Sonntag, 9. Januar 2022

MMK, Kap.19: Zeit und Wirklichkeit

Für Gautama Buddha stehen Entwicklungs- und Befreiungsprozesse des Menschen im Mittelpunkt seiner praktischen und theoretischen Philosophie. Es geht um die Verbesserung unserer Lebensfunktionen als fortlaufender, gut gesteuerter Strom. Nicht zuletzt deshalb kann der Buddhismus heute im Westen unser Leiden nachhaltig vermindern und wahre Freiheit eröffnen. Da es sich um Veränderungen, Lebensfunktionen und Prozesse handelt, ist die Dimension der Zeit und des Zeitablaufes von fundamentaler Bedeutung: Ohne Zeit gibt es keine Lebendigkeit, keine Funktionen und keine Emanzipation.

Konstante Entitäten und Substanzen können sich nicht verändern, weder zum Guten noch zum Schlechten. Sie können bestenfalls Zustände beschreiben. Auch für die Untersuchung von Handeln und Karma hat der Fluss der Zeit zentrale Bedeutung. Daher ist die Doktrin des Substantialismus und damit der Unveränderlichkeit für Prozesse der Entwicklung und des Entstehens problematisch oder sogar unbrauchbar. Sie führt zur Erstarrung und doktrinärer Abstraktion. Gleiches gilt für das ideologisch verhärtete Verständnis des Momentanismus zur Zeit Nāgārjunas: Wenn man die Zeit „zerhackt“ in Zeit-Momente, die nicht verbunden sind, kann es keine Kontinuität, keinen Lebensfluss und keine prozessualen Verbindungen im Zeitablauf geben. Beide Doktrinen, der Substantialismus und der Momentanismus, werden in diesem Kapitel als unvereinbar mit Buddhas Lehre destruiert. Nāgārjuna sagt:

 

Vers 19.3

Ohne die Voraussetzung und Verbindung zur Vergangenheit wird aber ein Gelingen der Gegenwart und Zukunft nicht gefunden.

Ohne diese Verbindung wird weder die gegenwärtige noch die zukünftige, noch nicht gekommene Zeit gefunden.

 

Die ersten beiden Verse betreffen getrennte isolierte Entitäten der drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Für diese drei verschiedenen Zeiten gibt es weder totale Identität noch totale Differenz und Trennung. Beide Extreme sind also ideologische Konstruktionen und nicht wirklich. Von zentraler Bedeutung sind dagegen der Bezug und die Verbindung zwischen diesen drei Zeiten, Zeitabschnitten oder auch Zeitmomenten, weil sonst die Grundlage für die buddhistische Befreiungslehre und Praxis fehlt. Bei einem Ansatz der vollständigen Trennung und Unabhängigkeit von Zeit-Atomen bliebe nur die klare Schlussfolgerung, dass es dann diese Zeiten überhaupt nicht geben könnte.

„Nāgārjuna nennt die Vergangenheit jene ‚Zeit, wenn der gegenwärtige Augenblick noch nicht angekommen ist‘. Der gegenwärtige Augenblick ist dagegen die wirkliche Zeit, während die Vergangenheit nur ungenau gedacht und erinnert werden kann“, so Nishijima Roshi. Nāgārjuna führt also eine sehr genaue Analyse der Zeit durch und nimmt vor allem eine Abgrenzung gegenüber dem zeitunabhängigen Substanz-Denken vor. Bei einer Weltanschauung von unveränderlichen Dingen, Substanzen und Entitäten, die von der Zeit unabhängig sind, ergibt sich eine radikale Abgrenzung der Vergangenheit von der Gegenwart und Zukunft. Dann handelt es sich einschließlich der Gegenwart um drei jeweils getrennte Entitäten. Aber es entsteht daraus die zwingende philosophische Frage, wie der Zusammenhang und die Kontinuität der Zeit mit Prozessen und dem Handeln funktioniert. Wenn es abgegrenzte Zeit-Entitäten gäbe, müssten nämlich die Gegenwart und Zukunft in vollem Umfang bereits in der Vergangenheit enthalten sein. Das heißt, wir hätten den paradoxen Zustand, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft total identisch wären. Das ist natürlich absurd. Wie sollten dabei Prozesse der Entwicklung, Befreiung und Emanzipation ablaufen?

 

Vers 19.6

Wenn es eine Zeit in Wechselwirkung mit einem unveränderlichen substantialen Seienden gäbe, fragt sich, woher dieser Zeitpunkt ohne dieses substantiale Seiende kommen könnte.

Und da überhaupt kein irgendwie geartetes substantiales Seiendes existiert, fragt sich: Woher könnten eine Zeit und ein Zeitpunkt entstehen und werden?

 

Nāgārjuna bringt in diesem letzten Vers des Kapitels das sinnvolle und weiterführende Verständnis der Zeit ein. Er macht es an dem Begriff der Wechselwirkung im Fluss der Zeit fest. Damit schlägt er den Bogen zur Präambel und zum gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung. Eine statisch-starre Vorstellung und Unbeweglichkeit des Seins oder Seienden als Substanz ist damit nicht kompatibel und wird von ihm destruiert. Das heißt im Klartext, dass die Absolutismen und Doktrinen des Substantialismus und Momentanismus für ein realistisches und praxisnahes Verständnis der Zeit unbrauchbar sind. Die Grundlage des gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens ist unbedingt notwendig. Sonst gibt es unlösbare philosophische Probleme und logische Widersprüche.

Nishijima Roshi unterstreicht, dass auch der Augenblick nicht als Entität verstanden werden darf: „Die wirkliche Zeit, also der gegenwärtige Augenblick, ist unauflösbar mit der Wirklichkeit verbunden. Ohne diese Sein-Zeit gibt es keine Wirklichkeit und umgekehrt. Daher ist es ausgeschlossen, dass die Wirklichkeit sich von der Zeit entfernt, also unabhängig von ihr ist. Alle Ideen über die Zeit sind also abstrakt und keine konkrete Wirklichkeit. Außerhalb des gegenwärtigen Augenblicks kann es keine Wirklichkeit geben. Wenn es keine Wirklichkeit gibt, kann es umgekehrt auch keine wirkliche Zeit geben.“ Alle Ideen über die Zeit sind also abstrakte Konzepte. Nur die Wirklichkeit in diesem Augenblick und an diesem Ort ist wirkliche Zeit. Eine „Idee der Existenz“ bezieht sich auf die Ideen, dass es irgendeine Art von Existenz gibt, die aber außerhalb des Augenblicks ist. „Wir können niemals anders leben als im gegenwärtigen Augenblick. Alles andere ist nur Vorstellung“, so Nishijima Roshi.

Im Gegensatz dazu wurde in der Entwicklung der westlichen Philosophie seit Parmenides und zumindest bis zu Hegel die Zeit weitgehend marginalisiert, und das Sein wurde meist zeitunabhängig philosophisch untersucht.[i] Ganz anders verlief dagegen die Entwicklung der westlichen Naturwissenschaften: Hier wurde die Dimension der Zeit zur wichtigsten Grundlage. Das zeigt sich zum Beispiel bei den Fallgesetzen, den Bewegungsgesetzen des Sonnensystems, chemischen Umwandlungen, bei der mathematischen Infinitesimalrechnung und schließlich bei Einsteins Relativitätstheorie. Jede naturwissenschaftliche Untersuchung, die nach wie vor hauptsächlich auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung innerhalb der wechselwirkenden Welt basiert, kann ohne Zeitablauf überhaupt nicht formuliert werden.

Nishijima Roshi sagt über die Zeit: „Die wahre erlebte Zeit des Buddhismus ist in der Theorie und Praxis von sehr großer Bedeutung. Auch in der modernen Physik ist das Verhältnis von Zeit und Raum wichtig. Diese Kenntnisse standen den Buddhisten zur Zeit Nāgārjunas natürlich noch nicht zur Verfügung, aber die großen Meister hatten eine tiefe intuitive Einsicht, was die prozessuale wirkliche Zeit und die Sein-Zeit des Handelns für den Menschen und die Welt sind.“ Nishijima unterscheidet daher wie Meister Dōgen zwischen der wahrhaft erlebten erfahrenen Zeit des Augenblicks, bei der die Sinneskanäle und das neuronale Netz voll aktiv sind, und der Vergangenheit, die lediglich durch im Gehirn gespeicherte Informationen erinnert wird, sowie der Zukunft, die erwartet wird. Die Gegenwart hat damit zwei verschiedene „Gesichter“: Sie ist einmal die mehr oder minder gedachte und theoretische Verbindung von Vergangenheit und Zukunft und zum anderen die volle lebendige Erfahrung des Augenblicks. In der lebendigen Gegenwart findet das wahre ganzheitliche Handeln statt. Dazu gehört das materielle Handeln des Menschen mit Gegenständen, wie zum Beispiel beim Handwerk oder in der Landwirtschaft, aber auch die Kommunikation als lebendige Funktion und Entwicklungsprozess in der Wechselwirkung zweier oder mehrerer Menschen.

Die wesentliche Grundlage des Buddhismus ist die Wirklichkeit des wahren Handelns im gegenwärtigen Augenblick. Dies ist die wahre Zeit der Wirklichkeit. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft lassen das Handeln in der Realität zu. Sie sind lediglich Erinnerungen und Widerspiegelungen in unserem Gehirn. Ich bezeichne sie als lineare Zeit. Für organisatorische und technische Fragestellungen und Aufgaben mag die eindimensionale lineare Zeit ein brauchbares Hilfsmittel sein, aber für die Bereiche der ganzheitlichen Wirklichkeit ist der gegenwärtige Augenblick wichtiger als alles andere. Das lehrt vor allem die wahre spirituelle Erfahrung.



[i] Elberfeld, Rolf: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, S. 350