Samstag, 8. Januar 2022

MMK Kap. 27: Täuschende Doktrinen zur Wiedergeburt und Buddhas umfassende Wahrheit

 Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text


Wer zum Grübeln neigt oder komplizierte philosophische Grenzfragen liebt, wird sich immer wieder Fragen zur Wiedergeburt und Existenz der Welt stellen. Sie lassen sich jedoch nicht sinnvoll beantworten und können laut Nāgārjuna endlose Folgen weiterer solcher Fragen auslösen. Zum Beispiel:

1. Woher bin ich gekommen? Gab es ein früheres Leben für mich? War ich derselbe oder ein anderer? Was habe ich aus dem früheren Leben in das jetzige übernommen? Habe ich gutes oder schlechtes Karma gemacht? Bin ich arm, weil ich schlechtes Karma habe? Bin ich wohlhabend, weil ich gutes Karma habe? Ist nicht jeder selbst schuld, wenn er wegen seines Karmas arm ist?

2. Was ist nach meinem Tod? Werde ich als gleicher Mensch ein zweites Leben haben? Werde ich dann identisch sein mit dem, der ich jetzt bin, oder werde ich total anders sein? Was wird aus dem jetzigen Leben in das nächste übertragen? Zum Beispiel mein Karma oder mein Geist? Welche guten und schlechten Taten werden überhaupt ins nächste Leben mitgenommen und bestimmen meinen zukünftigen Zustand der Wiedergeburt? Werden besonders meine formenden Kräfte (samskāra) übertragen und behindern sie mich bei meiner weiteren Entwicklung?

3. Was ist überhaupt meine jetzige Existenz? Existiere ich wirklich oder nicht? Wie kann ich meine jetzige Existenz beweisen? Bin ich genauso geworden, wie es vor der Geburt für mich festgelegt war? Welche Freiheitsmöglichkeiten habe ich, um mein Leben zu gestalten? Oder ist alles schon determiniert und festgelegt?

4. Seit wann existieren die Welt und das Universum? Wird das Universum ewig existieren?

 

Vor allem mit dem dritten Fragenkomplex hat sich auch die westliche Philosophie immer wieder eingehend auseinandergesetzt, ohne eigentlich daraus Informationsgewinn zu erhalten. Die Komplexität hat sich dadurch vergrößert und nicht reduziert. Die klassische Antwort für die Willensfreiheit ist dabei paradox: Naturwissenschaftlich betrachtet ist man als Mensch angeblich vollständig determiniert, aber der Geist sei total frei. Diese Aussagen sind also mit den Weltanschauungen des Materialismus und Idealismus eng verknüpft. Denn Idealisten behaupten im Allgemeinen, dass es die vollkommene Willensfreiheit gebe, während Materialisten genau dies bezweifeln. Sie behaupten, alles sei materiell und biologisch determiniert.

In der westlichen Philosophie hat die Überwindung des Dualismus von Rationalismus oder Idealismus einerseits und dem naturwissenschaftlichen Materialismus andererseits große Bedeutung. Der Idealismus beruft sich meist auf den griechischen Philosophen Platon, während sich der materielle Empirismus auf die angelsächsischen Philosophen Hobbes und Hume stützt. Für die griechische Philosophie ist aus meiner Sicht maßgeblich, dass der Mensch selbst als Individuum bei der Analyse der Wahrheit nicht einbezogen wird. Es geht also allein um die außen liegende, angeblich objektive Welt. Demgegenüber wird in der beginnenden Neuzeit seit Descartes der subjektiv denkende Mensch in den Mittelpunkt gestellt. Nishijima Roshi bezeichnet die scheinbar objektive Sichtweise als Materialismus und die subjektive als Idealismus.

Die große Bedeutung von Immanuel Kant wird in der Philosophiegeschichte mit seinem intensiven Versuch begründet, den Dualismus der äußeren „objektiven“ Philosophie und der inneren Subjektivität zu überwinden. Dabei greift Kant für den Bereich der Vernunft und des Rationalen auf ein Modell der Propädeutik zurück. Das heißt, dass es in der Welt Vor-Festlegungen gibt, die der empirischen Beobachtung und Erfahrung vorgeschaltet sind. Er betont, dass damit keine zeitliche Trennung gemeint ist. Beobachtung und Erfahrung dürfen nach Kant also nicht voneinander getrennt werden, sondern sie sind aufeinander bezogen. Das heißt: Ohne empirische Untersuchungen gibt es keine sinnvolle Propädeutik und umgekehrt.

Aus buddhistischer Sicht ist dieser Ansatz nicht ganz falsch, aber auch nicht wirklich überzeugend. Denn es bleibt unklar, wie dieser Zusammenhang konkret aussehen soll, wenn also eine gewisse Unabhängigkeit beider Denk- und Erfahrungsmodelle gegeben ist. Nishijima Roshi betont zu Recht, dass der denkerische Dualismus einfach und direkt durch das Handeln im Augenblick aufgehoben wird. Im Augenblick des Handelns gibt es keine sinnvolle Trennung zwischen dem handelnden Subjekt, einem Objekt und dem Prozess des Handelns selbst. Das heißt, dass der Dualismus maßgeblich durch unser Denken produziert wird, also in unserem Gehirn verankert ist. Er verliert fundamental an Bedeutung, wenn die Realität des Handelns, die klare sinnliche Wahrnehmung und das ganzheitliche Denken im Augenblick zusammenwirken. Ein Modell des Dualismus geht an der so erfahrbaren Wirklichkeit vorbei. Wichtig ist, dass Handeln, sinnliche Wahrnehmung und Bewusstsein in enger Wechselwirkung mit den formenden Kräften des Menschen interagieren. Ich möchte aber anmerken, dass Kant fundamentale Grundlagen zur Aufklärung bereitgestellt hat. Er sagt zum Beispiel, man solle nichts naiv glauben und nichts übernehmen, was man nicht selbst durchdacht hat: „Habe den Mut, selbst zu denken.“ Damit spricht er die Befreiung des Geistes an.

Mit der Frage nach der Willensfreiheit sind Ethik und Moral eng verbunden: Wenn es überhaupt keine Willensfreiheit gäbe, wäre es unsinnig, moralische Maßstäbe zu verwenden und nach gutem und nicht gutem Handeln zu unterscheiden. Bei einer Pflanze würde sicher niemand auf die Idee kommen, von Moral und Ethik zu sprechen. Denn die Pflanze hat keine ethische Willensfreiheit und Entscheidungsmöglichkeit. Sie ist weitgehend durch die genetische Struktur ihres Samens festgelegt. Es kommt lediglich zu gewissen Varianten, die sich aus den Bedingungen der Umwelt ergeben, also der Bodenbeschaffenheit, Sonneneinstrahlung, Feuchtigkeit usw. Wenn wir die Pflanzen aufgrund ihrer Determiniertheit als den einen Pol der Evolution annehmen, bilden die Menschen den anderen Pol. Denn sie haben ein zentrales Nervensystem mit den Funktionen des Gedächtnisses, der Planung, der Intention, der Bewertung nach moralischen und ethischen Maßstäben sowie des wechselwirkenden Lernens mit anderen Menschen und der Umwelt. Die Tiere nehmen dabei eine Mittelstellung ein. Sie sind zum einen genetisch und durch Instinkte in weiten Bereichen determiniert, verfügen aber auch über ein nicht unerhebliches Maß an sozialer und ökologischer Lernfähigkeit. Dies gilt in der Interaktion mit anderen Tieren, zum Beispiel der Gruppe, in der sie aufwachsen, und der Umwelt.

Die höchste Fähigkeit des Lernens, der Anpassung und Kreativität haben sicher die Menschen. Durch die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen und zu benutzen, hat sich in der Evolution des Menschen eine große Bandbreite des individuellen und sozialen Lernens eröffnet. Aber jeder von uns benötigt eine längere Entwicklungs- und Lernstrecke, bevor er den Aufgaben und Anforderungen seines Lebens gerecht wird. Zudem leben wir in durchaus unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Strömungen, die uns in erheblichem Maß unbewusst beeinflussen.

In diesem letzten Kapitel des MMK behandelt Nāgārjuna die spekulativen Fragen nach der Wiedergeburt. Da es Buddha vor allem um die Verbesserung des gegenwärtigen Lebens geht, hält er es für unsere Lebenspraxis nicht für sinnvoll und ergiebig, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Durch die Naturwissenschaften steht uns heute sehr viel mehr belastbares Wissen zur Verfügung als zu Zeiten Buddhas. Es gibt zum Beispiel Erkenntnisse darüber, wie sich unsere Welt entwickelt hat, wie alt sie ist, wann in der Evolutionsgeschichte die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten entstanden sind und welche Eigenschaften sie hatten. Aber trotz all dieser Fortschritte der Naturwissenschaften bleiben zentrale Fragen unbeantwortet, beispielsweise, was vor dem angenommenen Urknall vor etwa zwölf Milliarden Jahren war und was in der fernen Zukunft sein wird. Es bleibt ein großer Raum für alle möglichen spekulativen Meinungen und sogar für völlig abstruse Verschwörungstheorien. Ebenso gibt es viele unbeantwortbare Fragen nach dem menschlichen Unbewussten, Bewussten und ethischen Vorstellungen und wie das alles zusammenwirkt. Auch die heutige Psychotherapie hat keine simplen Lösungen dafür, wie wir Auswege aus unserem Leiden finden und ein erfülltes, glückliches Leben führen können. Und genau dies sind die Themen und Fragen Buddhas, die Nāgārjuna im MMK klar herausarbeitet. Er will den Buddhismus von Fehlentwicklungen befreien, die durch verwirrende und verführerische Spekulationen entstanden sind.

Mit Kalupahana[i] stimme ich darin überein, dass gerade dieses letzte Kapitel des MMK maßgeblich dazu beiträgt, unnützes Spekulieren zu entlarven und von der bewährten Weisheit und Praxis Gautama Buddhas abzugrenzen: Ein wirklich gutes Leben wird durch den Mittleren Weg ermöglicht, der dogmatische Extreme, fixierte Ansichten und festgefahrene Positionen vermeidet. Er dient sowohl der Wahrheit des Alltäglichen als auch der Verwirklichung der höchsten dem Menschen zugänglichen Wahrheit. Dabei haben die Klarheit und Offenheit des Augenblicks, die Meister Dōgen und Nishijima Roshi so sehr in den Mittelpunkt stellen, eine besonders hohe Bedeutung. Es kann nämlich zum unreflektierten Dogma werden, wenn bestimmte Lehrmeinungen die Offenheit und Beweglichkeit des menschlichen Geistes empfindlich einschränken. Der Weg zur Befreiung wird dadurch behindert oder sogar ganz versperrt. Jedes Dogma bedroht die geistige, psychische und spirituelle Freiheit und engt den Denk- und Handlungsraum des Menschen ein. Die Existenz von Dogmen widerspricht im Kern der Lehre des Mittleren Weges.

Kalupahana sagt zu Kapitel 27: „Buddhas Ablehnung eines unveränderlichen und ewigen Selbst (ātman) und seine Erklärung der menschlichen Persönlichkeit sind für die meisten Philosophen unverdaulich geblieben, seitdem (er diese Lehre) präsentiert hat.“[ii] Die späteren Interpretationen seien daher widersprüchlich und mit dem authentischen Buddhismus nicht vereinbar. Zum einen würde von den Internalisten wiederum ein permanentes und ewiges Selbst unterstützt. Andere lehnten das Ganze der Wiedergeburt mehr oder minder als Halluzinationen ab. „Diese beiden Sichtweisen haben in der Welt überdauert, bis zum heutigen Tag, ähnlich wie die Sichtweisen über die Beziehung zwischen Ursachen und Wirkung überdauert haben“, erklärt Kalupahana. Buddha habe dies im Sūtta für Kaccāna grundlegend behandelt, wenn „er von der Neigung des Ergreifens von geistigen Extremen auf der Seite des Menschen sprach“.[iii] Dieses Sūtta sei auch Grundlage des MMK. Demnach gibt es drei Grundtypen von Fragen über die Existenz: 1. Habe ich in der Vergangenheit existiert oder nicht? 2. Werde ich in der Zukunft existieren oder nicht? 3. Existiere ich in der Gegenwart oder existiere ich nicht in der Gegenwart? Nāgārjuna erklärt dazu:

 

Vers 27.1

Es gibt die beiden Ansichten zur Vergangenheit: „Ich existierte in der vergangenen Zeit“ oder „Ich existierte nicht“ in der vergangenen Zeit.

Diese Ansichten entstehen durch die Vorstellung einer ewigen Welt und eines Anfangs der Existenz.

 

Man kann es auch anders formulieren: Ich existierte in der vergangenen Zeit, so wie ich jetzt bin. Oder ich existierte nicht in der vergangenen Zeit, so wie ich jetzt bin.

Nāgārjuna sagt hier in aller Klarheit, dass es sinnlos ist, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob man in der Vergangenheit so als Individuum existiert hat, wie man jetzt ist, oder ob man etwas ganz anderes war. Zweifellos sind diese bohrenden Fragen für viele schwer zu kontrollieren, aber Buddha hält sie und die daraus entstehenden Meinungen und Doktrinen für überflüssig und sogar schädlich für den eigenen Befreiungsprozess. Solche Ansichten sind vielmehr der vorbuddhistischen Zeit oder dem Hinduismus zuzurechnen, bei dem die Wiedergeburt der Menschen als unveränderlicher ātman Grundlage des Glaubens ist. Dieser ātman ist also eine ewige Ich-Substanz. Bekanntlich hat Buddha diesen Glauben entschieden zurückgewiesen.

Auch heute sind Vorstellungen und Gespräche über das vorherige Leben und das dort angeblich begangene Karma nicht selten. Manche esoterischen Gruppen neigen dazu, sich in solchen Illusionswelten zu verlieren. Insbesondere wer in diesem Leben große ungelöste Probleme und schwerwiegende Fehler begangen hat, neigt dazu, sich in eine künftige wunderbare Wiedergeburt hineinzufantasieren. Er hofft vielleicht, damit seine Lebensenergie wiederzugewinnen, also im Sinne des Buddhismus seine bewussten und unbewussten formenden Kräfte ganz fundamental zu verbessern. Buddha rät jedoch dringend dazu, sich ganz einfach um die eigene konkrete Befreiung in diesem Leben zu kümmern.

Leider äußern sich auch angeblich hellsichtige und erleuchtete Menschen recht schnell darüber, was der Andere im letzten Leben angeblich war, gemacht habe und wie er gestorben sei. Solche Aussagen hindern den eigenen Entwicklungsprozess viel mehr, als dass sie ihn unterstützen. Wer zum Beispiel zu hören bekommt, er sei im letzten Leben ein Militarist, ein Betrüger oder sogar ein Mörder gewesen, der wird viele Jahre an sich selbst zweifeln. Dadurch werden seine Weiterentwicklung und Befreiung stark beeinträchtigt. Zweifellos geht es dabei oft um die Ausübung von Macht über die Betroffenen.

Nishijima Roshi ergänzt, dass es Nāgārjuna im Gegensatz zu den damaligen Sekten und Doktrinen der Ewigkeit um die Wirklichkeit selbst geht. Daher sei der Glaube an eine frühere Existenz nicht überzeugend. Buddha habe laut Nāgārjuna diese Fragen als Spekulationen abgelehnt, da es kein sicheres Wissen über die Vergangenheit und schon gar nicht über die Zukunft gibt. Philosophisch-theoretische Fragen zur Existenz im absoluten Sinne können nicht beantwortet werden, erklärt Kalupahana. Er hält fest: „(Buddha) rät (seinen Schülern) stattdessen, mit ihren verfügbaren Möglichkeiten und Ressourcen zu versuchen, die Dinge und Zusammenhänge zu verstehen, wie sie sind und entstanden sind, und die Freiheit vom Leiden auszuarbeiten.“ Beschäftige man sich zu viel mit oben genannten Fragen, würde dies gerade zu neuer Bindung und Fesselung und damit zum Leiden führen. Er zitiert dazu Buddha: „Wenn man keine Sichtweise (und Meinung) ergreift, mit einer angemessenen Wahrnehmung und Moral beschenkt ist und die Gier nach (oberflächlichen) Freuden der Sinne gebändigt hat“, sei dies in diesem Leben das Beste. Dies gelte gerade auch, um zukünftige schlechte Geburten zu vermeiden.[iv]

Nāgārjuna fährt fort:

 

Vers 27.13

Alle die vier logisch möglichen Ansichten der Vergangenheit sind nicht passend (wenn sie absolut gedacht werden):

„Ich existierte nicht“, „ich existierte“, „beides: ich existierte und ich existierte zugleich nicht“ und schließlich beides als Negation: „Weder existierte ich, noch existierte ich nicht“.

 

In diesem Vers werden die vier grundsätzlich möglichen logischen Alternativen zur Vergangenheit der eigenen absoluten Existenz aufgeführt und alle falsifiziert. Damit sind alle substantialistisch verzerrten Existenzformen eines früheren Lebens ad absurdum geführt. Keine dieser Möglichkeiten kann es für eine vorherige Existenz im Rahmen der Wiedergeburtslehre geben. Dies gilt auch für die substanzhaften Extreme „ich war“ oder „ich war nicht“, das heißt, ich habe als Entität existiert oder ich habe nicht existiert. Sie stimmen mit der zentralen Aussage des Mittleren Weges zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und damit der Leerheit von solchen Spekulationen nicht überein. Derartige Extreme sind phänomenologisch in der Wirklichkeit nicht aufzufinden, sondern illusorisch und metaphysisch. Sie führen zu Schmerzen und Leiden.

Nishijima Roshi erläutert, dass die Menschen unterschiedliche Bindungen an die Vergangenheit und Zukunft haben und dass sich dies je nach Situation und Lebensphase ändern kann. Materialistisch orientierte Menschen neigen dazu, die materiellen Gegebenheiten in der Vergangenheit zu überschätzen. Sie neigen also zum Determinismus. Idealistische Menschen überschätzen oft zumindest phasenweise die eigene Freiheit und verlieren sich in Fantasien darüber, was sie erreichen oder ändern wollen. Beides sind Extreme, die nach dem Mittleren Weg in die Irre führen und keine Stabilität für die eigene Entwicklung ermöglichen.

In diesem abschließenden Kapitel geht es also wie in den vorhergehenden um die Befreiung von unheilsamen Doktrinen, die eine Weiterentwicklung und Emanzipation des Menschen beeinträchtigen oder unmöglich machen. Eine solche Befreiung oder Erleuchtung ist sicher nicht einfach und erfordert unsere volle Achtsamkeit, Energie, Ausdauer sowie Freude zur Veränderung und zum Besseren. „Die Vielfalt falscher Sichtweisen wurde von Buddha hauptsächlich aus pragmatischen Gründen abgelehnt, und zwar deswegen, weil sie nicht zur Freiheit und zum Glück führen“, sondern zu Dogmatismen, Konflikten und Leiden, erklärt Kalupahana. Deshalb sei der Mittlere Weg richtig, um den wahren Befreiungsweg zu erkennen und zu gehen.[v]

Nishijima Roshi beschreibt die Wirklichkeit des Universums und des Lebens als ein Zusammenwirken individueller Gegebenheiten in einem gesamten Gefüge. Einerseits gebe es die Sicht der Individualität und der Besonderheit. Auf der anderen Seite gebe es die Notwendigkeit des Gesamten, die häufig im Buddhismus auch als Einheit bezeichnet werde. Damit bezieht er sich auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrung und der Erkenntnis des Zen-Buddhismus Meister Dōgens auf die Zentralaussage der Präambel des MMK: das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Beim Extrem einer totalen Einheit gäbe es keine Wechselwirkung, weil die Einheit in sich selbst identisch wäre. Sie hätte dann gerade keine Dynamik, Entwicklung, Emanzipation und Befreiung.

Systemtheoretisch betrachtet, geht es um die Systemgrenze verschiedener gekoppelter Teilsysteme oder eines einzelnen beobachteten Systems mit seiner Umwelt.[vi] Die Systemgrenze hat demnach eine doppelte Funktion: Zum einen grenzt sie die einzelnen Systeme in gewissem Maße voneinander oder von der Umwelt ab. Zum anderen ermöglicht sie eine Wechselwirkung, gegenseitige positive Beeinflussung und Resonanz. Dadurch kann es überhaupt erst zu einem Zusammenwirken kommen. Das ist gleichzeitig die zentrale Funktion für alles Lebende. Diese von Niklas Luhmann theoretisch erarbeitete allgemeine Systemtheorie datiert aus den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts und ist nach meiner festen Überzeugung von hoher wissenschaftlicher Qualität. Ganz ähnliche Ansätze finden sich in der modernen Gehirnforschung, die das Zusammenwirken von spezialisierten Teilsystemen im neuronalen Netz in den Mittelpunkt stellt.[vii] Auch hier gibt es Abgrenzungen zwischen Modulen und Teilsystemen des Gehirns, die je nach Entwicklung und Lernprozessen miteinander in intensiver Wechselwirkung und im Informationsaustausch sind. Je intensiver die Wechselwirkungen sind, desto höher ist die Leistungsfähigkeit und Informationsverarbeitung der gekoppelten Teilsysteme.

Philosophisch und erkenntnistheoretisch kommt es einer Sensation gleich, dass Gautama Buddha diese Zusammenhänge intuitiv bereits vor 2.500 Jahren erkannt und zur Grundlage seiner praktischen Philosophie der Befreiung und Emanzipation gemacht hat. Das große Verdienst Nāgārjunas ist es, dass er diese fundamentalen philosophischen und praktischen Wahrheiten von fehlgeleiteten Doktrinen und vorbuddhistischem Aberglauben befreit und an die heutige Zeit übermittelt hat.

 

Vers 27.29

Wegen der Leerheit und Wechselwirkung aller gewordenen Dinge, Phänomene und Prozesse fragt sich: Wo, für wen und warum bilden sich überhaupt bestimmte Ansichten und Dogmen von Dauerhaftigkeit, Ewigkeit usw.?

 

Die Antwort auf diese Frage lautet: Die genannten Ansichten sind überflüssig und meist schädlich, denn die Wirklichkeit wird durch Leerheit und deshalb durch Wechselwirkung charakterisiert. Damit kommt Nāgārjuna also zur wesentlichen Aussage über irgendwelche mehr oder minder beliebig ausgedachten Ansichten und Dogmen zur Frage der Dauerhaftigkeit, Ewigkeit, des plötzlichen Verschwindens und damit des Nichts usw. Im MMK hat er den Begriff Leerheit für das wechselwirkende gemeinsame Entstehen geprägt. Für abweichende Doktrinen und Dogmen bleibt überhaupt kein Raum.

Die Wirklichkeit ist leer von Dogmen und verwirrenden Ansichten. Es geht also nicht darum, die vorhandenen Doktrinen durch andere zu ersetzen, sondern sie grundsätzlich zum Beispiel durch den Achtfachen Pfad und das Vermeiden aller Extreme außer Kraft zu setzen. Sie kommen dann zur Ruhe und können keine störenden Wirkungen mehr auf den Menschen und seine fünf Komponenten – Körper, Wahrnehmung, Gefühle, formende Kräfte, Handeln und Bewusstsein – ausüben. Dann kann die Wirklichkeit in größtmöglicher Reinheit und Klarheit erkannt werden, wie es uns Gautama Buddha vorgelebt hat.

Nishijima Roshi hebt hervor, dass ein Leben im Gleichgewicht im Sinne des Buddhismus nicht ohne Ethik und Moral verwirklicht werden kann. Es handelt sich dabei nicht um eine theoretische, philosophische Frage und Aufgabe für uns, sondern um unser ganzheitliches Leben mit unserem praktischen Handeln. Ich möchte hinzufügen, dass vor allem falsche Doktrinen zu destruieren sind, die mit Buddhas Lehre nicht übereinstimmen. So will Nāgārjuna ein Wissen an uns übermitteln, das wirklicher sei als alle Doktrinen, erklärt Nishijima Roshi: „Es bleibt uns überlassen, für uns selbst zu sehen, was er aufgezeigt hat.“

Nāgārjuna macht in diesem Kapitel deutlich, wie wichtig es ist, irrige Ansichten, Dogmen, Doktrinen und Ideologien, auch religiös gefärbte, zu hinterfragen und ihnen eine klare Absage zu erteilen. Der Weg zur Erleuchtung ist laut Nāgārjuna verbunden mit einem kontinuierlichen Abbau von Dogmen und Ideologien – woher sie auch immer kommen mögen, wodurch sie auch immer entstanden sind und von wem auch immer sie verbreitet werden. Am Ende des MMK heißt es:

 

Vers 27.30

Ich werde mich vor diesem Gautama Buddha verneigen, der den wahren Buddha-Dharma aufzeigte und tiefes Mitgefühl hatte, damit alle verwirrenden Ansichten, unrechte Sichtweisen, unheilsamen Doktrinen und irrealen Illusionen aufgegeben werden.

 

Damit kommt Nāgārjuna zum Schluss seiner Analysen und Ausführungen im MMK. Er bekräftigt, dass er sich vor Gautama Buddha verneigt, ihm Ehrerbietung entgegenbringt und damit seiner wahren Lehre, dem Buddha-Dharma, zur Erneuerung verhelfen will.

Nishijima Roshi stellt fest: „Mit diesem Vers beendet Nāgārjuna seine Analyse des Mittleren Weges, die er als Wiedererweckung der authentischen und wahren Lehre Gautama Buddhas versteht.“ Doktrinen und abstrakte Theorien seien künstliche Erzeugnisse des Geistes und nicht die Wirklichkeit selbst. Denn diese Wirklichkeit habe eine unendliche Komplexität, die niemals vollständig durchschaut und erfasst werden könne, was besonders für die Vergangenheit und Zukunft gelte. Lehren können immer nur Hilfen und Fingerzeige geben, die gute Wirkungen erzeugen und zur positiven Veränderung des Menschen in seinem Denken, Fühlen und Handeln beitragen können.

Der wahre Buddha-Dharma benötigt keine unrealen Doktrinen, denn er ist das Leben selbst, in seiner wunderbaren Schönheit, Vielfalt und Gesamtheit. Das ist die Verwirklichung der Buddha-Natur. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Lehren Gautama Buddhas eine hervorragende Qualität gerade für die Gegenwart besitzen. Ich habe tiefe Dankbarkeit gegenüber Gautama Buddha, Nāgārjuna, vielen Meistern des Buddhismus und nicht zuletzt meiner Lehrerin Dae Poep Sa Nim und besonders meinem Lehrer Nishijima Roshi.

 


[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 80

[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 78f.

[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 11

[iv] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 79f.

[v] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 78ff.

[vi] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme

[vii] Spitzer, Manfred: Geist im Netz