkung miteinander befinden. Außerdem verändern sie sich fortlaufend.
Nach meinem Verständnis ist die griechische Philosophie von Parmenides und
Platon durch eine solche Utopie maßgeblich verengt. Diese Verengung kann man
durchaus als „Geburtsfehler“ der abendländischen Metaphysik bezeichnen, die
auch von Heidegger beklagt wird. Er spricht vom „Ende der Philosophie“.
Durch die Destruktion einer doktrinären Substanz im Sein und Seienden
und in falsch verstandenen Dharmas erarbeitet Nāgārjuna die Voraussetzungen, um
die zentralen Fragen und fundamentalen Probleme des Menschen, des Selbst, der
Kausalität, Emanzipation, der Befreiung und Erleuchtung zu behandeln. Damit
schafft er die tragfähigen Grundlagen, um die Überwindung des Leidens nach den
Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad sowie die Vermeidung von Extremen
der Existenz und Nicht-Existenz wirkungsvoll zu erreichen.
Die Semantik der in diesem Kapitel verwendeten Sanskrit-Begriffe bhāva (langes ā) und svabhāva hat
nach meinem Verständnis eine beachtliche Ähnlichkeit mit dem unveränderlichen Sein und Seienden der westlichen Philosophie. Bei Nāgārjuna ist damit
besonders das Substanzhafte des Seienden gemeint,
das er als doktrinär-metaphysisch ablehnt. Er hat aber keine Vorbehalte gegen
das dynamische und damit realistische Seiende in der Welt und beim Menschen.
Die Doktrin der Substanz des Seienden und der Dharmas bezeichne ich daher im
Einklang mit anderen Autoren als Substantialismus.
In diesem Kapitel wird also vor allem das Substantialistische des Seienden (svabhāva) destruiert, das ich fiktive Eigen-Substanz nenne. Daraus wird sich
die Frage ableiten, was das Selbst oder das Ich des Menschen wirklich ist.
Der Buddhismus stellt das Entstehen, Werden, die Emanzipation und
Therapie sowie das Zur-Ruhe-Kommen des Menschen in den Mittelpunkt. Wie bereits
erläutert, gibt es im Sanskrit für „Werden“ und „Entstehen“ den Begriff bhava (kurzes a) und für das Statische
oder nicht veränderliche Substanzhafte den Begriff bhāva. In diesem MMK-Kapitel steht der zusammengesetzte Begriff svabhāva im Zentrum, also das
unveränderliche und aus sich selbst entstandene Seiende, das Nāgārjuna als
illusionären und täuschenden „Wesenskern“ oder „Substanzkern“ der Dharmas
bezeichnet – die Eigen-Substanz.
In dem Sanskritwort bhāva für
das statische Seiende schwingt zwar ein Rest von Werden und Entstehen (bhava)
mit, aber die Hauptbedeutung zur Zeit Nāgārjunas sind Dauer und Substantialität des Seienden oder der
Dharmas. Eine genaue Übersetzung von bhāva könnte „aus sich selbst gewordenes,
unveränderliches substantiales Seiendes“ lauten, weil damit auch die
„Gewordenheit“ angesprochen wird. Diese semantisch treffende Formulierung, die
Elisabeth Steinbrückner in der wörtlichen Übersetzung verwendet, würde jedoch
im Rahmen dieser Untersuchung und Interpretation das Verständnis zusätzlich
erschweren. Daher möchte ich vor allem den kürzeren Begriff „Eigen-Substanz“,
aber auch „substantiales Seiendes“, „Substanz-Seiendes“ oder „Pseudo-Substanz“
verwenden. Weitgehend synonym damit werde ich auch den etwas einfacheren
Begriff „Substanzhaftes“ benutzen. In der MMK-Literatur finden sich vielfältige
Alternativen für den zentralen Begriff svabhāva,
zum Beispiel Selbstnatur, Self-Nature, Eigennatur, Eigenselbst, Eigenwesen und
Selbst-Existenz, die mich aber nicht überzeugen. Den Begriff „Natur“ halte ich
sogar für irreführend.
Nishijima
Roshi erwähnt in diesem Zusammenhang
weitere wichtige Aspekte: Das Seiende
des Selbst und die subjektive Existenz des Menschen würden zwar häufig aus dem
Sanskrit (svabhāva) mit „Selbstnatur“
oder „Selbstexistenz“ übersetzt, aber er möchte dafür den Begriff Idealismus verwenden, „also das Weltbild und die Lebensphilosophie, die dahinter stehen,
nämlich dass das Denken, die Ideen
und Ideale als die angeblich wahre oder
höchste Wirklichkeit verstanden werden. Entsprechend wird das Materielle
(und auch das dynamische Handeln) abgewertet oder sogar als unwirklich
bezeichnet.“ Ähnliches gibt es in der griechischen Philosophie bei Platon. Der
Buddhismus gehe jedoch über den Idealismus hinaus und nehme „die umfassende dynamische Wirklichkeit als
Lebensgrundlage“.
Die Wirklichkeit wird maßgeblich durch unrealistische Extreme verborgen,
erklärt Nāgārjuna.
Vers 15.7
In der Lehre des Erhabenen für Kaccāna wurden die
beiden Extreme verneint: „Etwas existiert“ unverändert und „Etwas existiert
(überhaupt) nicht“.
Der Erhabene beleuchtet und klärt damit die
substantiale Doktrin des Seienden und Nicht-Seienden.
Mit
diesem Vers spricht Nāgārjuna explizit Gautama Buddhas Lehre für den Schüler
Kaccāna an. Darin lehnt Buddha die Extreme der Existenz und der Nicht-Existenz
des Nichts eindeutig ab. Auf diese Weise beschreibt Nāgārjuna den Mittleren Weg
als den befreienden Weg des Lebens, der mit solchen Extremen der Existenz
unvereinbar ist. Dieser Weg führt aus dem Leiden heraus und ermöglicht Erwachen
und Erleuchtung.
Die
Extreme führen dagegen zu wirklichkeitsfremden Weltanschauungen und, schlimmer
noch, zu Ideologien, die oft menschenverachtende Taten zur Folge haben. Man
denke nur an die Rassenideologie der NS-Zeit und die islamischen Extreme der
Terroristen zum Beispiel in Syrien, Afghanistan oder im Irak. Auch grausame
Ideologien des mittelalterlichen europäischen Katholizismus sind solche
Extreme. Sie führten zum Beispiel zu den Verbrechen der Kreuzzüge.
Der
Mittlere Weg bedeutet aber keineswegs, dass es um Mittelmäßigkeit geht, sondern ganz im Gegenteil, dass es sich um
den kraftvollen befreienden Weg des
Lebens handelt: Dieser Weg ist die Kraft
der Mitte und nicht die Krankheit der
Extreme. Dabei wird die Realität des
Entstehens und Vergehens betont, also die Prozesshaftigkeit der Welt und des
Lebens.[ii]
Nishijima Roshi unterstreicht: „Kaccāna war ein wichtiger Schüler Gautama Buddhas.
Der Erwachte hatte eine sehr kritische Einstellung zu langwierigen Diskussionen
über Existenz oder Nicht-Existenz.“ Derartige abstrakte Diskussionen seien für
Buddha überflüssig und würden vom Eigentlichen des Buddhismus wegführen. Sie
seien weitgehend sinnlos und von geringer Klarheit. Nishijima sagt außerdem,
dass bei der Wahrnehmung unser Gehirn nicht vollkommen exakt arbeiten würde.
Die materielle Welt werde mit unseren Sinnesorganen nur zu einem gewissen Teil
der Wirklichkeit erkannt: „Wir müssen uns davor hüten, dass wir das, was wir
sehen, hören, fühlen usw. als die vollkommene umfassende oder absolute Realität verstehen.“ Dann sei der Schritt
zu einer fiktiven, metaphysischen „Eigen-Natur“ nicht mehr weit. Das wäre ein
naives Verständnis der Natur und der Wirklichkeit. Aber gerade um diese große
Realität gehe es, „wenn wir aus den (doktrinären) Täuschungen des Lebens
herauskommen wollen, um unsere Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten
auszuschöpfen“.
Vers 15.10
Die Aussage „etwas existiert“ bedeutet, dass man an
der Doktrin von Dauerhaftigkeit und Ewigkeit festhält.
Wer aber sagt „etwas existiert nicht“, vertritt die
(ebenfalls täuschende) Doktrin jähen Abschneidens und des Nichts.
Deswegen möge der Einsichtige sich nicht auf die
Zustände von „es existiert“ und „es existiert nicht“ stützen.
Die Zustände
von Existenz und Nicht-Existenz sind also Extreme und werden von Buddha und
Nāgārjuna falsifiziert, da sie nicht in
der Welt als Wahrheit und Wirklichkeit zu finden sind. Der Mittlere Weg
vermeidet Extreme, die in die Irre führen, und entwickelt seine Kraft zur
Emanzipation und positiven Veränderung aus der Ablehnung der Extreme. Dazu Nishijima Roshi: „Wenn wir an
einen unveränderlichen und festen,
ewigen Kern der Wirklichkeit glauben, widerspricht das der Augenblicklichkeit und Veränderung in der Realität. Eine
Augenblicklichkeit kann es gar nicht geben, wenn etwas unveränderlich ist.“
Mit diesem zusammenfassenden Kapitel schafft Nāgārjuna eine tragfähige Grundlage für die folgenden Kapitel, die sich mit dem ganzen wirklichen Menschen beschäftigen. Er wird sich vor allem auf den altindischen Glauben an einen ātman beziehen, also die ewige Ich-Substanz, und einen ewigen nicht-materiellen und unsichtbaren Ich-Kern des Menschen untersuchen. Im alten Indien glaubten die Menschen daran, dass dieser Ich-Kern endlos durch die Wiedergeburten wandern müsse, bis er in der Ewigkeit im Nirvāna aufgehen und „verwehen“ würde.
[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 228ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s
Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 141ff.
[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S.
232f.