Sonntag, 9. Januar 2022

Das Entstehen, Fortdauern und Vergehen der Dinge und Phänomene, MMK, Kap. 7

 

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

Im Mittelpunkt dieses wichtigen Kapitels stehen die zentralen Veränderungen und Lernprozesse des Entstehens, Andauerns und des Vergehens, also des Zur-Ruhe-Kommens beim Menschen und in der Welt. Diese Veränderungen haben im Buddhismus fundamentale Bedeutung, denn es geht um die Überwindung des Leidens, das Beseitigen von deren Hemmnissen, das Entstehen von Befreiung, also um die Eröffnung des Mittleren Weges, damit unheilsame Doktrinen und gefährliche Extreme vermieden werden. Sehr prägnant und komprimiert werden solche Veränderungen in den Grundlagen der Achtsamkeit dargestellt. Buddha beschreibt dabei die genaue Betrachtung des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der geistigen Phänomene und Prozesse, der Dharmas, sowie deren Entstehen, Andauern und Vergehen.[i] Nāgārjuna beginnt dieses Kapitel mit dem folgenden Vers:

 

Vers 7.1

Falls das Entstehen zusammengesetzt, zusammenwirkend und so geformt ist, hat es die drei Merkmale Entstehen, Fortdauern und Vergehen.

Falls das Entstehen nicht zusammengesetzt und nicht geformt (also isoliert) wäre, fragt sich, wie das Entstehen sodann ein Merkmal von etwas Zusammengesetztem und Geformtem sein könnte.

 

Nach der authentischen buddhistischen Lehre hat ein sogenannter zusammengesetzter Dharma (Ding, Phänomen oder Ereignis) die drei Merkmale: Entstehen, Andauern und Vergehen. Das gilt zum Beispiel für das Entstehen der Faktoren der Erleuchtung und das Vergehen und Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und der Hemmnisse bei der Entwicklung zur Freiheit und Emanzipation.[ii]

Wenn man aber dogmatisch die Doktrin unveränderlicher und isolierter Dharmas (Substantialismus) vertritt, muss man die drei zusammengesetzten Bereiche von Entstehen, Andauern und Vergehen als drei getrennte substanzhafte Dharmas (Phänomene) annehmen. Diese als unveränderlich angenommenen Dharmas haben jeweils ein Merkmal, das sie als solche kennzeichnet. Das Entstehen als eigener Dharma ist dann von den Dharmas des Andauerns und Vergehens getrennt. Solche unveränderlichen Dharmas hätten danach eine Eigen-Substanz (svabhāva). Der Dharma des Entstehens hätte dann wiederum nach der Doktrin des Substantialismus als Merkmale die getrennten Dharmas des Entstehens, Andauerns und Vergehens. Ein solcher Dharma wäre aber gerade nicht zusammengesetzt und nicht mit dem Andauern und Vergehen verbunden, sondern isoliert und unveränderlich. Nāgārjuna destruiert eine solche Doktrin der Eigen-Substanz im gesamten MMK als falsche irreführende Lehre und falsifiziert damit den Substantialismus der Sarvastivadins seiner Zeit.

Wichtig ist dabei, dass es sich beim wahren veränderlichen Dharma um einen Vorgang des Entstehens, Machens und Erzeugens handelt, der zu einem „Gemachten“ führt und mit dem Menschen in seinem Befreiungsprozess verbunden ist. Dieses Gemachte ist also nicht isoliert und unveränderlich, sondern beim Entstehen, Fortdauern und Vergehen veränderlich. Es hat demnach Ähnlichkeiten mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada. Das in diesem Vers verwendete Wort samskrita betont nach meinem Verständnis das Machen und Handeln des Menschen. Ein gutes Beispiel ist das Gleichnis des Drechslers, der handelt, indem er drechselt.

In diesem Sinne gibt es bei den Phänomenen (Dharmas) in der Welt die Merkmale des Entstehens, Andauerns und Vergehens. Das heißt, diese Merkmale, die konkret zu beobachten sind, kommen beim menschlichen Verhalten, Denken, Fühlen und Handeln vor, und sie werden maßgeblich durch unsere jeweiligen psychischen und geistigen Dispositionen, Strukturen und Muster gesteuert. Das erweist sich als besonders problematisch, wenn diese Muster und Bahnungen durch Gier, Hass und Verwirrung bestimmt werden. Dann gibt es keine Freiheit zur rechten Sichtweise, zum rechten Denken, Fühlen und Handeln.

Prozesse und Phänomene kann man nicht sinnvoll als unveränderliche oder gar ewig existierende substantialistische Entitäten verstehen, weil die wirklichen Phänomene veränderlich sind und keinen unveränderlichen Kern haben. Bei Phänomenen, Dharmas, ist also das gesamte metaphysische Modell einer unveränderlichen inneren Substanz in Verbindung mit äußerlichen veränderlichen Merkmalen hinfällig. Aber genau diese nach Buddha falsche Doktrin hatte sich im indischen Buddhismus in der Zeit bis zu Nāgārjuna verbreitet. Der Widerspruch zu Buddhas authentischer Lehre war wohl den jeweiligen Anhängern nicht bewusst.

Bei allen Buddhisten war es unbestritten, dass Buddha den Glauben an einen unveränderlichen ātman als dauerhaften ewigen substantiellen Kern des Menschen radikal abgelehnt hatte. Trotzdem schlichen sich ganz ähnliche Doktrinen unter dem Deckmantel des Buddhismus ein. Diese werden von Nāgārjuna besonders in diesem Kapitel enttarnt und destruiert. Im zweiten Teil des Verses 7.1 stellt er daher die Frage, wie das Entstehen ein Merkmal sein kann, falls es nicht zu einem Zusammengesetzten gehört. Es wäre dann eine isolierte Entität ohne Wechselwirkung und nach der Präambel und dem ersten Kapitel gar nicht real. Maßgebend für das Zusammengesetzte ist daher, ob es als dynamische Wechselwirkung erkannt wird.

Nāgārjuna destruiert in diesem Kapitel die Doktrinen des Substantialismus, Momentanismus und Nihilismus, indem er nachweist, dass mit ihnen der wahre Buddhismus verfälscht und teilweise sogar in sein Gegenteil verkehrt wird.[iii] Dieses Kapitel ist das zweitlängste im MMK, nur das Kapitel 24 über die Vier Edlen Wahrheiten ist noch umfangreicher. Es muss daher für Nāgārjuna von fundamentaler Bedeutung sein.

Bevor seine Analysen zusammenfassend dargestellt werden, möchte ich Buddha zitieren, um deutlich zu machen, dass sich Nāgārjunas Destruktionen falscher Doktrinen direkt auf Buddhas Aussagen beziehen. Im Sūtra über die Grundlagen der Achtsamkeit erklärt Buddha zu den Fünf Hemmnissen des Erwachens:

„Da erkennt, ihr Mönche, ein Mönch, wenn in ihm auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen da ist: ‚In mir ist auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen.‘ Er erkennt, wenn in ihm kein auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen da ist: ‚In mir ist kein auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen.‘ Wie nicht entstandenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen entsteht, auch das erkennt er. Wie entstandenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen vergeht, auch das erkennt er. Und wie vergangenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen künftig nicht mehr entsteht, auch das erkennt er.“[iv]

Mithilfe der Achtsamkeit kann man laut Buddha also bei den Hemmnissen auf dem Weg der Befreiung und Erleuchtung bei sich selbst klar erkennen, ob zum Beispiel ein auf „Sinnlichkeit gerichtetes Wollen“ zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorhanden ist. Dann untersucht man weiter, wie dieses Wollen entsteht, wenn es noch nicht vorhanden ist. Es geht also um das „nicht entstandene auf Sinnlichkeit gerichtete Wollen“. Das genannte Wollen war demnach bisher nicht da, es war nicht entstanden, aber es ist im Prozess des Entstehens. Diesen Prozess kann man bei sich selbst erkennen. Umgekehrt wird ebenfalls beobachtet, wie das bereits entstandene Wollen vergeht. Es wird also der Prozess des Entstehens und Vergehens genauer untersucht. Schließlich wird drittens das künftige auf Sinnlichkeit gerichtete Wollen besprochen und wie man erkennt, wie dieses Wollen nicht entsteht.

Im gleichen Sūtra führt Buddha die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad für die eigene Befreiung ein. Damit ergibt sich die Verbindung zum aktiven eigenen Verändern und Handeln. Voraussetzung dafür ist, die Phänomene, Dharmas, genau zu analysieren und zu beobachten und nicht voreilig absolute moralische Ziele anzustreben. Sonst besteht die Gefahr der verzerrten Beobachtung, weil die realen Zusammenhänge der Phänomene und deren prozessualen Veränderungen nicht mehr erkennbar sind.

In analoger Weise behandelt Buddha die Sieben Faktoren des Erwachens, also die Achtsamkeit, die Unterscheidung der Dinge und Phänomene, die Energie, Freude, Gestilltheit, Sammlung und den Gleichmut. Über die Freude sagt er:

„(Der Mönch) erkennt, wenn in ihm das Glied des Erwachens ‚Freude‘ da ist: ‚In mir ist das Glied des Erwachens ‚Freude‘ da.‘ Er erkennt, wenn in ihm das Glied des Erwachens ‚Freude‘ nicht da ist: ‚In mir ist das Glied des Erwachens ‚Freude‘ nicht da.‘ Wie das unentstandene Glied des Erwachens ‚Freude‘ entsteht, auch das erkennt er; wie das entstandene Glied des Erwachens ‚Freude‘ sich völlig entfaltet, auch das erkennt er.“[v]

Auch hier ist zunächst das Erkennen des Zustands, ob die Freude in uns selbst vorhanden ist oder nicht, von Bedeutung. Implizit ist damit verbunden, dass man keinen Täuschungen unterliegt, ob es sich um echte Freude handelt oder oberflächlichen Selbstbetrug. Wichtig ist die sehr gründliche, pragmatische Analyse unseres eigenen Zustands und besonders dessen Veränderungen. Anschließend spricht Buddha davon, wie die Freude entsteht und wie sie sich völlig entfaltet.

Kurz gesagt geht es zunächst um die klare Beobachtung, ob das Unheilsame da ist oder nicht und ob das Heilsame da ist oder nicht. Dann folgt das Erkennen, wie das Unheilsame vergeht und das Heilsame entsteht. Und schließlich wird erwähnt, wie man bereits frühzeitig klar erkennt, dass das unheilsame Hemmnis nicht entsteht und das Heilsame des Erwachens entsteht und sich allmählich voll entfaltet.

Kalupahana fasst die Bedeutung dieses MMK-Kapitels wie folgt zusammen: „Die Ideen des Entstehens, Andauerns und Vergehens werden dann als illusorisch abgelehnt, wenn (und nur dann!) sie substantialistisch verstanden werden.“[vi] Er erklärt, dass Nāgārjuna in diesem Kapitel die Destruktion der Ideologie und Doktrin des Substantialismus vornimmt, der vor allem von den Sarvastivadins vertreten wurde. Wenn man an eine solche Doktrin von ewigen unveränderlichen Entitäten glaube, ergeben sich im Zusammenhang mit den Phänomenen des Entstehens, Andauerns und Vergehens unlösbare Widersprüche, die damit eindeutig beweisen, dass die gesamte Doktrin unbrauchbar ist und falsifiziert werden muss. Und genau das tut Nāgārjuna in diesem wichtigen siebten Kapitel. Kalupahana betont auch, dass es keinesfalls darum geht, die wirklichen Prozesse des Entstehens, Andauerns und Vergehens zu falsifizieren, sondern darum, mit der Doktrin des absolut Substanzhaften durch die inneren Widersprüche zu beweisen, dass diese Doktrin falsch ist. Ich folge seinem Verständnis ausdrücklich.

Seit Buddha hatten sich also vor allem zwei Doktrinen und sektenartige Gruppierungen herausgebildet, die beide auf unterschiedliche Weise den prozessualen Zusammenhang der drei Phasen ablehnten und getrennte unveränderliche Entitäten statt eines zusammenhängenden Prozesses postulierten.

Die erste buddhistische Gruppierung, die Sarvastivadins – ich bezeichne sie als Substantialisten –, unterstellte eine ewige unveränderliche Substanz der Dharmas im Sinne eines unsichtbaren Kerns, der gleich bleibt und dauernd existiert. Diese kernhafte Substanz ergebe zusammen mit mindestens einem markanten Merkmal etwas sichtbar Seiendes. Die Kombination von Substanz und Merkmal sei die für uns erkennbare Welt, in der wir leben. Die grundsätzliche Sehnsucht der Inder nach Unveränderlichkeit und Ewigkeit muss dabei eine fundamentale mystische Energie entwickelt haben. Die markanten Sanskrit-Begriffe in diesem Zusammenhang sind bhāva für ein unveränderliches Seiendes und svabhāva für ein unveränderliches und aus sich selbst entstandenes Seiendes. Beide Begriffe markieren also die unveränderliche ewige Existenz.

Durch diese grundsätzliche semantische Verschiebung der buddhistischen Begriffe vom Veränderlichen zum Statischen entwickelte sich unversehens eine nicht erkannte existenzielle Ähnlichkeit zum Glauben an den vorbuddhistischen ātman. Dieser führt nach Buddha unausweichlich ins Leiden. Nāgārjuna beweist nun, dass unveränderliche ewige Dharmas, Dinge und Phänomene keine Veränderungen in unserem Leben ermöglichen und mit der buddhistischen Lehre nicht vereinbar sind. Denn wie soll es tiefgreifende Veränderungen beim Menschen geben, wenn seine „Bausteine“, die Dharmas, statisch und isoliert voneinander sind? Das ist nicht zu beobachten.

Nach dieser statischen Lehre würde sich die unveränderliche Substanz eines Dharmas jeweils mit den drei Merkmalen Entstehen, Andauern und Vergehen manifestieren und auf diese Weise sichtbar und erkennbar sein. Es leuchtet unmittelbar ein, dass mit diesem Dharma-Modell die von Buddha gelehrten Veränderungen und Befreiungen des Menschen nicht sinnvoll zu erklären sind. Nāgārjuna destruiert daher diese Doktrin der statischen isolierten Dharmas im MMK konsequent und scharfsinnig, um die wahre Lehre Buddhas wieder herauszuarbeiten.

In radikaler Opposition zum Substantialismus vertrat die Gruppe der Sautrantikas die Doktrin des Momentanismus. Sie lehnten die Dauerhaftigkeit der Dharmas ab und wollten auf diese Weise der wahren buddhistischen Lehre entsprechen. Sie behaupteten, dass die Welt aus zeitlich getrennten, sehr kurzen Ereignissen bestehen würde, also aus „Zeit-Bausteinen“, aus denen die Welt und das Leben zusammengesetzt sein sollten. Diese Ereignisse seien nicht miteinander verbunden, sondern würden schlagartig ohne Übergang erscheinen und sofort wieder ohne Übergang abrupt verschwinden. Die Anhänger dieser Doktrin waren davon überzeugt, dass dadurch Buddhas Lehre vom gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) philosophisch widerspruchsfrei erklärt werden könne, weil es überhaupt kein Andauern, keine Statik oder gar ewige Existenz mehr gäbe.

Das kaum lösbare Problem der Momentanisten war jedoch, die wie auch immer geartete Verbindung der zeitlichen Bausteine zu erklären, das heißt, wie ein momentanes isoliertes Ereignis zum nächsten überleitet. Dieses Grundmodell der getrennten Zeitmomente wird auch heute zum Teil fälschlich im Zen verwendet. So wird beispielsweise für die getrennten Augenblicke die Metapher einer Perlenkette der Momente ohne verbindende Schnur benutzt. Ich halte diese Metapher nicht für fruchtbar und sehe sie durch Nāgārjunas Argumentation klar destruiert. Die Momentanisten waren gezwungen zu behaupten, dass das folgende momentane Ereignis bereits vor dem Entstehen des vorherigen Ereignisses existieren würde. Dieser Ansatz wird von Nāgārjuna ebenfalls unmissverständlich destruiert, denn der von Buddha gelehrte Prozess der Befreiung und des Erwachens ist damit nicht sinnvoll zu erklären.

Buddha hat erkannt, dass die Natur der Welt und des Menschen vier zentrale Charakteristika hat, die konkret beobachtet und erfahren werden können und evident sind:

– Die Welt ist veränderlich und nicht statisch oder dauerhaft.

– Sie entsteht und vergeht in Wechselwirkung, ist also vernetzt.

– Sie bildet eine Ganzheit, ist also zusammengefügt.

– Wir können aktiv durch Handeln auf uns selbst und die Umwelt einwirken.

 

Außerdem lehrt er in aller Klarheit, dass es in der Welt keine Extreme gibt: Wir können keine absolute Existenz oder Nicht-Existenz von irgendwelchen Entitäten oder Bausteinen beobachten oder erfahren. Unabhängige und isolierte Bausteine, Dharmas, gibt es in der Wirklichkeit nicht. Solche absoluten Behauptungen sind daher nicht wahr, sondern ideologische und absolutistische Unwahrheiten. Wer daran glaubt und danach handelt, erfährt unweigerlich die „ganze Masse des Leidens“, wie es Buddha ausdrückte. Jeder, der sich die Ideologien des deutschen Nationalismus und des katholischen Absolutismus des späten Mittelalters vor Augen führt, wird dem sicher zustimmen.

Das zweite MMK-Kapitel behandelt das Gehen und den Prozess der Bewegung im Zusammenhang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nāgārjuna destruiert dort ungenaue Vorstellungen und verzerrende Doktrinen des Gehens und Bewegens, die keine Beziehung zur Wirklichkeit von Prozessen und Veränderungen haben. Sie führen folglich in die Irre und verhindern Erweiterungs- und Emanzipationsprozesse des Menschen. Die Analogie zu Kapitel 7 liegt auf der Hand. Hier behandelt Nāgārjuna die Ganzheit und das Zusammenwirken von Entstehen, Andauern und Vergehen der Dinge und Phänomene, Dharmas, nach der authentischen Lehre Buddhas. Das bedeutet gleichzeitig, dass er die erwähnten nicht-authentischen Doktrinen falsifiziert.

In konsequenter Fortsetzung der Analyse des Gehens bearbeitet Nāgārjuna hier die Frage des Entstehens, Andauerns und Vergehens von verschiedenen Prozessen. Er bezieht sich dabei auf eine zentrale Aussage Buddhas zum Befreiungsweg, der im Sūtra „Grundlagen der Achtsamkeit“ sehr genau geschildert wird.[vii] Es heißt dort wiederholt, dass wir das Entstehen, Andauern und Vergehen von Gedanken und Gefühlen genau beobachten und analysieren sollen, um nicht unreflektiert von Affekten, Gefühlen und bohrenden Gedanken besetzt und durch sie fixiert zu werden. Auch hierbei handelt es sich um ein zeitliches Nacheinander, also um einen zusammenhängenden Prozess, der – vereinfacht ausgedrückt – in die drei Bereiche Entstehen, Andauern und Vergehen gegliedert wird. Dabei darf aber niemals vernachlässigt werden, dass es sich nicht um getrennte und isolierte Abschnitte, Bausteine oder Entitäten handelt, sondern dass ein kontinuierlicher Zusammenhang und eine fortlaufende Wechselwirkung bestehen. Die Wechselwirkung als Prozess steht in einem klaren Widerspruch zu dem Modell von unveränderlichen zusammengesetzten Entitäten nach der Doktrin der Substantialisten. Und genau dieser Widerspruch führt in diesem Kapitel zur Falsifizierung von deren Doktrin.

Was können wir uns nun unter einem solchen Prozess des gemeinsamen Entstehens und Vergehens konkret vorstellen? Ein Beispiel: Beim Dialog zwischen zwei oder mehreren Menschen entstehen in der jeweiligen Interaktion und Wechselwirkung bestimmte neue Gedanken, Ideen und Zusammenhänge. Wenn also ein Dialogpartner zu einem Thema etwas einbringt, entstehen bei dem anderen Menschen damit vernetzte und gekoppelte Gedanken, die sowohl durch den „Input“ seines Gesprächspartners als auch durch eigene Vor-Erfahrungen, Erinnerungen und vor allem durch Denk- und Gefühlsmuster im jeweiligen neuronalen Netz geprägt sind. Die neuen Assoziationen sowie die kreativen weiterführenden Ideen und Gefühle können wiederum in die Kommunikation eingebracht und zurückgekoppelt werden. Sie setzen beim Anderen entsprechende weiterführende Prozesse in Gang in Gang. Derartige Dialoge sind dann besonders fruchtbar, wenn sie mit Empathie und einem gewissen Gleichklang auf der Gefühlsebene verbunden sind, denn beim Menschen entstehen selten innovative und kreative Ideen isoliert von Gefühlen. Kreativität und Stress, der Angst erzeugt, schließen sich gemäß der Erkenntnisse der Gehirnforschung aus. Unter Stress und Angst kann man daher dem Leiden nicht entkommen, und das Erwachen ist ausgeschlossen.

Die Gedanken und Gefühle können wir auch als Phänomene oder Gegebenheiten bezeichnen, die bekanntlich im Buddhismus Dharmas genannt werden. Sie haben eine fundamentale Bedeutung für den Aufbau der buddhistischen Lehre und das buddhistische Weltverständnis. Es ist in der buddhistischen Gschichte allerdings nicht ausgeblieben, dass auch tief greifende Missverständnisse und Irrlehren entstanden sind. In diesem Kapitel werden sie von Nāgārjuna destruiert und richtiggestellt.

Die Semantik des Begriffs Dharma ist für uns westliche Menschen nicht einfach zu verstehen. Eine direkte Übersetzung, die Nishijima Roshi gern für Dharmas verwendete, lautet „Dinge und Phänomene“, wobei die Dinge eher einen statischen Aspekt benennen. Phänomene kann man dagegen eher als prozesshaft und nicht-materiell verstehen. Im vorbuddhistischen Indien wurde der Begriff Dharma vor allem für Gedanken und Dinge verwendet, die als unveränderliche Bausteine der Welt und des Lebens verstanden wurden. Dies ist natürlich eine metaphysische erdachte Annahme, die nicht real wahrgenommen werden kann. Bei Buddha geht es dagegen hauptsächlich um erkennbare und erfahrbare Veränderungsprozesse, sodass die Vorstellung von unveränderlichen Bausteinen und Entitäten wenig sinnvoll ist. Die Veränderungsprozesse betreffen zum Beispiel das Entstehen von Leiden und andererseits die Überwindung und das Vergehen von Leiden sowie die Entwicklung zum Erwachen und zur Erleuchtung. Veränderungen haben also eine zentrale Bedeutung im Buddhismus, und sie sind in der Tat für wichtige Lernprozesse unabdingbar. Wenn man konstante unveränderliche Entitäten mit einer ewigen inneren Substanz annehmen würde, könnte es genau genommen überhaupt keine grundsätzlichen Veränderungen, kein Lernen und keine positive Entwicklung geben.

Vielfache Entwicklungsprozesse finden beim Menschen vor allem in der Kindheit und Jugend statt. Zum Beispiel lernen Kinder, sich in der Welt zurechtzufinden, die Motorik und Feinmotorik auszubilden und zu trainieren, die Sprache zu erlernen und für die Kommunikation einzusetzen. Mit zunehmendem Alter tritt häufig eine Art von Erstarrung ein und Lernprozesse stagnieren. Friedrich Nietzsche sagte zu solcher Erstarrung: „Wehe, wenn wir nicht mehr den Pfeil über uns hinauswerfen. Wehe, wenn die Sehne nicht mehr schwirrt.“[viii] Da nach den Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung unser „Glückszentrum“ gleichzeitig unser Lernzentrum ist, sinkt die Lebensfreude im Alter deshalb bei vielen Menschen immer mehr ab. Das mündet nicht selten in Altersdepression und Einsamkeit: Die wichtigen Befreiungs- und Entwicklungsprozesse erlahmen dann oder sind ganz zu Ende.

Nāgārjuna hat dieses Phänomen präzise erkannt und spricht daher von dem statischen „Geworden-Seienden“ der Dharmas, das einer dauerhaften unveränderlichen Existenz recht nahe kommt. Eine solche unveränderliche Existenz kann materiell wie ein Ding oder eine Sache und ideell wie eine Idee als Entität verstanden werden. Wenn diese Ideologie verabsolutiert wird, handelt es sich um die Doktrin einer unveränderlichen metaphysischen Substanz oder nicht-materiellen Essenz. Beide Weltanschauungen sind aus Nāgārjunas Sicht nicht korrekt und erzeugen früher oder später menschliches Leiden.

Für den Menschen, der nach buddhistischer Vorstellung in fünf Komponenten (skandhas) gegliedert ist und keinen gesonderten Ich-Kern im Sinne der vorbuddhistischen Ātman-Lehre hat, sind Erstarrungen und Festlegungen jedoch in keinem Lebensalter zwingend. Sie entstehen vermutlich durch das Streben nach Sicherheit und Dauerhaftigkeit, durch zunehmende Trägheit und durch Angst vor negativen Entwicklungen und Verlusten. Aber wie Buddha überzeugend sagte, sind es gerade die Scheinsicherheiten, die den Prozess des Lebens verhärten oder sogar unmöglich machen. Sie verleihen also keine Sicherheit, sondern erzeugen im Gegenteil latente oder offene Ängste. Wie wir aus der Gehirnforschung wissen, reduzieren Ängste nicht nur die Denk- und Reflexionsmöglichkeiten, sondern verhindern auch Kreativität bei Entwicklungsprozessen. Verkürzt könnte man sagen: „Angst und Stress machen dumm.“ Dagegen bietet Veränderung die Chance, dass sich etwas Neues entwickelt und der Mensch sich durch Erfahrung und Lernen befreit und emanzipiert. Und die Grundlage dafür sind veränderliche und lernfähige Dharmas, Dinge, Phänomene und Ereignisse.

Die moderne Gehirnforschung sagt kurz gefasst: „Das Gehirn ist genau das, was es macht, und es lernt immer.“ Wenn wir also positive Gefühle und Gedanken in uns entstehen lassen, wird unser Gehirn grundsätzlich in dieser Weise gebahnt und entwickelt geeignete Muster und Bahnungen für weitere Assoziationen und kreative Gedanken und Gefühle. Nach meinem Verständnis gehört dieser Aspekt zur Bedeutung des Sanskrit-Begriffs samskāra, also im Deutschen bewusste und unbewusste „formende Kräfte“ und „veränderliche Prägungen“. Diese Begriffe werden in der Literatur oft missverständlich oder verwirrend verwendet. Es gibt beim Menschen intensive Wechselwirkung im neuronalen Netz, sodass eine enge dynamische Verknüpfung von Gefühlen und Gedanken besteht. Wer überwiegend auf negative Gefühle und Gedanken fixiert ist, programmiert selbst sein Gehirn in diesem negativen Sinn. Als Ergebnis wird er in der Welt und bei anderen Menschen überwiegend die negativen Bereiche wahrnehmen und abspeichern, die genau für sein Gehirn typisch sind. Diese bilden dann eine negative Grundstrukturierung als entsprechende Bahnung für die folgenden Ideen, Erlebnisse und Erfahrungen. Aus der hohen Komplexität der Welt wird infolgedessen das Negative selektiert und verstärkt, sodass depressive Stimmungen und Leiden entstehen. Bei den Fünf Hemmnissen der Befreiung bezeichnet Buddha dies als Zweifelsucht. Eine solche Zweifelsucht entspricht dem hier untersuchten Dharma.

Von zentraler Bedeutung ist die Ablehnung absoluter Extreme, beispielsweise die Annahme von absolut statischen und isolierten Dharmas, Dingen und Phänomenen. Fundamental sind auch die ideologiefreie Lehre der Kausalität und Verursachung und nicht zuletzt eine praktikable Ethik. Buddha geht es um positive Veränderungen in unserem Leben und in der Welt, also um das Entstehen, Andauern und Zur-Ruhe-Kommen der Dinge, Phänomene und Ereignisse (Dharmas): das Vergehen des Leidens und Entstehen von Freude, Ausgeglichenheit und Kreativität. Sie betreffen alle Bereiche der Menschen und der Welt und sind die Grundlage der buddhistischen Lehre. Durch Selbst-Verwirklichung und Selbst-Transformation stoßen wir laut Buddha in neue Lebensbereiche vor.

Vor diesem Hintergrund deckt Nāgārjuna die gravierenden inneren Widersprüche und Halbwahrheiten des Substantialismus und Momentanismus auf, indem er sich auf Buddhas Verständnis der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada), der Veränderlichkeit und der Ganzheitlichkeit der Welt bezieht. In dem maßgeblichen Vers heißt es im Gegensatz zu den einseitigen verfälschenden Doktrinen: „Was auch immer in Wechselwirkung wird und entsteht, das ist beruhigt und im Gleichgewicht.“ Das heißt auch, dass die beiden Doktrinen des Substantialismus und Momentanismus kein Gleichgewicht des Menschen bewirken, sondern im Gegenteil zu Unruhe, Zerrissenheit, Leiden, zur Vereinsamung und Depression führen.

Wie falsifiziert nun Nāgārjuna die falsche Annahme von zusammengesetzten isolierten und statischen Dharmas? Sie müssten auf ein Ur-Phänomen des Entstehens, also ein Wurzel-Entstehen zurückgeführt werden:

 

Vers 7.5

Wenn für Dich das Entstehen des Entstehens ein Wurzel-Entstehen ist, ist zu fragen, wie dieses Wurzel-Entstehen selbst erzeugt wird.

Wie wird für Dich dieses Wurzel-Entstehen sich selbst erzeugen, wenn nicht durch das wurzelhaft Erzeugte selbst?

 

Auch das wurzelhafte Ur-Entstehen muss ja selbst erzeugt werden, um zu existieren. Daher müsste dieses Ur-Entstehen ebenfalls etwas sein, das aus einem anderen, noch davor liegenden Wurzelhaften erzeugt wird, sonst müsste es aus sich selbst entstanden sein.

Nāgārjuna distanziert sich vom Glauben und von der Lehre eines Ur-Entstehens als statischem Baustein. Folgerichtig fragt er, woher denn dieses kommen könne. Es müsste vor ihm ein noch ursprünglicheres Entstehen, also ein Ur-Ur-Entstehen, vorhanden sein, das in der Folge weiteres Entstehen bewirken und erzeugen würde. Durch seine Formulierung „Wenn für Dich das Entstehen des Entstehens ein Wurzel-Entstehen ist“ distanziert er sich hier von einem imaginären Kontrahenten, der die für Nāgārjuna nicht akzeptable Doktrin der statischen Dharmas vertritt. Ein solcher Kontrahent verteidigt dann die Doktrin des Substantialismus und behauptet, dass der Effekt und damit die Wirkung bereits in der Ursache enthalten seien. Das wäre ein Entstehen total aus sich selbst, das Nāgārjuna aber bereits im ersten Kapitel des MMK falsifiziert hat. Er korrigiert eine solche erstarrte Doktrin:

 

Vers 7.16

Was auch immer in Wechselwirkung wird und entsteht, ist beruhigt. Es ist daher beruhigt und unabhängig von der (falschen) Doktrin der Eigen-Substanz (svabhāva).

Deswegen sind das gerade Entstehende und die Entstehung (in der Wirklichkeit) beruhigt.

 

Nāgārjuna unterscheidet hier zwischen dem, was in Wechselwirkung entsteht und daher beruhigt ist, und dem, was durch die falsche Doktrin determiniert ist, sodass es aus sich selbst entstanden sein müsste, und deshalb nicht beruhigt ist. Oder anders ausgedrückt: Durch die Wahrheit des wechselwirkenden Entstehens entkommt man dem Irrglauben, dass etwas aus sich selbst entstanden sei. Dieser Irrglaube kommt dadurch zur Ruhe und verliert seinen falschen absoluten Wahrheitsanspruch! Damit leitet Nāgārjuna aus der bisherigen Destruktion zu einem konstruktiven authentischen Buddhismus über. Er fährt in seiner Argumentation fort:

 

Vers 7.23

Andauern und Bestehen sind für ein (substanzhaftes) Seiendes nicht möglich, das gerade zur Ruhe kommt.

Was aber überhaupt nicht zur Ruhe kommt, dieses ist selbst kein substanzhaftes Seiendes. 

 

Ein substanzhaftes Seiendes kann sich nicht verändern und daher auch nicht zur Ruhe kommen, weil es überhaupt nicht prozesshaft und veränderlich ist. Wenn ein seiendes Ding oder Phänomen wirklich ist, muss es sich dynamisch verändern, und dann kann es auch entstehen und zur Ruhe kommen. Wenn etwas jedoch nicht zur Ruhe kommt, kann es demnach nichts real Seiendes sein. Auch in diesem Vers wird also die Doktrin des Substantialismus eindeutig destruiert.

Damit kommt Nāgārjuna zum klaren Schluss, dass die Doktrin des Substantialismus voller innerer Widersprüche ist. Sie verhindere, dass man die Wirklichkeit erkenne:

 

Vers 7.34

Wie ein Trugbild, wie ein Traum, wie eine illusionäre Stadt der Gandharven-Wesen, so wurden das oben angeführte Entstehen, Andauern sowie Vergehen und Abbrechen beschrieben.

 

Wer die Illusion und doktrinäre Weltanschauung von statischen und erstarrten Dingen und Phänomenen (Dharmas) als unveränderliche Entitäten hat, lebt in einer illusionären Welt und hat keinen Zugang zur Wirklichkeit und Wahrheit. Ein tatsächliches Verständnis der Wirklichkeit ist aber die unabdingbare Voraussetzung für Lernprozesse, Selbstbeobachtung und den Befreiungsweg.

Die unreale Vorstellungswelt beschreibt Nāgārjuna hier als Illusionsstadt der Gandharvas, als Trugbild und als Traum. Das bedeutet aber gerade nicht, dass es überhaupt keine Wirklichkeit in der Welt geben würde und alles nur Illusion, Trugbild oder Traum wäre.[ix] Eine solche Betrachtungsweise wäre Nihilismus. Ganz im Gegenteil charakterisiert Nāgārjuna die Wirklichkeit durch das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada. Eine solche klare Weltanschauung ist auch die Voraussetzung für alles sich verändernde Zusammengefügte. Das gilt natürlich besonders für den Menschen, der laut Buddha durch seine Komponenten, die Skandhas, funktional „zusammengefügt“ und in gegenseitiger Wechselwirkung ist. Die Teilprozesse Entstehen, Andauern sowie Bestehen und Vergehen können nur in dynamischer Wechselwirkung als Zusammengefügtes und als Zusammenwirkendes phänomenologisch gefunden werden.

 

Nishijima Roshis Interpretation dieses Kapitels

Abschließend möchte ich meinen Lehrer Nishijima Roshi mit seiner Sicht dieses Kapitels zu Wort kommen lassen. Es geht ihm vor allem darum, wann und wie wir mit der Erfahrung der Zen-Praxis die Wirklichkeit von Entstehen, Andauern und Zur-Ruhe-Kommen unverzerrt erfahren und erkennen – genauso, wie sie ist. Das trifft in das Zentrum des Zen: Wie können wir spitzfindige theoretisch-abstrakte und extreme philosophische Theorien als solche erkennen, um die Selbstverwirklichung voranzubringen und „unseren Pfeil über uns hinaus zu werfen und die Sehne schwirren zu lassen“?[x]

Nishijima Roshi: „Nāgārjuna stellt fest, dass die verschiedenen Dinge und Phänomene dieser Welt unabhängig von einem sogenannten Ursprungs- oder Fundamentalphänomen sind. Das heißt, dass sie sich nicht auf einen solchen nur gedachten Ursprung eines einzigen Phänomens zurückführen lassen. Wenn es ein solches Urphänomen gäbe, könnte dieses ebenfalls nicht ewig, unabhängig und unveränderlich sein, sondern würde ebenfalls jeweils im Augenblick erzeugt. Damit tritt Nāgārjuna einer einfachen Vorstellung entgegen, dass zum Beispiel eine Urkraft außerhalb der Wirklichkeit existiert, unabhängig ist und sich nicht verändert. Er vertieft seine Untersuchungen über das Verhältnis der vielfältigen Dinge und Phänomene zu einem möglichen Urphänomen und stellt die Frage, ob nicht die vielen Phänomene das Urphänomen miterzeugen. Logisch könnten wir dies so verstehen, dass das Urphänomen in den Einzelheiten enthalten sei und umgekehrt.“ Aber das führe nicht weiter.

„Die wahre Bedeutung des Leuchtens als Gegensatz zum Dunklen in diesem Kapitel kann in der angeführten Metapher des MMK für uns Menschen in der eingeschränkten materiellen Dimension nicht vollständig erfasst werden. Das materielle Leuchten wäre dann keine wahre Wirklichkeit im Sinne des Buddhismus, sondern nur eine Teilwirklichkeit. Das Leuchten und die Dunkelheit interpretiere ich daher buddhistisch als Verwirklichung, also Erleuchtung, und als das Gegenteil, die Täuschung. Beide erscheinen als gegensätzliche Zustände und sind miteinander im Konflikt. Aber haben sie eine direkte Beziehung zur Wirklichkeit? Sind es Entitäten, die dauerhaft und unveränderlich als Leuchten und Dunkelheit verstanden werden können? Erleuchtung und Täuschung sind zunächst einmal nur Worte und Vorstellungen. Die reale Wirklichkeit ist davon im Grundsatz weitgehend unabhängig. Der Konflikt besteht also nicht zwischen einer möglichen Wirklichkeit der Erleuchtung und der Täuschung, sondern nur zwischen den Begriffen und Vorstellungen. Das bedeutet, dass sie als Begriffe auf die reale Wirklichkeit nicht zwingend einwirken können. Die Dinge und Phänomene dieser Welt gibt es unabhängig davon, ob sie für uns sichtbar sind oder nicht, ob es also Licht und Helligkeit gibt oder Dunkelheit. Auch Dōgen äußert sich in ähnlicher Weise, indem er sagt, dass wir uns des Zustandes der Erleuchtung nicht unbedingt bewusst seien.

Es ist möglich, dass die Dunkelheit, also die Täuschung im Sinne des Buddhismus, durch die Dinge und Phänomene der Wirklichkeit selbst ausgeschaltet werden kann, und die Dunkelheit kann durch buddhistische Praxis überwunden werden. Es gibt zum Beispiel keine Wunderdroge, welche die Täuschung problemlos beseitigt. Überlegungen und Ideen, die selbst der Täuschung unterliegen, könnten damit auch die Täuschung nicht überwinden und sicher außer Kraft setzen.“

„(…) Was aber richtig und wahr ist und daher mit der Wirklichkeit übereinstimmt, hat tatsächlich die Kraft, Falschheit und Täuschung zu überwinden. Dies kann wie bei der Erleuchtung in kaum erkennbarer Weise vor sich gehen. Daraus wird die große Bedeutung des Gleichgewichts in der Zazen-Praxis und im täglichen Handeln deutlich. Täuschungen und unmoralische Handlungen können auf diese Weise und mit dieser Praxis ausgeschaltet werden.

Wenn irgendetwas klar vor uns zu sehen ist, ist es gleichzeitig ein Teil des Universums. Und in diesem Sinne können wir die Dunkelheit selbst als etwas Reales verstehen, denn sie wird eindeutig wahrgenommen. Klar erkannte Täuschung ist in diesem Sinne also bereits eine gewisse Verwirklichung, denn die Täuschung wird erkannt. Das ist ein wichtiger Schritt und oft der Beginn intensiver Praxis und eines Neuanfangs, um aus der erkannten Täuschung herauszukommen.

Durch die Helligkeit der Erleuchtung können wir die Wirklichkeit der Welt klar erkennen, die immer eine Ganzheit von Subjektivem und Objektivem ist. In gleicher Weise ist Dunkelheit eine nicht-duale Ganzheit von subjektivem und objektbezogenem Denken, Sehen und Handeln.

Die Wirklichkeit ist daher nichts Verborgenes, sondern selbst bei Dunkelheit vorhanden und erkennbar! Erkannte Dunkelheit und Unwissenheit gehören daher zur Wahrheit. Und die Wirklichkeit kann überhaupt nicht dauerhaft verborgen werden. Dunkelheit und Unwissenheit verbergen für uns die reale Welt, die sich aber unabhängig davon genauso manifestiert, wie sie ist.

Nāgārjuna fragt uns daher, wie eine solche Wirklichkeit ein subjektives Ich erzeugen kann. Da die Wirklichkeit immer eine Ganzheit von Subjektivem und Objektbezogenem sei, kann es ein subjektives Ich allein und nur für sich überhaupt nicht geben. Eine solche Existenz eines metaphysischen Ich ist also absurd. (…) Den ruhigen stabilen Zustand gibt es auf der Grundlage der Selbststeuerung. Ein nur scheinbar statischer Zustand kann auch ohne dynamisches Gleichgewicht existieren, aber er gleicht eher einem starren, gestressten und unbeweglichen Leben. Dann handelt es sich nur um eine scheinbare künstliche Stabilität, die den Menschen einengt und ihm nur eine Scheinsicherheit im Auf und Ab des Lebens gibt. Eine solche Scheinsicherheit kann schon durch kleine Anlässe zerstört werden und führt ins Unglück.“

„(…) Je starrer unser Leben in feste Raster gepresst wird, desto schwieriger ist es, dass sich die wahre Selbststeuerung ereignen kann. Ein starres Raster ist das Gegenteil der Ausdauer bei der buddhistischen Praxis. (…) Abstrakte Vorstellungen und Konzepte allein können niemals den Zustand der Selbststeuerung und des Gleichgewichts erzeugen. Der höchste Zustand der Selbststeuerung kann sich nicht ereignen, wenn der höchste Zustand des Gleichgewichts nicht verwirklicht ist. Beide Zustände sind also unlösbar miteinander verbunden. In diesem Sinne sagt Dōgen, dass die Zazen-Praxis und die Erleuchtung immer zusammenfallen und nicht getrennt werden können. Zazen ist daher identisch mit Selbststeuerung.“[xi]



[i] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 17ff.

[ii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 17ff.

[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 159ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 61ff.

[iv] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 39

[v] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 17ff.

[vi] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 42

[vii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I

[viii] Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra

[ix] So auch: Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 178. Abweichend davon: Weber-Brosamer, Bernhard; Back, Dieter M.: Die Philosophie der Leere. Nāgārjunas Mūlamadhyamaka-Kārikās, S. 90

[x] Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra

[xi] Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 61ff.