Für Gautama Buddha stehen Entwicklungs- und Befreiungsprozesse des Menschen im Mittelpunkt seiner praktischen und theoretischen Philosophie. Es geht um die Verbesserung unserer Lebensfunktionen als fortlaufender, gut gesteuerter Strom. Nicht zuletzt deshalb kann der Buddhismus heute im Westen unser Leiden nachhaltig vermindern und wahre Freiheit eröffnen. Da es sich um Veränderungen, Lebensfunktionen und Prozesse handelt, ist die Dimension der Zeit und des Zeitablaufes von fundamentaler Bedeutung: Ohne Zeit gibt es keine Lebendigkeit, keine Funktionen und keine Emanzipation.
Konstante Entitäten und Substanzen können sich nicht verändern, weder
zum Guten noch zum Schlechten. Sie können bestenfalls Zustände beschreiben. Auch
für die Untersuchung von Handeln und Karma hat der Fluss der Zeit zentrale
Bedeutung. Daher ist die Doktrin des Substantialismus und damit der
Unveränderlichkeit für Prozesse der Entwicklung und des Entstehens
problematisch oder sogar unbrauchbar. Sie führt zur Erstarrung und doktrinärer
Abstraktion. Gleiches gilt für das ideologisch verhärtete Verständnis des
Momentanismus zur Zeit Nāgārjunas: Wenn man die Zeit „zerhackt“ in
Zeit-Momente, die nicht verbunden sind, kann es keine Kontinuität, keinen
Lebensfluss und keine prozessualen Verbindungen im Zeitablauf geben. Beide
Doktrinen, der Substantialismus und der Momentanismus, werden in diesem Kapitel
als unvereinbar mit Buddhas Lehre destruiert. Nāgārjuna sagt:
Vers 19.3
Ohne die Voraussetzung und Verbindung zur
Vergangenheit wird aber ein Gelingen der Gegenwart und Zukunft nicht gefunden.
Ohne diese Verbindung wird weder die gegenwärtige
noch die zukünftige, noch nicht gekommene Zeit gefunden.
Die ersten beiden Verse betreffen
getrennte isolierte Entitäten der drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft. Für diese drei verschiedenen Zeiten gibt es weder totale Identität
noch totale Differenz und Trennung. Beide Extreme sind also ideologische
Konstruktionen und nicht wirklich. Von zentraler Bedeutung sind dagegen der Bezug und
die Verbindung zwischen diesen drei Zeiten, Zeitabschnitten oder auch
Zeitmomenten, weil sonst die Grundlage für die buddhistische Befreiungslehre
und Praxis fehlt. Bei einem Ansatz der vollständigen Trennung und
Unabhängigkeit von Zeit-Atomen bliebe nur die klare Schlussfolgerung, dass es
dann diese Zeiten überhaupt nicht geben könnte.
„Nāgārjuna nennt die Vergangenheit jene ‚Zeit,
wenn der gegenwärtige Augenblick noch nicht angekommen ist‘. Der gegenwärtige Augenblick ist dagegen
die wirkliche Zeit, während die Vergangenheit nur ungenau gedacht und erinnert
werden kann“, so Nishijima Roshi. Nāgārjuna
führt also eine sehr genaue Analyse der Zeit durch und nimmt vor allem eine
Abgrenzung gegenüber dem zeitunabhängigen Substanz-Denken vor. Bei einer
Weltanschauung von unveränderlichen Dingen, Substanzen und Entitäten, die von
der Zeit unabhängig sind, ergibt sich eine radikale Abgrenzung der
Vergangenheit von der Gegenwart und Zukunft. Dann handelt es sich
einschließlich der Gegenwart um drei jeweils getrennte Entitäten. Aber es
entsteht daraus die zwingende philosophische Frage, wie der Zusammenhang und
die Kontinuität der Zeit mit Prozessen und dem Handeln funktioniert. Wenn es
abgegrenzte Zeit-Entitäten gäbe, müssten nämlich die Gegenwart und Zukunft in
vollem Umfang bereits in der Vergangenheit enthalten sein. Das heißt, wir
hätten den paradoxen Zustand, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft total identisch wären. Das ist natürlich
absurd. Wie sollten dabei Prozesse der Entwicklung, Befreiung und Emanzipation
ablaufen?
Vers 19.6
Wenn es eine Zeit in Wechselwirkung mit einem unveränderlichen substantialen Seienden
gäbe, fragt sich, woher dieser Zeitpunkt ohne dieses substantiale Seiende
kommen könnte.
Und da überhaupt kein irgendwie geartetes
substantiales Seiendes existiert, fragt sich: Woher könnten eine Zeit und ein
Zeitpunkt entstehen und werden?
Nāgārjuna bringt in diesem letzten Vers des
Kapitels das sinnvolle und weiterführende Verständnis der Zeit ein. Er macht es
an dem Begriff der Wechselwirkung im Fluss der Zeit fest. Damit schlägt er den
Bogen zur Präambel und zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung. Eine statisch-starre Vorstellung und
Unbeweglichkeit des Seins oder Seienden als Substanz ist damit nicht kompatibel
und wird von ihm destruiert. Das heißt im Klartext, dass die Absolutismen und
Doktrinen des Substantialismus und Momentanismus für ein realistisches und
praxisnahes Verständnis der Zeit unbrauchbar sind. Die Grundlage des
gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens ist unbedingt notwendig. Sonst gibt es
unlösbare philosophische Probleme und logische Widersprüche.
Nishijima Roshi unterstreicht, dass auch der
Augenblick nicht als Entität verstanden werden darf: „Die wirkliche Zeit, also
der gegenwärtige Augenblick, ist unauflösbar mit der Wirklichkeit verbunden. Ohne diese Sein-Zeit gibt es keine
Wirklichkeit und umgekehrt. Daher ist es ausgeschlossen, dass die Wirklichkeit sich von der Zeit entfernt, also
unabhängig von ihr ist. Alle Ideen über die Zeit sind also abstrakt und keine
konkrete Wirklichkeit. Außerhalb des gegenwärtigen Augenblicks kann es keine
Wirklichkeit geben. Wenn es keine Wirklichkeit gibt, kann es umgekehrt auch
keine wirkliche Zeit geben.“ Alle Ideen über die Zeit sind also abstrakte
Konzepte. Nur die Wirklichkeit in diesem Augenblick und an diesem Ort ist
wirkliche Zeit. Eine „Idee der Existenz“ bezieht sich auf die Ideen, dass es
irgendeine Art von Existenz gibt, die aber außerhalb des Augenblicks ist. „Wir
können niemals anders leben als im gegenwärtigen Augenblick. Alles andere ist
nur Vorstellung“, so Nishijima Roshi.
Im Gegensatz dazu wurde in der Entwicklung der westlichen Philosophie
seit Parmenides und zumindest bis zu Hegel die Zeit weitgehend marginalisiert,
und das Sein wurde meist zeitunabhängig philosophisch untersucht.[i]
Ganz anders verlief dagegen die Entwicklung der westlichen Naturwissenschaften:
Hier wurde die Dimension der Zeit zur wichtigsten Grundlage. Das zeigt sich zum
Beispiel bei den Fallgesetzen, den Bewegungsgesetzen des Sonnensystems,
chemischen Umwandlungen, bei der mathematischen Infinitesimalrechnung und
schließlich bei Einsteins Relativitätstheorie. Jede naturwissenschaftliche
Untersuchung, die nach wie vor hauptsächlich auf dem Prinzip von Ursache und
Wirkung innerhalb der wechselwirkenden Welt basiert, kann ohne Zeitablauf
überhaupt nicht formuliert werden.
Nishijima Roshi sagt über die Zeit: „Die wahre erlebte Zeit des Buddhismus ist in der
Theorie und Praxis von sehr großer Bedeutung. Auch in der modernen Physik ist
das Verhältnis von Zeit und Raum wichtig. Diese Kenntnisse standen den
Buddhisten zur Zeit Nāgārjunas natürlich noch nicht zur Verfügung, aber die
großen Meister hatten eine tiefe intuitive Einsicht, was die prozessuale wirkliche Zeit und die Sein-Zeit des Handelns für den Menschen
und die Welt sind.“ Nishijima unterscheidet daher wie Meister Dōgen zwischen
der wahrhaft erlebten erfahrenen Zeit des Augenblicks, bei der die Sinneskanäle
und das neuronale Netz voll aktiv sind, und der Vergangenheit, die lediglich
durch im Gehirn gespeicherte Informationen erinnert wird, sowie der Zukunft,
die erwartet wird. Die Gegenwart hat damit zwei verschiedene „Gesichter“: Sie
ist einmal die mehr oder minder gedachte und theoretische Verbindung von
Vergangenheit und Zukunft und zum anderen die volle lebendige Erfahrung des
Augenblicks. In der lebendigen Gegenwart findet das wahre ganzheitliche Handeln
statt. Dazu gehört das materielle Handeln des Menschen mit Gegenständen, wie
zum Beispiel beim Handwerk oder in der Landwirtschaft, aber auch die
Kommunikation als lebendige Funktion und Entwicklungsprozess in der Wechselwirkung
zweier oder mehrerer Menschen.
Die wesentliche Grundlage des Buddhismus ist die Wirklichkeit des wahren Handelns im gegenwärtigen Augenblick. Dies ist die wahre Zeit der Wirklichkeit. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft lassen das Handeln in der Realität zu. Sie sind lediglich Erinnerungen und Widerspiegelungen in unserem Gehirn. Ich bezeichne sie als lineare Zeit. Für organisatorische und technische Fragestellungen und Aufgaben mag die eindimensionale lineare Zeit ein brauchbares Hilfsmittel sein, aber für die Bereiche der ganzheitlichen Wirklichkeit ist der gegenwärtige Augenblick wichtiger als alles andere. Das lehrt vor allem die wahre spirituelle Erfahrung.