Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
Im Mittelpunkt dieses wichtigen Kapitels stehen die zentralen
Veränderungen und Lernprozesse des Entstehens, Andauerns und des Vergehens,
also des Zur-Ruhe-Kommens beim Menschen und in der Welt. Diese Veränderungen
haben im Buddhismus fundamentale Bedeutung, denn es geht um die Überwindung des
Leidens, das Beseitigen von deren Hemmnissen, das Entstehen von Befreiung, also
um die Eröffnung des Mittleren Weges, damit unheilsame Doktrinen und
gefährliche Extreme vermieden werden. Sehr prägnant und komprimiert werden
solche Veränderungen in den Grundlagen der Achtsamkeit dargestellt. Buddha
beschreibt dabei die genaue Betrachtung des Körpers, der Gefühle, des Geistes
und der geistigen Phänomene und Prozesse, der Dharmas, sowie deren Entstehen,
Andauern und Vergehen.[i]
Nāgārjuna beginnt dieses Kapitel mit dem folgenden Vers:
Vers 7.1
Falls das Entstehen
zusammengesetzt, zusammenwirkend und so geformt ist, hat es die drei Merkmale
Entstehen, Fortdauern und Vergehen.
Falls das Entstehen nicht zusammengesetzt und nicht
geformt (also isoliert) wäre, fragt sich, wie das Entstehen sodann ein Merkmal von etwas Zusammengesetztem und
Geformtem sein könnte.
Nach der authentischen buddhistischen Lehre hat ein
sogenannter zusammengesetzter Dharma (Ding, Phänomen oder Ereignis) die drei Merkmale: Entstehen, Andauern und
Vergehen. Das gilt zum Beispiel für das Entstehen
der Faktoren der Erleuchtung und das Vergehen
und Zur-Ruhe-Kommen des Leidens und der Hemmnisse bei der Entwicklung zur
Freiheit und Emanzipation.[ii]
Wenn man aber dogmatisch die Doktrin unveränderlicher
und isolierter Dharmas (Substantialismus) vertritt, muss man die drei
zusammengesetzten Bereiche von Entstehen, Andauern und Vergehen als drei
getrennte substanzhafte Dharmas (Phänomene) annehmen. Diese als unveränderlich
angenommenen Dharmas haben jeweils ein Merkmal, das sie als solche
kennzeichnet. Das Entstehen als eigener Dharma ist dann von den Dharmas des
Andauerns und Vergehens getrennt. Solche unveränderlichen Dharmas hätten danach
eine Eigen-Substanz (svabhāva). Der
Dharma des Entstehens hätte dann wiederum nach der Doktrin des Substantialismus
als Merkmale die getrennten Dharmas des Entstehens, Andauerns und Vergehens.
Ein solcher Dharma wäre aber gerade nicht zusammengesetzt und nicht mit dem
Andauern und Vergehen verbunden, sondern isoliert und unveränderlich. Nāgārjuna
destruiert eine solche Doktrin der Eigen-Substanz im gesamten MMK als falsche
irreführende Lehre und falsifiziert damit den Substantialismus der
Sarvastivadins seiner Zeit.
Wichtig ist dabei, dass es sich beim wahren
veränderlichen Dharma um einen Vorgang des Entstehens, Machens und Erzeugens
handelt, der zu einem „Gemachten“ führt und mit dem Menschen in seinem
Befreiungsprozess verbunden ist. Dieses Gemachte ist also nicht isoliert und
unveränderlich, sondern beim Entstehen, Fortdauern und Vergehen veränderlich.
Es hat demnach Ähnlichkeiten mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada. Das in diesem Vers
verwendete Wort samskrita betont nach
meinem Verständnis das Machen und Handeln des Menschen. Ein gutes Beispiel ist
das Gleichnis des Drechslers, der handelt, indem er drechselt.
In diesem Sinne gibt es bei den Phänomenen (Dharmas)
in der Welt die Merkmale des Entstehens,
Andauerns und Vergehens. Das
heißt, diese Merkmale, die konkret zu beobachten sind, kommen beim menschlichen
Verhalten, Denken, Fühlen und Handeln vor, und sie werden maßgeblich durch
unsere jeweiligen psychischen und geistigen Dispositionen, Strukturen und
Muster gesteuert. Das erweist sich als besonders problematisch, wenn diese
Muster und Bahnungen durch Gier, Hass und Verwirrung bestimmt werden. Dann gibt
es keine Freiheit zur rechten Sichtweise, zum rechten Denken, Fühlen und
Handeln.
Prozesse und Phänomene kann man nicht sinnvoll als
unveränderliche oder gar ewig existierende substantialistische Entitäten
verstehen, weil die wirklichen Phänomene veränderlich sind und keinen unveränderlichen Kern haben. Bei
Phänomenen, Dharmas, ist also das gesamte metaphysische Modell einer unveränderlichen inneren Substanz in
Verbindung mit äußerlichen veränderlichen Merkmalen hinfällig. Aber genau diese
nach Buddha falsche Doktrin hatte
sich im indischen Buddhismus in der Zeit bis zu Nāgārjuna verbreitet. Der
Widerspruch zu Buddhas authentischer Lehre war wohl den jeweiligen Anhängern
nicht bewusst.
Bei allen Buddhisten war es unbestritten, dass Buddha
den Glauben an einen unveränderlichen
ātman als dauerhaften ewigen
substantiellen Kern des Menschen radikal abgelehnt hatte. Trotzdem schlichen
sich ganz ähnliche Doktrinen unter dem Deckmantel des Buddhismus ein. Diese
werden von Nāgārjuna besonders in diesem Kapitel enttarnt und destruiert. Im
zweiten Teil des Verses 7.1 stellt er daher die Frage, wie das Entstehen ein
Merkmal sein kann, falls es nicht zu einem Zusammengesetzten gehört. Es wäre
dann eine isolierte Entität ohne Wechselwirkung und nach der Präambel und dem
ersten Kapitel gar nicht real. Maßgebend für das Zusammengesetzte ist daher, ob
es als dynamische Wechselwirkung
erkannt wird.
Nāgārjuna destruiert in diesem Kapitel die Doktrinen des
Substantialismus, Momentanismus und Nihilismus, indem er nachweist, dass mit
ihnen der wahre Buddhismus verfälscht und teilweise sogar in sein Gegenteil
verkehrt wird.[iii] Dieses Kapitel ist das
zweitlängste im MMK, nur das Kapitel 24 über die Vier Edlen Wahrheiten ist noch
umfangreicher. Es muss daher für Nāgārjuna von fundamentaler Bedeutung sein.
Bevor seine Analysen zusammenfassend dargestellt werden, möchte ich
Buddha zitieren, um deutlich zu machen, dass sich Nāgārjunas Destruktionen
falscher Doktrinen direkt auf Buddhas Aussagen beziehen. Im Sūtra über die
Grundlagen der Achtsamkeit erklärt Buddha zu den Fünf Hemmnissen des Erwachens:
„Da erkennt, ihr Mönche, ein Mönch, wenn in ihm auf Sinnlichkeit
gerichtetes Wollen da ist: ‚In mir
ist auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen.‘ Er erkennt, wenn in ihm kein auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen
da ist: ‚In mir ist kein auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen.‘ Wie nicht
entstandenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen entsteht, auch das erkennt er. Wie entstandenes auf Sinnlichkeit
gerichtetes Wollen vergeht, auch das
erkennt er. Und wie vergangenes auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen künftig nicht mehr entsteht, auch das erkennt er.“[iv]
Mithilfe der Achtsamkeit kann man laut Buddha also bei den Hemmnissen
auf dem Weg der Befreiung und Erleuchtung bei sich selbst klar erkennen, ob zum
Beispiel ein auf „Sinnlichkeit gerichtetes Wollen“ zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorhanden ist. Dann untersucht man
weiter, wie dieses Wollen entsteht,
wenn es noch nicht vorhanden ist. Es geht also um das „nicht entstandene auf
Sinnlichkeit gerichtete Wollen“. Das genannte Wollen war demnach bisher nicht
da, es war nicht entstanden, aber es ist im Prozess des Entstehens. Diesen
Prozess kann man bei sich selbst erkennen. Umgekehrt wird ebenfalls beobachtet,
wie das bereits entstandene Wollen vergeht.
Es wird also der Prozess des Entstehens und Vergehens genauer untersucht.
Schließlich wird drittens das künftige auf Sinnlichkeit gerichtete Wollen
besprochen und wie man erkennt, wie dieses Wollen nicht entsteht.
Im gleichen Sūtra führt Buddha die Vier Edlen Wahrheiten und den
Achtfachen Pfad für die eigene Befreiung ein. Damit ergibt sich die Verbindung
zum aktiven eigenen Verändern und Handeln. Voraussetzung dafür ist, die
Phänomene, Dharmas, genau zu analysieren und zu beobachten und nicht voreilig
absolute moralische Ziele anzustreben. Sonst besteht die Gefahr der verzerrten
Beobachtung, weil die realen Zusammenhänge der Phänomene und deren prozessualen
Veränderungen nicht mehr erkennbar sind.
In analoger Weise behandelt Buddha die Sieben Faktoren des Erwachens, also die Achtsamkeit, die Unterscheidung der Dinge und
Phänomene, die Energie, Freude, Gestilltheit, Sammlung und den Gleichmut. Über
die Freude sagt er:
„(Der Mönch) erkennt, wenn in ihm das Glied des Erwachens ‚Freude‘ da
ist: ‚In mir ist das Glied des Erwachens ‚Freude‘ da.‘ Er erkennt, wenn in ihm
das Glied des Erwachens ‚Freude‘ nicht da ist: ‚In mir ist das Glied des
Erwachens ‚Freude‘ nicht da.‘ Wie das unentstandene Glied des Erwachens
‚Freude‘ entsteht, auch das erkennt er; wie das entstandene Glied des Erwachens
‚Freude‘ sich völlig entfaltet, auch das erkennt er.“[v]
Auch hier ist zunächst das Erkennen des Zustands, ob die Freude in uns
selbst vorhanden ist oder nicht, von Bedeutung. Implizit ist damit verbunden,
dass man keinen Täuschungen unterliegt, ob es sich um echte Freude handelt oder
oberflächlichen Selbstbetrug. Wichtig ist die sehr gründliche, pragmatische
Analyse unseres eigenen Zustands und besonders dessen Veränderungen.
Anschließend spricht Buddha davon, wie die Freude entsteht und wie sie sich völlig
entfaltet.
Kurz gesagt geht es zunächst um die klare Beobachtung, ob das Unheilsame
da ist oder nicht und ob das Heilsame da ist oder nicht. Dann folgt das
Erkennen, wie das Unheilsame vergeht
und das Heilsame entsteht. Und
schließlich wird erwähnt, wie man bereits frühzeitig klar erkennt, dass das
unheilsame Hemmnis nicht entsteht und das Heilsame des Erwachens entsteht und
sich allmählich voll entfaltet.
Kalupahana fasst die Bedeutung dieses MMK-Kapitels wie folgt zusammen:
„Die Ideen des Entstehens, Andauerns und Vergehens werden dann als illusorisch
abgelehnt, wenn (und nur dann!) sie substantialistisch verstanden werden.“[vi]
Er erklärt, dass Nāgārjuna in diesem Kapitel die Destruktion der Ideologie und
Doktrin des Substantialismus vornimmt, der vor allem von den Sarvastivadins
vertreten wurde. Wenn man an eine solche Doktrin von ewigen unveränderlichen
Entitäten glaube, ergeben sich im Zusammenhang mit den Phänomenen des
Entstehens, Andauerns und Vergehens unlösbare Widersprüche, die damit eindeutig
beweisen, dass die gesamte Doktrin
unbrauchbar ist und falsifiziert werden muss. Und genau das tut Nāgārjuna
in diesem wichtigen siebten Kapitel. Kalupahana betont auch, dass es
keinesfalls darum geht, die wirklichen Prozesse des Entstehens, Andauerns und
Vergehens zu falsifizieren, sondern darum, mit
der Doktrin des absolut Substanzhaften durch die inneren Widersprüche zu
beweisen, dass diese Doktrin falsch ist. Ich folge seinem Verständnis
ausdrücklich.
Seit Buddha hatten sich also vor allem zwei Doktrinen und sektenartige
Gruppierungen herausgebildet, die beide auf unterschiedliche Weise den
prozessualen Zusammenhang der drei Phasen ablehnten und getrennte
unveränderliche Entitäten statt eines zusammenhängenden Prozesses postulierten.
Die erste buddhistische Gruppierung, die Sarvastivadins – ich bezeichne
sie als Substantialisten –, unterstellte eine ewige unveränderliche Substanz
der Dharmas im Sinne eines unsichtbaren Kerns, der gleich bleibt und dauernd
existiert. Diese kernhafte Substanz ergebe zusammen mit mindestens einem
markanten Merkmal etwas sichtbar Seiendes. Die Kombination von Substanz und
Merkmal sei die für uns erkennbare Welt, in der wir leben. Die grundsätzliche
Sehnsucht der Inder nach Unveränderlichkeit und Ewigkeit muss dabei eine
fundamentale mystische Energie entwickelt haben. Die markanten
Sanskrit-Begriffe in diesem Zusammenhang sind bhāva für ein unveränderliches Seiendes und svabhāva für ein unveränderliches und aus sich selbst entstandenes
Seiendes. Beide Begriffe markieren also die unveränderliche ewige Existenz.
Durch diese grundsätzliche semantische Verschiebung der buddhistischen
Begriffe vom Veränderlichen zum Statischen entwickelte sich unversehens eine
nicht erkannte existenzielle Ähnlichkeit zum Glauben an den vorbuddhistischen ātman. Dieser führt nach Buddha
unausweichlich ins Leiden. Nāgārjuna beweist nun, dass unveränderliche ewige
Dharmas, Dinge und Phänomene keine Veränderungen in unserem Leben ermöglichen
und mit der buddhistischen Lehre nicht vereinbar sind. Denn wie soll es
tiefgreifende Veränderungen beim Menschen geben, wenn seine „Bausteine“, die
Dharmas, statisch und isoliert voneinander sind? Das ist nicht zu beobachten.
Nach dieser statischen Lehre würde sich die unveränderliche Substanz
eines Dharmas jeweils mit den drei Merkmalen Entstehen, Andauern und Vergehen
manifestieren und auf diese Weise sichtbar und erkennbar sein. Es leuchtet
unmittelbar ein, dass mit diesem Dharma-Modell die von Buddha gelehrten
Veränderungen und Befreiungen des Menschen nicht sinnvoll zu erklären sind.
Nāgārjuna destruiert daher diese Doktrin der statischen isolierten Dharmas im
MMK konsequent und scharfsinnig, um die wahre Lehre Buddhas wieder
herauszuarbeiten.
In radikaler Opposition zum Substantialismus vertrat die Gruppe der
Sautrantikas die Doktrin des Momentanismus.
Sie lehnten die Dauerhaftigkeit der Dharmas ab und wollten auf diese Weise der
wahren buddhistischen Lehre entsprechen. Sie behaupteten, dass die Welt aus
zeitlich getrennten, sehr kurzen Ereignissen bestehen würde, also aus
„Zeit-Bausteinen“, aus denen die Welt und das Leben zusammengesetzt sein
sollten. Diese Ereignisse seien nicht miteinander verbunden, sondern würden
schlagartig ohne Übergang erscheinen und sofort wieder ohne Übergang abrupt
verschwinden. Die Anhänger dieser Doktrin waren davon überzeugt, dass dadurch
Buddhas Lehre vom gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) philosophisch widerspruchsfrei erklärt werden
könne, weil es überhaupt kein Andauern, keine Statik oder gar ewige Existenz
mehr gäbe.
Das kaum lösbare Problem der Momentanisten war jedoch, die wie auch
immer geartete Verbindung der zeitlichen Bausteine zu erklären, das heißt, wie
ein momentanes isoliertes Ereignis zum nächsten überleitet. Dieses Grundmodell
der getrennten Zeitmomente wird auch heute zum Teil fälschlich im Zen
verwendet. So wird beispielsweise für die getrennten Augenblicke die Metapher
einer Perlenkette der Momente ohne
verbindende Schnur benutzt. Ich halte diese Metapher nicht für fruchtbar
und sehe sie durch Nāgārjunas Argumentation klar destruiert. Die Momentanisten
waren gezwungen zu behaupten, dass das folgende momentane Ereignis bereits vor
dem Entstehen des vorherigen Ereignisses existieren würde. Dieser Ansatz wird
von Nāgārjuna ebenfalls unmissverständlich destruiert, denn der von Buddha
gelehrte Prozess der Befreiung und des Erwachens ist damit nicht sinnvoll zu
erklären.
Buddha hat erkannt, dass die Natur
der Welt und des Menschen vier zentrale Charakteristika hat, die konkret
beobachtet und erfahren werden können und evident sind:
– Die Welt ist veränderlich und nicht statisch oder dauerhaft.
– Sie entsteht und vergeht in Wechselwirkung, ist also vernetzt.
– Sie bildet eine Ganzheit, ist also zusammengefügt.
– Wir können aktiv durch Handeln auf uns selbst und die Umwelt
einwirken.
Außerdem lehrt er in aller Klarheit, dass es in der Welt keine Extreme
gibt: Wir können keine absolute Existenz oder Nicht-Existenz von irgendwelchen
Entitäten oder Bausteinen beobachten oder erfahren. Unabhängige und isolierte
Bausteine, Dharmas, gibt es in der Wirklichkeit nicht. Solche absoluten
Behauptungen sind daher nicht wahr, sondern ideologische und absolutistische
Unwahrheiten. Wer daran glaubt und danach handelt, erfährt unweigerlich die
„ganze Masse des Leidens“, wie es Buddha ausdrückte. Jeder, der sich die
Ideologien des deutschen Nationalismus und des katholischen Absolutismus des
späten Mittelalters vor Augen führt, wird dem sicher zustimmen.
Das zweite MMK-Kapitel behandelt das Gehen und den Prozess der Bewegung
im Zusammenhang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nāgārjuna destruiert
dort ungenaue Vorstellungen und verzerrende Doktrinen des Gehens und Bewegens,
die keine Beziehung zur Wirklichkeit von Prozessen und Veränderungen haben. Sie
führen folglich in die Irre und verhindern Erweiterungs- und Emanzipationsprozesse
des Menschen. Die Analogie zu Kapitel 7 liegt auf der Hand. Hier behandelt
Nāgārjuna die Ganzheit und das Zusammenwirken von Entstehen, Andauern und
Vergehen der Dinge und Phänomene, Dharmas, nach der authentischen Lehre
Buddhas. Das bedeutet gleichzeitig, dass er die erwähnten nicht-authentischen
Doktrinen falsifiziert.
In konsequenter Fortsetzung der Analyse des Gehens bearbeitet Nāgārjuna
hier die Frage des Entstehens, Andauerns und Vergehens von verschiedenen
Prozessen. Er bezieht sich dabei auf eine zentrale Aussage Buddhas zum
Befreiungsweg, der im Sūtra „Grundlagen der Achtsamkeit“ sehr genau geschildert
wird.[vii]
Es heißt dort wiederholt, dass wir das Entstehen, Andauern und Vergehen von
Gedanken und Gefühlen genau beobachten und analysieren sollen, um nicht
unreflektiert von Affekten, Gefühlen und bohrenden Gedanken besetzt und durch
sie fixiert zu werden. Auch hierbei handelt es sich um ein zeitliches
Nacheinander, also um einen zusammenhängenden Prozess, der – vereinfacht
ausgedrückt – in die drei Bereiche Entstehen, Andauern und Vergehen gegliedert
wird. Dabei darf aber niemals vernachlässigt werden, dass es sich nicht um getrennte und isolierte Abschnitte, Bausteine oder Entitäten
handelt, sondern dass ein kontinuierlicher Zusammenhang und eine fortlaufende
Wechselwirkung bestehen. Die Wechselwirkung als Prozess steht in einem klaren
Widerspruch zu dem Modell von unveränderlichen zusammengesetzten Entitäten nach
der Doktrin der Substantialisten. Und genau dieser Widerspruch führt in diesem
Kapitel zur Falsifizierung von deren Doktrin.
Was können wir uns nun unter einem solchen Prozess des gemeinsamen
Entstehens und Vergehens konkret vorstellen? Ein Beispiel: Beim Dialog zwischen
zwei oder mehreren Menschen entstehen in der jeweiligen Interaktion und
Wechselwirkung bestimmte neue Gedanken, Ideen und Zusammenhänge. Wenn also ein
Dialogpartner zu einem Thema etwas einbringt, entstehen bei dem anderen
Menschen damit vernetzte und gekoppelte Gedanken, die sowohl durch den „Input“
seines Gesprächspartners als auch durch eigene
Vor-Erfahrungen, Erinnerungen und vor allem durch Denk- und Gefühlsmuster im jeweiligen neuronalen Netz geprägt sind.
Die neuen Assoziationen sowie die kreativen weiterführenden Ideen und Gefühle
können wiederum in die Kommunikation eingebracht und zurückgekoppelt werden.
Sie setzen beim Anderen entsprechende weiterführende Prozesse in Gang in Gang.
Derartige Dialoge sind dann besonders fruchtbar, wenn sie mit Empathie und
einem gewissen Gleichklang auf der Gefühlsebene verbunden sind, denn beim
Menschen entstehen selten innovative und kreative Ideen isoliert von Gefühlen. Kreativität und Stress, der Angst
erzeugt, schließen sich gemäß der
Erkenntnisse der Gehirnforschung aus. Unter Stress und Angst kann man daher
dem Leiden nicht entkommen, und das Erwachen ist ausgeschlossen.
Die Gedanken und Gefühle können wir auch als Phänomene oder
Gegebenheiten bezeichnen, die bekanntlich im Buddhismus Dharmas genannt werden. Sie haben eine fundamentale Bedeutung für
den Aufbau der buddhistischen Lehre und das buddhistische Weltverständnis. Es
ist in der buddhistischen Gschichte allerdings nicht ausgeblieben, dass auch
tief greifende Missverständnisse und Irrlehren entstanden sind. In diesem
Kapitel werden sie von Nāgārjuna destruiert und richtiggestellt.
Die Semantik des Begriffs Dharma ist
für uns westliche Menschen nicht einfach zu verstehen. Eine direkte
Übersetzung, die Nishijima Roshi gern für Dharmas verwendete, lautet „Dinge und
Phänomene“, wobei die Dinge eher einen statischen Aspekt benennen. Phänomene
kann man dagegen eher als prozesshaft und nicht-materiell verstehen. Im
vorbuddhistischen Indien wurde der Begriff Dharma vor allem für Gedanken und
Dinge verwendet, die als unveränderliche Bausteine der Welt und des Lebens
verstanden wurden. Dies ist natürlich eine metaphysische erdachte Annahme, die
nicht real wahrgenommen werden kann. Bei Buddha geht es dagegen hauptsächlich
um erkennbare und erfahrbare Veränderungsprozesse, sodass die Vorstellung von
unveränderlichen Bausteinen und Entitäten wenig sinnvoll ist. Die Veränderungsprozesse betreffen zum
Beispiel das Entstehen von Leiden und andererseits die Überwindung und das
Vergehen von Leiden sowie die Entwicklung zum Erwachen und zur Erleuchtung.
Veränderungen haben also eine zentrale Bedeutung im Buddhismus, und sie sind in
der Tat für wichtige Lernprozesse unabdingbar. Wenn man konstante
unveränderliche Entitäten mit einer ewigen inneren Substanz annehmen würde,
könnte es genau genommen überhaupt keine grundsätzlichen Veränderungen, kein
Lernen und keine positive Entwicklung geben.
Vielfache Entwicklungsprozesse finden beim Menschen vor allem in der
Kindheit und Jugend statt. Zum Beispiel lernen Kinder, sich in der Welt
zurechtzufinden, die Motorik und Feinmotorik auszubilden und zu trainieren, die
Sprache zu erlernen und für die Kommunikation einzusetzen. Mit zunehmendem
Alter tritt häufig eine Art von Erstarrung ein und Lernprozesse stagnieren.
Friedrich Nietzsche sagte zu solcher Erstarrung: „Wehe, wenn wir nicht mehr den
Pfeil über uns hinauswerfen. Wehe, wenn die Sehne nicht mehr schwirrt.“[viii]
Da nach den Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung unser „Glückszentrum“
gleichzeitig unser Lernzentrum ist, sinkt die Lebensfreude im Alter deshalb bei
vielen Menschen immer mehr ab. Das mündet nicht selten in Altersdepression und
Einsamkeit: Die wichtigen Befreiungs- und Entwicklungsprozesse erlahmen dann
oder sind ganz zu Ende.
Nāgārjuna hat dieses Phänomen präzise erkannt und spricht daher von dem
statischen „Geworden-Seienden“ der
Dharmas, das einer dauerhaften unveränderlichen Existenz recht nahe kommt. Eine
solche unveränderliche Existenz kann materiell wie ein Ding oder eine Sache und
ideell wie eine Idee als Entität verstanden werden. Wenn diese Ideologie
verabsolutiert wird, handelt es sich um die Doktrin einer unveränderlichen
metaphysischen Substanz oder nicht-materiellen Essenz. Beide Weltanschauungen
sind aus Nāgārjunas Sicht nicht korrekt und erzeugen früher oder später
menschliches Leiden.
Für den Menschen, der nach buddhistischer Vorstellung in fünf
Komponenten (skandhas) gegliedert ist
und keinen gesonderten Ich-Kern im Sinne der vorbuddhistischen Ātman-Lehre hat,
sind Erstarrungen und Festlegungen jedoch in keinem Lebensalter zwingend. Sie
entstehen vermutlich durch das Streben nach Sicherheit und Dauerhaftigkeit,
durch zunehmende Trägheit und durch Angst vor negativen Entwicklungen und
Verlusten. Aber wie Buddha überzeugend sagte, sind es gerade die Scheinsicherheiten, die den Prozess des
Lebens verhärten oder sogar unmöglich machen. Sie verleihen also keine
Sicherheit, sondern erzeugen im Gegenteil latente oder offene Ängste. Wie wir
aus der Gehirnforschung wissen, reduzieren Ängste nicht nur die Denk- und
Reflexionsmöglichkeiten, sondern verhindern auch Kreativität bei
Entwicklungsprozessen. Verkürzt könnte man sagen: „Angst und Stress machen
dumm.“ Dagegen bietet Veränderung die Chance, dass sich etwas Neues entwickelt
und der Mensch sich durch Erfahrung und Lernen befreit und emanzipiert. Und die
Grundlage dafür sind veränderliche und lernfähige Dharmas, Dinge, Phänomene und
Ereignisse.
Die moderne Gehirnforschung sagt kurz gefasst: „Das Gehirn ist genau
das, was es macht, und es lernt immer.“ Wenn wir also positive Gefühle und
Gedanken in uns entstehen lassen, wird unser Gehirn grundsätzlich in dieser
Weise gebahnt und entwickelt geeignete Muster und Bahnungen für weitere
Assoziationen und kreative Gedanken und Gefühle. Nach meinem Verständnis gehört
dieser Aspekt zur Bedeutung des Sanskrit-Begriffs samskāra, also im Deutschen bewusste und unbewusste „formende
Kräfte“ und „veränderliche Prägungen“. Diese Begriffe werden in der Literatur
oft missverständlich oder verwirrend verwendet. Es gibt beim Menschen intensive Wechselwirkung im neuronalen
Netz, sodass eine enge dynamische Verknüpfung von Gefühlen und Gedanken
besteht. Wer überwiegend auf negative Gefühle und Gedanken fixiert ist, programmiert selbst sein Gehirn in
diesem negativen Sinn. Als Ergebnis wird er in der Welt und bei anderen
Menschen überwiegend die negativen Bereiche wahrnehmen und abspeichern, die
genau für sein Gehirn typisch sind. Diese bilden dann eine negative
Grundstrukturierung als entsprechende Bahnung für die folgenden Ideen,
Erlebnisse und Erfahrungen. Aus der hohen Komplexität der Welt wird
infolgedessen das Negative selektiert und
verstärkt, sodass depressive Stimmungen und Leiden entstehen. Bei den Fünf
Hemmnissen der Befreiung bezeichnet Buddha dies als Zweifelsucht. Eine solche Zweifelsucht entspricht dem hier
untersuchten Dharma.
Von zentraler Bedeutung ist die Ablehnung absoluter
Extreme, beispielsweise die Annahme von absolut statischen und isolierten
Dharmas, Dingen und Phänomenen. Fundamental sind auch die ideologiefreie Lehre
der Kausalität und Verursachung und nicht zuletzt eine praktikable Ethik.
Buddha geht es um positive Veränderungen in unserem Leben und in der Welt, also
um das Entstehen, Andauern und Zur-Ruhe-Kommen der Dinge, Phänomene und
Ereignisse (Dharmas): das Vergehen des Leidens und Entstehen von Freude, Ausgeglichenheit
und Kreativität. Sie betreffen alle Bereiche der Menschen und der Welt und sind
die Grundlage der buddhistischen Lehre. Durch Selbst-Verwirklichung und
Selbst-Transformation stoßen wir laut Buddha in neue Lebensbereiche vor.
Vor diesem Hintergrund deckt Nāgārjuna die gravierenden inneren
Widersprüche und Halbwahrheiten des Substantialismus und Momentanismus auf,
indem er sich auf Buddhas Verständnis der Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada), der Veränderlichkeit und der Ganzheitlichkeit
der Welt bezieht. In dem maßgeblichen Vers heißt es im Gegensatz zu den
einseitigen verfälschenden Doktrinen: „Was
auch immer in Wechselwirkung wird und entsteht, das ist beruhigt und im
Gleichgewicht.“ Das heißt auch, dass die beiden Doktrinen des
Substantialismus und Momentanismus kein Gleichgewicht des Menschen bewirken,
sondern im Gegenteil zu Unruhe, Zerrissenheit, Leiden, zur Vereinsamung und
Depression führen.
Wie falsifiziert nun Nāgārjuna die falsche Annahme von zusammengesetzten
isolierten und statischen Dharmas? Sie müssten auf ein Ur-Phänomen des
Entstehens, also ein Wurzel-Entstehen zurückgeführt werden:
Vers 7.5
Wenn für Dich das Entstehen des Entstehens ein Wurzel-Entstehen ist, ist zu fragen, wie dieses
Wurzel-Entstehen selbst erzeugt wird.
Wie wird für Dich dieses Wurzel-Entstehen sich selbst
erzeugen, wenn nicht durch das wurzelhaft Erzeugte selbst?
Auch das wurzelhafte
Ur-Entstehen muss ja selbst erzeugt werden, um zu existieren. Daher müsste
dieses Ur-Entstehen ebenfalls etwas sein, das aus einem anderen, noch davor
liegenden Wurzelhaften erzeugt wird, sonst müsste es aus sich selbst entstanden
sein.
Nāgārjuna distanziert sich vom Glauben und von der
Lehre eines Ur-Entstehens als statischem Baustein. Folgerichtig fragt er, woher
denn dieses kommen könne. Es müsste vor ihm ein noch ursprünglicheres
Entstehen, also ein Ur-Ur-Entstehen, vorhanden sein, das in der Folge weiteres
Entstehen bewirken und erzeugen würde. Durch seine Formulierung „Wenn für Dich
das Entstehen des Entstehens ein Wurzel-Entstehen
ist“ distanziert er sich hier von einem imaginären Kontrahenten, der die für
Nāgārjuna nicht akzeptable Doktrin der statischen Dharmas vertritt. Ein solcher
Kontrahent verteidigt dann die Doktrin des Substantialismus und behauptet, dass
der Effekt und damit die Wirkung bereits in der Ursache enthalten seien. Das
wäre ein Entstehen total aus sich selbst, das Nāgārjuna aber bereits im ersten
Kapitel des MMK falsifiziert hat. Er korrigiert eine solche erstarrte Doktrin:
Vers 7.16
Was auch immer in Wechselwirkung wird und entsteht,
ist beruhigt. Es ist daher beruhigt und unabhängig von der (falschen) Doktrin der
Eigen-Substanz (svabhāva).
Deswegen sind das gerade Entstehende und die
Entstehung (in der Wirklichkeit) beruhigt.
Nāgārjuna unterscheidet hier zwischen dem, was in
Wechselwirkung entsteht und daher beruhigt ist, und dem, was durch die falsche
Doktrin determiniert ist, sodass es aus sich
selbst entstanden sein müsste, und deshalb nicht beruhigt ist. Oder anders
ausgedrückt: Durch die Wahrheit des wechselwirkenden Entstehens entkommt man
dem Irrglauben, dass etwas aus sich selbst entstanden sei. Dieser Irrglaube
kommt dadurch zur Ruhe und verliert seinen falschen absoluten
Wahrheitsanspruch! Damit leitet Nāgārjuna aus der bisherigen Destruktion zu
einem konstruktiven authentischen Buddhismus über. Er fährt in seiner
Argumentation fort:
Vers 7.23
Andauern und Bestehen sind für ein (substanzhaftes)
Seiendes nicht möglich, das gerade zur Ruhe kommt.
Was aber überhaupt nicht zur Ruhe kommt, dieses ist
selbst kein substanzhaftes Seiendes.
Ein substanzhaftes
Seiendes kann sich nicht verändern und daher auch nicht zur Ruhe kommen, weil
es überhaupt nicht prozesshaft und veränderlich ist. Wenn ein seiendes Ding
oder Phänomen wirklich ist, muss es sich dynamisch verändern, und dann kann es
auch entstehen und zur Ruhe kommen. Wenn etwas jedoch nicht zur Ruhe kommt,
kann es demnach nichts real Seiendes sein. Auch in diesem Vers wird also die
Doktrin des Substantialismus eindeutig destruiert.
Damit kommt Nāgārjuna zum klaren Schluss, dass die
Doktrin des Substantialismus voller innerer Widersprüche ist. Sie verhindere,
dass man die Wirklichkeit erkenne:
Vers 7.34
Wie ein Trugbild, wie ein Traum, wie eine illusionäre
Stadt der Gandharven-Wesen, so wurden das oben
angeführte Entstehen, Andauern sowie Vergehen und Abbrechen beschrieben.
Wer die Illusion und doktrinäre Weltanschauung von
statischen und erstarrten Dingen und Phänomenen (Dharmas) als unveränderliche
Entitäten hat, lebt in einer illusionären Welt und hat keinen Zugang zur
Wirklichkeit und Wahrheit. Ein tatsächliches Verständnis der Wirklichkeit ist
aber die unabdingbare Voraussetzung für Lernprozesse, Selbstbeobachtung und den
Befreiungsweg.
Die unreale Vorstellungswelt beschreibt Nāgārjuna
hier als Illusionsstadt der Gandharvas, als Trugbild und als Traum. Das
bedeutet aber gerade nicht, dass es überhaupt keine Wirklichkeit in der Welt
geben würde und alles nur Illusion, Trugbild oder Traum wäre.[ix]
Eine solche Betrachtungsweise wäre Nihilismus. Ganz im Gegenteil
charakterisiert Nāgārjuna die Wirklichkeit durch das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung, pratitya samutpada.
Eine solche klare Weltanschauung ist auch die Voraussetzung für alles sich
verändernde Zusammengefügte. Das gilt natürlich besonders für den Menschen, der
laut Buddha durch seine Komponenten, die Skandhas, funktional „zusammengefügt“
und in gegenseitiger Wechselwirkung ist. Die Teilprozesse Entstehen, Andauern
sowie Bestehen und Vergehen können nur in dynamischer Wechselwirkung als
Zusammengefügtes und als Zusammenwirkendes phänomenologisch gefunden werden.
Nishijima Roshis Interpretation dieses
Kapitels
Abschließend möchte ich meinen Lehrer Nishijima
Roshi mit seiner Sicht dieses Kapitels zu Wort kommen lassen. Es geht ihm vor
allem darum, wann und wie wir mit der Erfahrung der Zen-Praxis die Wirklichkeit
von Entstehen, Andauern und Zur-Ruhe-Kommen unverzerrt erfahren und erkennen –
genauso, wie sie ist. Das trifft in das Zentrum des Zen: Wie können wir
spitzfindige theoretisch-abstrakte und extreme philosophische Theorien als
solche erkennen, um die Selbstverwirklichung voranzubringen und „unseren Pfeil
über uns hinaus zu werfen und die Sehne schwirren zu lassen“?[x]
Nishijima Roshi: „Nāgārjuna stellt fest, dass die verschiedenen Dinge
und Phänomene dieser Welt unabhängig von einem sogenannten Ursprungs- oder Fundamentalphänomen sind. Das heißt, dass sie sich
nicht auf einen solchen nur gedachten Ursprung eines einzigen Phänomens
zurückführen lassen. Wenn es ein solches Urphänomen gäbe, könnte dieses
ebenfalls nicht ewig, unabhängig und unveränderlich sein, sondern würde
ebenfalls jeweils im Augenblick erzeugt. Damit tritt Nāgārjuna einer einfachen Vorstellung
entgegen, dass zum Beispiel eine Urkraft außerhalb der Wirklichkeit existiert,
unabhängig ist und sich nicht verändert. Er vertieft seine Untersuchungen über
das Verhältnis der vielfältigen Dinge und Phänomene zu einem möglichen Urphänomen und stellt die Frage, ob
nicht die vielen Phänomene das Urphänomen miterzeugen. Logisch könnten wir dies
so verstehen, dass das Urphänomen in den Einzelheiten enthalten sei und
umgekehrt.“ Aber das führe nicht weiter.
„Die wahre Bedeutung des Leuchtens
als Gegensatz zum Dunklen in
diesem Kapitel kann in der
angeführten Metapher des MMK für uns Menschen in der eingeschränkten
materiellen Dimension nicht vollständig erfasst werden. Das materielle Leuchten
wäre dann keine wahre Wirklichkeit im Sinne des Buddhismus, sondern nur eine
Teilwirklichkeit. Das Leuchten und die Dunkelheit interpretiere ich daher
buddhistisch als Verwirklichung, also
Erleuchtung, und als das Gegenteil, die Täuschung. Beide erscheinen als
gegensätzliche Zustände und sind miteinander im Konflikt. Aber haben sie eine
direkte Beziehung zur Wirklichkeit? Sind es Entitäten, die dauerhaft und
unveränderlich als Leuchten und Dunkelheit verstanden werden können?
Erleuchtung und Täuschung sind zunächst einmal nur Worte und Vorstellungen. Die reale Wirklichkeit ist davon im
Grundsatz weitgehend unabhängig. Der
Konflikt besteht also nicht zwischen einer möglichen Wirklichkeit der
Erleuchtung und der Täuschung, sondern nur zwischen den Begriffen und Vorstellungen.
Das bedeutet, dass sie als Begriffe auf die reale Wirklichkeit nicht zwingend
einwirken können. Die Dinge und Phänomene dieser Welt gibt es unabhängig davon,
ob sie für uns sichtbar sind oder nicht, ob es also Licht und Helligkeit gibt
oder Dunkelheit. Auch Dōgen äußert sich in ähnlicher Weise, indem er sagt, dass
wir uns des Zustandes der Erleuchtung nicht unbedingt bewusst seien.
Es ist möglich, dass die Dunkelheit, also die Täuschung im Sinne des
Buddhismus, durch die Dinge und Phänomene der Wirklichkeit selbst ausgeschaltet
werden kann, und die Dunkelheit kann durch buddhistische Praxis überwunden
werden. Es gibt zum Beispiel keine Wunderdroge, welche die Täuschung problemlos
beseitigt. Überlegungen und Ideen, die selbst der Täuschung unterliegen,
könnten damit auch die Täuschung nicht überwinden und sicher außer Kraft
setzen.“
„(…) Was aber richtig und wahr
ist und daher mit der Wirklichkeit übereinstimmt, hat tatsächlich die Kraft,
Falschheit und Täuschung zu überwinden. Dies kann wie bei der Erleuchtung in
kaum erkennbarer Weise vor sich gehen. Daraus wird die große Bedeutung des
Gleichgewichts in der Zazen-Praxis und im täglichen Handeln deutlich.
Täuschungen und unmoralische Handlungen können auf diese Weise und mit dieser
Praxis ausgeschaltet werden.
Wenn irgendetwas klar vor uns zu sehen ist, ist es gleichzeitig ein Teil
des Universums. Und in diesem Sinne können wir die Dunkelheit selbst als etwas
Reales verstehen, denn sie wird eindeutig wahrgenommen. Klar erkannte Täuschung ist in diesem Sinne also bereits eine gewisse Verwirklichung, denn die
Täuschung wird erkannt. Das ist ein wichtiger Schritt und oft der Beginn intensiver Praxis und eines
Neuanfangs, um aus der erkannten Täuschung herauszukommen.
Durch die Helligkeit der Erleuchtung können wir die Wirklichkeit der
Welt klar erkennen, die immer eine Ganzheit von Subjektivem und Objektivem ist.
In gleicher Weise ist Dunkelheit eine nicht-duale Ganzheit von subjektivem und
objektbezogenem Denken, Sehen und Handeln.
Die Wirklichkeit ist daher nichts Verborgenes, sondern selbst bei
Dunkelheit vorhanden und erkennbar! Erkannte Dunkelheit und Unwissenheit
gehören daher zur Wahrheit. Und die Wirklichkeit kann überhaupt nicht dauerhaft
verborgen werden. Dunkelheit und Unwissenheit verbergen für uns die reale Welt,
die sich aber unabhängig davon genauso manifestiert, wie sie ist.
Nāgārjuna fragt uns daher, wie eine solche Wirklichkeit ein subjektives Ich erzeugen kann. Da die
Wirklichkeit immer eine Ganzheit von Subjektivem und Objektbezogenem sei, kann
es ein subjektives Ich allein und nur
für sich überhaupt nicht geben. Eine solche Existenz eines metaphysischen Ich
ist also absurd. (…) Den ruhigen stabilen Zustand gibt es auf der Grundlage der
Selbststeuerung. Ein nur scheinbar statischer Zustand kann auch ohne
dynamisches Gleichgewicht existieren, aber er gleicht eher einem starren,
gestressten und unbeweglichen Leben.
Dann handelt es sich nur um eine scheinbare künstliche
Stabilität, die den Menschen einengt und ihm nur eine Scheinsicherheit im Auf und Ab des Lebens gibt. Eine solche
Scheinsicherheit kann schon durch kleine
Anlässe zerstört werden und führt ins Unglück.“
„(…) Je starrer unser Leben
in feste Raster gepresst wird, desto schwieriger ist es, dass sich die wahre
Selbststeuerung ereignen kann. Ein starres Raster ist das Gegenteil der
Ausdauer bei der buddhistischen Praxis. (…) Abstrakte Vorstellungen und
Konzepte allein können niemals den Zustand der Selbststeuerung und des
Gleichgewichts erzeugen. Der höchste Zustand der Selbststeuerung kann sich nicht ereignen, wenn der höchste Zustand
des Gleichgewichts nicht verwirklicht
ist. Beide Zustände sind also unlösbar miteinander verbunden. In diesem Sinne
sagt Dōgen, dass die Zazen-Praxis und die Erleuchtung immer zusammenfallen und
nicht getrennt werden können. Zazen ist daher identisch mit Selbststeuerung.“[xi]
[i] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 17ff.
[ii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 17ff.
[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 159ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s
Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 61ff.
[iv] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 39
[v] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 17ff.
[vi] Nāgārjuna: The Philosophy of
the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 42
[vii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I
[viii] Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra
[ix]
So auch: Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J.
Kalupahana), S. 178. Abweichend davon: Weber-Brosamer, Bernhard; Back, Dieter
M.: Die Philosophie der Leere. Nāgārjunas Mūlamadhyamaka-Kārikās, S. 90
[x] Nietzsche,
Friedrich: Also sprach Zarathustra
[xi] Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way.
Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 61ff.