Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
Wer zum Grübeln neigt oder komplizierte philosophische Grenzfragen liebt, wird sich immer wieder Fragen zur Wiedergeburt und Existenz der Welt stellen. Sie lassen sich jedoch nicht sinnvoll beantworten und können laut Nāgārjuna endlose Folgen weiterer solcher Fragen auslösen. Zum Beispiel:
1. Woher bin ich gekommen? Gab es ein früheres Leben
für mich? War ich derselbe oder ein anderer? Was habe ich aus dem früheren
Leben in das jetzige übernommen? Habe ich gutes oder schlechtes Karma gemacht?
Bin ich arm, weil ich schlechtes Karma habe? Bin ich wohlhabend, weil ich gutes
Karma habe? Ist nicht jeder selbst schuld, wenn er wegen seines Karmas arm ist?
2. Was ist nach meinem Tod? Werde ich als gleicher
Mensch ein zweites Leben haben? Werde ich dann identisch sein mit dem, der ich
jetzt bin, oder werde ich total anders sein? Was wird aus dem jetzigen Leben in
das nächste übertragen? Zum Beispiel mein Karma oder mein Geist? Welche guten
und schlechten Taten werden überhaupt ins nächste Leben mitgenommen und
bestimmen meinen zukünftigen Zustand der Wiedergeburt? Werden besonders meine
formenden Kräfte (samskāra) übertragen und behindern sie mich bei meiner
weiteren Entwicklung?
3. Was ist überhaupt meine jetzige Existenz? Existiere
ich wirklich oder nicht? Wie kann ich meine jetzige Existenz beweisen? Bin ich
genauso geworden, wie es vor der Geburt für mich festgelegt war? Welche
Freiheitsmöglichkeiten habe ich, um mein Leben zu gestalten? Oder ist alles
schon determiniert und festgelegt?
4. Seit wann existieren die Welt und das Universum?
Wird das Universum ewig existieren?
Vor allem mit dem dritten Fragenkomplex hat sich auch
die westliche Philosophie immer wieder eingehend auseinandergesetzt, ohne
eigentlich daraus Informationsgewinn zu erhalten. Die Komplexität hat sich
dadurch vergrößert und nicht reduziert. Die klassische Antwort für die
Willensfreiheit ist dabei paradox: Naturwissenschaftlich betrachtet ist man als
Mensch angeblich vollständig determiniert, aber der Geist sei total frei. Diese
Aussagen sind also mit den Weltanschauungen des Materialismus und Idealismus
eng verknüpft. Denn Idealisten behaupten im Allgemeinen, dass es die
vollkommene Willensfreiheit gebe, während Materialisten genau dies bezweifeln.
Sie behaupten, alles sei materiell und biologisch determiniert.
In der westlichen Philosophie hat die Überwindung des
Dualismus von Rationalismus oder Idealismus einerseits und dem
naturwissenschaftlichen Materialismus andererseits große Bedeutung. Der
Idealismus beruft sich meist auf den griechischen Philosophen Platon, während
sich der materielle Empirismus auf die angelsächsischen Philosophen Hobbes und
Hume stützt. Für die griechische Philosophie ist aus meiner Sicht maßgeblich,
dass der Mensch selbst als Individuum bei der Analyse der Wahrheit nicht
einbezogen wird. Es geht also allein um die außen liegende, angeblich objektive
Welt. Demgegenüber wird in der beginnenden Neuzeit seit Descartes der subjektiv
denkende Mensch in den Mittelpunkt gestellt. Nishijima Roshi bezeichnet die
scheinbar objektive Sichtweise als Materialismus und die subjektive als
Idealismus.
Die große Bedeutung von Immanuel Kant wird in der
Philosophiegeschichte mit seinem intensiven Versuch begründet, den Dualismus
der äußeren „objektiven“ Philosophie und der inneren Subjektivität zu
überwinden. Dabei greift Kant für den Bereich der Vernunft und des Rationalen
auf ein Modell der Propädeutik zurück. Das heißt, dass es in der Welt
Vor-Festlegungen gibt, die der empirischen Beobachtung und Erfahrung
vorgeschaltet sind. Er betont, dass damit keine zeitliche Trennung gemeint ist.
Beobachtung und Erfahrung dürfen nach Kant also nicht voneinander getrennt
werden, sondern sie sind aufeinander bezogen. Das heißt: Ohne empirische
Untersuchungen gibt es keine sinnvolle Propädeutik und umgekehrt.
Aus buddhistischer Sicht ist dieser Ansatz nicht ganz
falsch, aber auch nicht wirklich überzeugend. Denn es bleibt unklar, wie dieser
Zusammenhang konkret aussehen soll, wenn also eine gewisse Unabhängigkeit beider
Denk- und Erfahrungsmodelle gegeben ist. Nishijima Roshi betont zu Recht, dass
der denkerische Dualismus einfach und direkt durch das Handeln im Augenblick
aufgehoben wird. Im Augenblick des Handelns gibt es keine sinnvolle Trennung
zwischen dem handelnden Subjekt, einem Objekt und dem Prozess des Handelns
selbst. Das heißt, dass der Dualismus maßgeblich durch unser Denken produziert
wird, also in unserem Gehirn verankert ist. Er verliert fundamental an
Bedeutung, wenn die Realität des Handelns, die klare sinnliche Wahrnehmung und
das ganzheitliche Denken im Augenblick zusammenwirken. Ein Modell des Dualismus
geht an der so erfahrbaren Wirklichkeit vorbei. Wichtig ist, dass Handeln,
sinnliche Wahrnehmung und Bewusstsein in enger Wechselwirkung mit den formenden
Kräften des Menschen interagieren. Ich möchte aber anmerken, dass Kant
fundamentale Grundlagen zur Aufklärung bereitgestellt hat. Er sagt zum
Beispiel, man solle nichts naiv glauben und nichts übernehmen, was man nicht
selbst durchdacht hat: „Habe den Mut, selbst zu denken.“ Damit spricht er die
Befreiung des Geistes an.
Mit der Frage nach der Willensfreiheit sind Ethik und
Moral eng verbunden: Wenn es überhaupt keine Willensfreiheit gäbe, wäre es
unsinnig, moralische Maßstäbe zu verwenden und nach gutem und nicht gutem
Handeln zu unterscheiden. Bei einer Pflanze würde sicher niemand auf die Idee
kommen, von Moral und Ethik zu sprechen. Denn die Pflanze hat keine ethische
Willensfreiheit und Entscheidungsmöglichkeit. Sie ist weitgehend durch die genetische
Struktur ihres Samens festgelegt. Es kommt lediglich zu gewissen Varianten, die
sich aus den Bedingungen der Umwelt ergeben, also der Bodenbeschaffenheit,
Sonneneinstrahlung, Feuchtigkeit usw. Wenn wir die Pflanzen aufgrund ihrer
Determiniertheit als den einen Pol der Evolution annehmen, bilden die Menschen
den anderen Pol. Denn sie haben ein zentrales Nervensystem mit den Funktionen
des Gedächtnisses, der Planung, der Intention, der Bewertung nach moralischen
und ethischen Maßstäben sowie des wechselwirkenden Lernens mit anderen Menschen
und der Umwelt. Die Tiere nehmen dabei eine Mittelstellung ein. Sie sind zum
einen genetisch und durch Instinkte in weiten Bereichen determiniert, verfügen
aber auch über ein nicht unerhebliches Maß an sozialer und ökologischer
Lernfähigkeit. Dies gilt in der Interaktion mit anderen Tieren, zum Beispiel
der Gruppe, in der sie aufwachsen, und der Umwelt.
Die höchste Fähigkeit des Lernens, der Anpassung und
Kreativität haben sicher die Menschen. Durch die Fähigkeit, eine Sprache zu
erlernen und zu benutzen, hat sich in der Evolution des Menschen eine große
Bandbreite des individuellen und sozialen Lernens eröffnet. Aber jeder von uns
benötigt eine längere Entwicklungs- und Lernstrecke, bevor er den Aufgaben und
Anforderungen seines Lebens gerecht wird. Zudem leben wir in durchaus
unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Strömungen, die uns in
erheblichem Maß unbewusst beeinflussen.
In diesem letzten Kapitel des MMK behandelt Nāgārjuna
die spekulativen Fragen nach der Wiedergeburt. Da es Buddha vor allem um die
Verbesserung des gegenwärtigen Lebens geht, hält er es für unsere Lebenspraxis
nicht für sinnvoll und ergiebig, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. Durch
die Naturwissenschaften steht uns heute sehr viel mehr belastbares Wissen zur
Verfügung als zu Zeiten Buddhas. Es gibt zum Beispiel Erkenntnisse darüber, wie
sich unsere Welt entwickelt hat, wie alt sie ist, wann in der
Evolutionsgeschichte die verschiedenen Pflanzen- und Tierarten entstanden sind
und welche Eigenschaften sie hatten. Aber trotz all dieser Fortschritte der
Naturwissenschaften bleiben zentrale Fragen unbeantwortet, beispielsweise, was
vor dem angenommenen Urknall vor etwa zwölf Milliarden Jahren war und was in
der fernen Zukunft sein wird. Es bleibt ein großer Raum für alle möglichen
spekulativen Meinungen und sogar für völlig abstruse Verschwörungstheorien.
Ebenso gibt es viele unbeantwortbare Fragen nach dem menschlichen Unbewussten,
Bewussten und ethischen Vorstellungen und wie das alles zusammenwirkt. Auch die
heutige Psychotherapie hat keine simplen Lösungen dafür, wie wir Auswege aus
unserem Leiden finden und ein erfülltes, glückliches Leben führen können. Und
genau dies sind die Themen und Fragen Buddhas, die Nāgārjuna im MMK klar herausarbeitet.
Er will den Buddhismus von Fehlentwicklungen befreien, die durch verwirrende
und verführerische Spekulationen entstanden sind.
Mit Kalupahana[i]
stimme ich darin überein, dass gerade dieses letzte Kapitel des MMK maßgeblich
dazu beiträgt, unnützes Spekulieren zu entlarven und von der bewährten Weisheit
und Praxis Gautama Buddhas abzugrenzen: Ein wirklich gutes Leben wird durch den
Mittleren Weg ermöglicht, der dogmatische Extreme, fixierte Ansichten und
festgefahrene Positionen vermeidet. Er dient sowohl der Wahrheit des
Alltäglichen als auch der Verwirklichung der höchsten dem Menschen zugänglichen
Wahrheit. Dabei haben die Klarheit und Offenheit des Augenblicks, die Meister
Dōgen und Nishijima Roshi so sehr in den Mittelpunkt stellen, eine besonders
hohe Bedeutung. Es kann nämlich zum unreflektierten Dogma werden, wenn
bestimmte Lehrmeinungen die Offenheit und Beweglichkeit des menschlichen
Geistes empfindlich einschränken. Der Weg zur Befreiung wird dadurch behindert
oder sogar ganz versperrt. Jedes Dogma bedroht die geistige, psychische und
spirituelle Freiheit und engt den Denk- und Handlungsraum des Menschen ein. Die
Existenz von Dogmen widerspricht im Kern der Lehre des Mittleren Weges.
Kalupahana sagt zu Kapitel 27: „Buddhas Ablehnung
eines unveränderlichen und ewigen Selbst (ātman) und seine Erklärung der
menschlichen Persönlichkeit sind für die meisten Philosophen unverdaulich
geblieben, seitdem (er diese Lehre) präsentiert hat.“[ii]
Die späteren Interpretationen seien daher widersprüchlich und mit dem
authentischen Buddhismus nicht vereinbar. Zum einen würde von den Internalisten
wiederum ein permanentes und ewiges Selbst unterstützt. Andere lehnten das
Ganze der Wiedergeburt mehr oder minder als Halluzinationen ab. „Diese beiden
Sichtweisen haben in der Welt überdauert, bis zum heutigen Tag, ähnlich wie die
Sichtweisen über die Beziehung zwischen Ursachen und Wirkung überdauert haben“,
erklärt Kalupahana. Buddha habe dies im Sūtta für Kaccāna grundlegend
behandelt, wenn „er von der Neigung des Ergreifens von geistigen Extremen auf
der Seite des Menschen sprach“.[iii]
Dieses Sūtta sei auch Grundlage des MMK. Demnach gibt es drei Grundtypen von
Fragen über die Existenz: 1. Habe ich in der Vergangenheit existiert oder
nicht? 2. Werde ich in der Zukunft existieren oder nicht? 3. Existiere ich in
der Gegenwart oder existiere ich nicht in der Gegenwart? Nāgārjuna erklärt
dazu:
Vers 27.1
Es gibt die beiden Ansichten zur Vergangenheit: „Ich existierte in der vergangenen Zeit“ oder „Ich
existierte nicht“ in der vergangenen Zeit.
Diese Ansichten entstehen durch die Vorstellung einer
ewigen Welt und eines Anfangs der Existenz.
Man kann es auch anders
formulieren: Ich existierte in der
vergangenen Zeit, so wie ich jetzt bin. Oder ich existierte nicht in der vergangenen Zeit, so wie ich jetzt bin.
Nāgārjuna sagt hier in aller Klarheit, dass es sinnlos ist, sich den
Kopf darüber zu zerbrechen, ob man in der Vergangenheit so als Individuum
existiert hat, wie man jetzt ist, oder ob man etwas ganz anderes war.
Zweifellos sind diese bohrenden Fragen für viele schwer zu kontrollieren, aber
Buddha hält sie und die daraus entstehenden Meinungen und Doktrinen für
überflüssig und sogar schädlich für den eigenen Befreiungsprozess. Solche
Ansichten sind vielmehr der vorbuddhistischen Zeit oder dem Hinduismus zuzurechnen,
bei dem die Wiedergeburt der Menschen als unveränderlicher ātman Grundlage des
Glaubens ist. Dieser ātman ist also eine ewige Ich-Substanz. Bekanntlich hat
Buddha diesen Glauben entschieden zurückgewiesen.
Auch heute sind Vorstellungen und Gespräche über das vorherige Leben und
das dort angeblich begangene Karma nicht selten. Manche esoterischen Gruppen
neigen dazu, sich in solchen Illusionswelten zu verlieren. Insbesondere wer in
diesem Leben große ungelöste Probleme und schwerwiegende Fehler begangen hat,
neigt dazu, sich in eine künftige wunderbare Wiedergeburt hineinzufantasieren.
Er hofft vielleicht, damit seine Lebensenergie wiederzugewinnen, also im Sinne
des Buddhismus seine bewussten und unbewussten formenden Kräfte ganz
fundamental zu verbessern. Buddha rät jedoch dringend dazu, sich ganz einfach
um die eigene konkrete Befreiung in diesem Leben zu kümmern.
Leider äußern sich auch
angeblich hellsichtige und erleuchtete Menschen recht schnell darüber, was der
Andere im letzten Leben angeblich war, gemacht habe und wie er gestorben sei.
Solche Aussagen hindern den eigenen Entwicklungsprozess viel mehr, als dass sie
ihn unterstützen. Wer zum Beispiel zu hören bekommt, er sei im letzten Leben
ein Militarist, ein Betrüger oder sogar ein Mörder gewesen, der wird viele
Jahre an sich selbst zweifeln. Dadurch werden seine Weiterentwicklung und
Befreiung stark beeinträchtigt. Zweifellos geht es dabei oft um die Ausübung
von Macht über die Betroffenen.
Nishijima Roshi ergänzt, dass es Nāgārjuna im
Gegensatz zu den damaligen Sekten und Doktrinen der Ewigkeit um die Wirklichkeit
selbst geht. Daher sei der Glaube an eine frühere Existenz nicht überzeugend. Buddha habe laut Nāgārjuna
diese Fragen als Spekulationen abgelehnt, da es kein sicheres Wissen über die
Vergangenheit und schon gar nicht über die Zukunft gibt. Philosophisch-theoretische
Fragen zur Existenz im absoluten Sinne können nicht beantwortet werden, erklärt
Kalupahana. Er hält fest: „(Buddha) rät (seinen Schülern) stattdessen, mit
ihren verfügbaren Möglichkeiten und Ressourcen zu versuchen, die Dinge und Zusammenhänge
zu verstehen, wie sie sind und entstanden sind, und die Freiheit vom Leiden
auszuarbeiten.“ Beschäftige man sich zu viel mit oben genannten Fragen, würde
dies gerade zu neuer Bindung und Fesselung und damit zum Leiden führen. Er
zitiert dazu Buddha: „Wenn man keine Sichtweise (und Meinung) ergreift, mit
einer angemessenen Wahrnehmung und Moral beschenkt ist und die Gier nach
(oberflächlichen) Freuden der Sinne gebändigt hat“, sei dies in diesem Leben
das Beste. Dies gelte gerade auch, um zukünftige schlechte Geburten zu
vermeiden.[iv]
Nāgārjuna fährt fort:
Vers 27.13
Alle die vier logisch möglichen Ansichten der
Vergangenheit sind nicht passend (wenn sie absolut gedacht werden):
„Ich existierte nicht“, „ich existierte“, „beides:
ich existierte und ich existierte zugleich nicht“ und schließlich beides als
Negation: „Weder existierte ich, noch existierte ich nicht“.
In diesem Vers werden die vier grundsätzlich möglichen logischen
Alternativen zur Vergangenheit der eigenen absoluten Existenz aufgeführt und
alle falsifiziert. Damit sind alle substantialistisch verzerrten Existenzformen
eines früheren Lebens ad absurdum geführt. Keine dieser Möglichkeiten kann es
für eine vorherige Existenz im Rahmen der Wiedergeburtslehre geben. Dies gilt
auch für die substanzhaften Extreme „ich war“ oder „ich war nicht“, das heißt,
ich habe als Entität existiert oder ich habe nicht existiert. Sie stimmen mit
der zentralen Aussage des Mittleren Weges zum gemeinsamen Entstehen in
Wechselwirkung und damit der Leerheit von solchen Spekulationen nicht überein. Derartige
Extreme sind phänomenologisch in der Wirklichkeit nicht aufzufinden, sondern
illusorisch und metaphysisch. Sie führen zu Schmerzen und Leiden.
Nishijima Roshi erläutert, dass die Menschen unterschiedliche Bindungen
an die Vergangenheit und Zukunft haben und dass sich dies je nach Situation und
Lebensphase ändern kann. Materialistisch orientierte Menschen neigen dazu, die
materiellen Gegebenheiten in der Vergangenheit zu überschätzen. Sie neigen also
zum Determinismus. Idealistische Menschen überschätzen oft zumindest
phasenweise die eigene Freiheit und verlieren sich in Fantasien darüber, was
sie erreichen oder ändern wollen. Beides sind Extreme, die nach dem Mittleren
Weg in die Irre führen und keine Stabilität für die eigene Entwicklung
ermöglichen.
In diesem
abschließenden Kapitel geht es also wie in den vorhergehenden um die Befreiung
von unheilsamen Doktrinen, die eine Weiterentwicklung und Emanzipation des
Menschen beeinträchtigen oder unmöglich machen. Eine solche Befreiung oder
Erleuchtung ist sicher nicht einfach und erfordert unsere volle Achtsamkeit,
Energie, Ausdauer sowie Freude zur Veränderung und zum Besseren. „Die Vielfalt
falscher Sichtweisen wurde von Buddha hauptsächlich aus pragmatischen Gründen
abgelehnt, und zwar deswegen, weil sie nicht zur Freiheit und zum Glück
führen“, sondern zu Dogmatismen, Konflikten und Leiden, erklärt Kalupahana.
Deshalb sei der Mittlere Weg richtig, um den wahren Befreiungsweg zu erkennen
und zu gehen.[v]
Nishijima Roshi beschreibt die Wirklichkeit des Universums
und des Lebens als ein Zusammenwirken individueller Gegebenheiten in einem
gesamten Gefüge. Einerseits gebe es die Sicht der Individualität und der
Besonderheit. Auf der anderen Seite gebe es die Notwendigkeit des Gesamten, die
häufig im Buddhismus auch als Einheit bezeichnet werde. Damit bezieht er sich
auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrung und der Erkenntnis des
Zen-Buddhismus Meister Dōgens auf die Zentralaussage der Präambel des MMK: das
gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung. Beim Extrem einer totalen Einheit gäbe
es keine Wechselwirkung, weil die Einheit in sich selbst identisch wäre. Sie
hätte dann gerade keine Dynamik, Entwicklung, Emanzipation und Befreiung.
Systemtheoretisch betrachtet, geht es um die
Systemgrenze verschiedener gekoppelter Teilsysteme oder eines einzelnen
beobachteten Systems mit seiner Umwelt.[vi]
Die Systemgrenze hat demnach eine doppelte Funktion: Zum einen grenzt sie die
einzelnen Systeme in gewissem Maße voneinander oder von der Umwelt ab. Zum
anderen ermöglicht sie eine Wechselwirkung, gegenseitige positive Beeinflussung
und Resonanz. Dadurch kann es überhaupt erst zu einem Zusammenwirken kommen.
Das ist gleichzeitig die zentrale Funktion für alles Lebende. Diese von Niklas
Luhmann theoretisch erarbeitete allgemeine Systemtheorie datiert aus den
letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts und ist nach meiner festen
Überzeugung von hoher wissenschaftlicher Qualität. Ganz ähnliche Ansätze finden
sich in der modernen Gehirnforschung, die das Zusammenwirken von spezialisierten
Teilsystemen im neuronalen Netz in den Mittelpunkt stellt.[vii]
Auch hier gibt es Abgrenzungen zwischen Modulen und Teilsystemen des Gehirns,
die je nach Entwicklung und Lernprozessen miteinander in intensiver
Wechselwirkung und im Informationsaustausch sind. Je intensiver die
Wechselwirkungen sind, desto höher ist die Leistungsfähigkeit und
Informationsverarbeitung der gekoppelten Teilsysteme.
Philosophisch und erkenntnistheoretisch kommt es
einer Sensation gleich, dass Gautama
Buddha diese Zusammenhänge intuitiv bereits vor 2.500 Jahren erkannt und zur
Grundlage seiner praktischen Philosophie der Befreiung und Emanzipation gemacht
hat. Das große Verdienst Nāgārjunas ist es, dass er diese fundamentalen
philosophischen und praktischen Wahrheiten von fehlgeleiteten Doktrinen und
vorbuddhistischem Aberglauben befreit und an die heutige Zeit übermittelt hat.
Vers 27.29
Wegen der Leerheit und Wechselwirkung aller
gewordenen Dinge, Phänomene und Prozesse fragt sich: Wo, für wen und warum
bilden sich überhaupt bestimmte Ansichten und Dogmen von Dauerhaftigkeit,
Ewigkeit usw.?
Die Antwort auf diese Frage
lautet: Die genannten Ansichten sind überflüssig und meist schädlich, denn die
Wirklichkeit wird durch Leerheit und deshalb durch Wechselwirkung
charakterisiert. Damit kommt Nāgārjuna also zur wesentlichen Aussage über
irgendwelche mehr oder minder beliebig ausgedachten Ansichten und Dogmen zur
Frage der Dauerhaftigkeit, Ewigkeit, des plötzlichen Verschwindens und damit
des Nichts usw. Im MMK hat er den Begriff Leerheit für das
wechselwirkende gemeinsame Entstehen geprägt. Für abweichende Doktrinen und
Dogmen bleibt überhaupt kein Raum.
Die Wirklichkeit ist leer von Dogmen und verwirrenden Ansichten. Es geht
also nicht darum, die vorhandenen Doktrinen durch andere zu ersetzen, sondern
sie grundsätzlich zum Beispiel durch den Achtfachen Pfad und das Vermeiden
aller Extreme außer Kraft zu setzen. Sie kommen dann zur Ruhe und können keine
störenden Wirkungen mehr auf den Menschen und seine fünf Komponenten – Körper,
Wahrnehmung, Gefühle, formende Kräfte, Handeln und Bewusstsein – ausüben. Dann
kann die Wirklichkeit in größtmöglicher Reinheit und Klarheit erkannt werden,
wie es uns Gautama Buddha vorgelebt hat.
Nishijima Roshi hebt hervor, dass ein Leben im
Gleichgewicht im Sinne des Buddhismus nicht ohne Ethik und Moral verwirklicht
werden kann. Es handelt sich dabei nicht um eine theoretische, philosophische
Frage und Aufgabe für uns, sondern um unser ganzheitliches Leben mit unserem
praktischen Handeln. Ich möchte hinzufügen, dass vor allem falsche Doktrinen zu
destruieren sind, die mit Buddhas Lehre nicht übereinstimmen. So will Nāgārjuna
ein Wissen an uns übermitteln, das wirklicher sei als alle Doktrinen, erklärt
Nishijima Roshi: „Es bleibt uns überlassen, für uns selbst zu sehen, was er
aufgezeigt hat.“
Nāgārjuna macht in diesem Kapitel deutlich, wie
wichtig es ist, irrige Ansichten, Dogmen, Doktrinen und Ideologien, auch
religiös gefärbte, zu hinterfragen und ihnen eine klare Absage zu erteilen. Der
Weg zur Erleuchtung ist laut Nāgārjuna verbunden mit einem kontinuierlichen
Abbau von Dogmen und Ideologien – woher sie auch immer kommen mögen, wodurch
sie auch immer entstanden sind und von wem auch immer sie verbreitet werden. Am
Ende des MMK heißt es:
Vers 27.30
Ich werde mich vor diesem Gautama Buddha verneigen,
der den wahren Buddha-Dharma aufzeigte und tiefes Mitgefühl hatte, damit alle
verwirrenden Ansichten, unrechte Sichtweisen, unheilsamen Doktrinen und
irrealen Illusionen aufgegeben werden.
Damit kommt Nāgārjuna zum Schluss seiner Analysen und Ausführungen im
MMK. Er bekräftigt, dass er sich vor Gautama Buddha verneigt, ihm Ehrerbietung
entgegenbringt und damit seiner wahren Lehre, dem Buddha-Dharma, zur Erneuerung
verhelfen will.
Nishijima Roshi stellt fest: „Mit diesem Vers beendet Nāgārjuna seine
Analyse des Mittleren Weges, die er als Wiedererweckung der authentischen und
wahren Lehre Gautama Buddhas versteht.“ Doktrinen und abstrakte Theorien seien
künstliche Erzeugnisse des Geistes und nicht die Wirklichkeit selbst. Denn
diese Wirklichkeit habe eine unendliche Komplexität, die niemals vollständig
durchschaut und erfasst werden könne, was besonders für die Vergangenheit und
Zukunft gelte. Lehren können immer nur Hilfen und Fingerzeige geben, die gute Wirkungen
erzeugen und zur positiven Veränderung des Menschen in seinem Denken, Fühlen
und Handeln beitragen können.
Der wahre Buddha-Dharma benötigt keine unrealen
Doktrinen, denn er ist das Leben selbst, in seiner wunderbaren Schönheit,
Vielfalt und Gesamtheit. Das ist die Verwirklichung der Buddha-Natur. Ich bin
fest davon überzeugt, dass die Lehren Gautama Buddhas eine hervorragende
Qualität gerade für die Gegenwart besitzen. Ich habe tiefe Dankbarkeit
gegenüber Gautama Buddha, Nāgārjuna, vielen Meistern des Buddhismus und nicht
zuletzt meiner Lehrerin Dae Poep Sa Nim und besonders meinem Lehrer Nishijima
Roshi.
[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 80
[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 78f.
[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 11
[iv] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 79f.
[v] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 78ff.
[vi] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme
[vii] Spitzer, Manfred: Geist im Netz