Das Zusammenwirken von Ursache oder Verursachung und Wirkung in einer
ganzheitlichen Situation ist im Buddhismus von zentraler Bedeutung. Es hat
nicht zuletzt für die Vier Edlen Wahrheiten zur Überwindung des Leidens eine
hohe Aussagekraft. Gautama Buddha war einer der Ersten in der
Menschheitsgeschichte, der Leiden direkt auf eigene oder fremde Verursachungen
zurückführte. Er lehrte, dass man die Ursachen des Leidens möglichst genau
analysieren, achtsam beobachten und erkennen könne. Dann sei es möglich, bei
diesen Ursachen anzusetzen, Veränderungsprozesse in die Wege zu leiten und
dadurch aus dem Leiden herauszukommen. Buddha war also ein Therapeut, der ohne
religiöse Glaubensmodelle durch Vernunft und geschulte Intuition die Ursachen
und Wechselwirkungen von Schmerzen und Leiden erkannt hat. Bei der Überwindung
des Leidens ging es ihm darüber hinaus um den praktischen Weg zum Erwachen aus
dem Unwissen, das heißt um die Befreiung des Menschen von Doktrinen,
Hemmnissen, Vorurteilen und Eingrenzungen, die wiederum Ängste und Leiden
hervorrufen.
Buddha entwickelte eine sehr praktische Philosophie, die für
Entwicklungsprozesse und therapeutisches Handeln gleich gut geeignet ist. Er baute
auf dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) in
der Welt und beim Menschen auf. Das Grundmodell des Lebens ist für Buddha also,
dass verursachende und auslösende Prozesse auf ein gesamtheitliches lebendes Gefüge
treffen und dadurch Wirkungen entstehen, die zum Leiden oder hoffentlich im
Gegenteil zur Befreiung führen. Sein Modell des Lebens ist aber nicht
eindimensional, sondern es geht um Vernetzungen, Rückkoppelungen und
Nicht-Linearitäten. Kalupahana spricht daher von der „Harmonie“ der Ursache,
Bedingungen und Wirkungen bzw. Früchten.[i]
Damit wird deutlich, dass wir es mit einem Systemansatz zu tun haben, der eine
große Ähnlichkeit mit Ökosystemen aufweist. Das ist fast sensationell modern.
Auf der Basis der Lehre des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung
ergibt sich ein leistungsfähiges philosophisches System, das die Grundlage für
Nāgārjunas MMK bildet. Die Wechselwirkung ist eine Prozessvernetzung und genaue
Analyse der funktionalen Beziehungen. Sie ist kein linearer Prozess, wie die
Begriffe Ursache und Wirkung vielleicht zunächst suggerieren mögen. Denn
beginnend mit der Ursache sind in der Folge komplexe lebende Systeme wirksam,
die verschiedene Gesetzlichkeiten und Selbststeuerungen haben. Die Wirkung
ergibt sich dann als erkennbarer Output.
Im Buddhismus wird die Wirkung meist als Frucht oder Ergebnis bezeichnet
und häufig am Modell der Wiedergeburten festgemacht. Damit wird eine Verbindung
zwischen vorigen und folgenden Leben hergestellt, also dem guten oder schlechten
Schicksal oder Karma. Unabhängig davon ist aus meiner Sicht vor allem wichtig,
dass die Wirkungen des Handelns bereits in diesem Leben eintreten, dass also
das Kausalprinzip hier und jetzt wirksam ist. Im Zen-Buddhismus steht dieses
konkrete Hier und Jetzt im Mittelpunkt der Lehre und Praxis.
Das Modell der Wiedergeburt birgt die Schwierigkeit, dass man mit
phänomenologischen oder empirischen Methoden nur sehr schwer Klarheit bei der
Reinkarnation bekommen kann. Es gibt viel Raum für oft abenteuerliche Spekulationen,
die wiederum Ängste und Abhängigkeiten von religiösen Machtstrukturen und
Unterdrückungsmechanismen erzeugen. So wird eventuell ein Mensch, dem es
schlecht geht, zusätzlich dadurch belastet, dass behauptet wird, er habe ein
schlechtes Karma. Die Ursache seien Fehler in einem früheren Leben, es sei
selbst verschuldet und müsse nun abgearbeitet werden. Eine solche viel zu
vereinfachte Doktrin steht natürlich nicht im Einklang mit Buddhas
authentischer Lehre. Nāgārjuna sagt einleitend:
Vers 20.3
Wenn die Frucht in der Gesamtheit der Verursachung
und der wechselwirkenden Faktoren existiert,
fragt sich, ob sie nicht in dieser Gesamtheit beobachtet und erfasst werden
kann.
Aber in der Gesamtheit wird eine solche Frucht nicht
beobachtet und erfasst.
Hier wird danach gefragt, ob man beobachten
könnte, dass die Frucht schon als substanzhafte Entität in der Gesamtheit
enthalten ist. Dies lässt sich jedoch weder empirisch noch phänomenologisch
nachweisen. Es ist eine spekulative und doktrinäre Aussage, die in den Bereich
der Metaphysik verwiesen werden muss.
In diesem Kapitel untersucht Nāgārjuna vertieft fehlerhafte Ansätze und
doktrinäre Lehren der Beziehung von Verursachung und Wirkung. Sie hatten sich
in den Jahrhunderten nach Buddha im Rahmen des Abidharma entwickelt. Dazu
gehört zum Beispiel die Theorie des Substantialismus. Die meisten Argumente in
diesem Kapitel beschäftigen sich mit dieser Weltanschauung. Nāgārjuna weist
präzise nach, dass damit der Zusammenhang von Verursachungen, wechselwirkenden
Faktoren und Wirkungen nicht schlüssig verstanden und nicht überzeugend beschrieben
werden kann. Das gilt auch für die Theorie der Sautrantikas, den Momentanismus.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl eine Philosophie der totalen
Identität von Ursache, Bedingungen und Ergebnis als auch eine Philosophie
der totalen Unterscheidung und Differenz
von Ursache, Bedingungen und Wirkung unbrauchbar ist, um die Phänomene dieser
Welt und den Menschen in seinem Zusammenleben sinnvoll und realitätsnah zu erfassen.
Nāgārjuna sagt zur unwirklichen Frucht:
Vers 20.17
Eine nicht leere, also nicht wirkliche Frucht wird
nicht entstehen, und sie wird auch nicht vergehen und zur Ruhe kommen.
Als solche nicht leere Frucht wird sie also nicht zur
Ruhe gekommen sein und kann auch nicht entstanden sein.
Eine nicht wirkliche, also nicht
leere, substantiale Frucht kann es nicht geben. Sie kann weder entstehen noch
vergehen oder zur Ruhe kommen. Alles Reale wird als leer von täuschenden Doktrinen bezeichnet und
durch das wechselwirkende gemeinsame Entstehen charakterisiert. Wegen der
Wichtigkeit dieser Aussage wiederholt Nāgārjuna sie mit etwas anderen Worten in
der zweiten Verszeile.
Dieser Vers ist von großer Bedeutung, da er ganz
konkret mit der Frage der Befreiung, der Emanzipation bzw. der wahren Frucht
des Handelns und des Karmas zusammenhängt. Diese Wahrheit nimmt Bezug auf die
Präambel des MMK mit den acht berühmten Negationen, insbesondere dem
Nicht-Entstehen und dem Nicht-Vergehen von fiktiven Substanzen. Damit stellt Nāgārjuna
klar, dass beides etwas Unwirkliches, nämlich
Nicht-Leeres ist. Mag in der Präambel noch Unklarheit darüber bestehen, wie die
Bedeutung der acht Negationen zu verstehen ist, so wird durch diesen Vers
eindeutig nachgewiesen, dass die Negationen
im radikalen Gegensatz zur Leerheit stehen. Leerheit ist übrigens die
Bezeichnung für das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya
samutpada).
Dieser Zusammenhang wird im Kapitel 24 mit den
berühmten Versen 24.18 und 24.19 weiter herausgearbeitet und als Eröffnung des
Mittleren Weges bezeichnet. Der Vers 20.17 beweist, dass die beiden Negationen
in der Präambel – Nicht-Entstehen und
Nicht-Vergehen – auf keinen Fall als
neue buddhistische Lehre zu verstehen sind. Ähnliches wird leider dennoch auch
in bestimmten buddhistischen Kreisen behauptet. Das Gegenteil ist jedoch richtig.
Nāgārjuna weist nach, dass diese beiden Negationen eine falsche Doktrin sind,
die eine Befreiung und Emanzipation durch Handeln, Karma und dessen Wirkungen
ausschließt. Denn Leerheit bedeutet, dass die Doktrin der fiktiven, täuschenden
Eigen-Substanz abgelehnt wird. Diese ist gerade nicht die wahre Natur der Dinge
und Phänomene, der Dharmas. Diese substantialistische Doktrin hatte auch ihren
Weg nach Tibet sowie nach China in den Chan und von dort in den japanischen Zen
gefunden. Sie führte meines Erachtens zu erheblichen Verwirrungen und
Verzerrungen des authentischen Buddhismus.
Auch Dōgen negiert zum Beispiel mit dem Kapitel
über die Buddha-Natur eindeutig den Substantialismus. Denn die Buddha-Natur ist
die wahre Natur des Menschen, die im Erwachen klar erkannt und verwirklicht
wird. Sie ist keine Substanz oder Entität. Die Statik und simple Dinghaftigkeit
des Begriffs des Nicht-Entstehens und Nicht-Vergehens wird mit diesem Vers ad
absurdum geführt. Es geht im Buddhismus um die Überwindung des Leidens, und um
unsere Weiterentwicklung, Befreiung, Kreativität, Emanzipation. Dadurch werden
Freude und Glück des Lebens verwirklicht. All dieses entsteht wiederum in
gemeinsamer Wechselwirkung. Eine solche Veränderung findet genau in der
Gegenwart im Augenblick statt. Mit der Beziehung von Verursachung und Wirkung
wird gleichzeitig der Impuls der positiven Veränderung in die Zukunft
beschrieben, das heißt die Fort- und Weiterentwicklung des Menschen.
Nishijima Roshi sagt eindeutig: „Der Zustand des Gleichgewichts und
damit der Selbststeuerung kann nicht künstlich aus Ideen und Vorstellungen
entstehen. Im unausgeglichenen
Zustand ist auch das Ergebnis unwirklich und kann sich daher in der wirklichen
Welt nicht manifestieren. Die unbalancierten Zustände werden sich dann in der
Welt fortsetzen. Der Zustand der Selbststeuerung kann erkannt und
weiterentwickelt werden.“
Nishijima Roshi unterscheidet im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen
Ursache und Wirkung den Buddhismus und die westliche Philosophie. Der
Buddhismus sei die Philosophie der umfassenden Wahrheit, also der höchsten, dem
Menschen zugänglichen Wahrheit: „In der buddhistischen Philosophie wird darauf
vertraut, dass es unmöglich für uns ist, Erfahrung, Praxis oder Handeln zu
erkennen, ohne dass wir den Bereich des dualen Intellekts verlassen. Wir müssen
in den Bereich der Erfahrung, der Praxis und des Handelns direkt eingehen.“ Wir
müssten daher deutlich unterscheiden, wann die Idee eines Ergebnisses gedacht
und intellektuell sei, wie es in den sozialen Gesellschaften üblich ist. Dann
müsse man das Ergebnis von der Ursache unterscheiden, weil eben das Ergebnis
eine intellektuelle Leistung ist, aber nicht eine unmittelbare Wirklichkeit des
Erfahrens und Handelns. Die Beziehung von Ursache und Wirkung könne daher nicht
in zwei getrennte Entitäten unterteilt werden, sondern sei eine umfassende
Ganzheit im Handeln des Augenblicks. Dabei müsse man sich diese Ganzheit nicht
zuletzt als intuitive übergreifende Vernunft vorstellen, erklärt Nishijma
Roshi: „Meister Nāgārjuna stellt klar, dass sich unsere umfassende und
intuitive Ganzheit im Zustand des Gleichgewichts ereignet.“ Das sei die
ursprüngliche Quelle der buddhistischen Philosophie.
Wir wissen heute aus der modernen Gehirnforschung, dass viele Funktionen
des Gehirns ohne unseren bewussten Willen ablaufen. Dabei ist unser Unbewusstes
ein selbstlernendes und sich selbst organisierendes System. Das neuronale Netz
fügt Informationen und logische Verknüpfungen hinzu, die uns gar nicht bewusst
werden. Diesen gesamten Zusammenhang kann man als umfassende intuitive
Vernunft bezeichnen. Der bewusste Teil unseres Gehirns kann sich mit den
großen Leistungen des nicht-bewussten Teils verbinden. Damit werden geistige
Lösungen ermöglicht, die wir allein mit bewusstem oder intellektuellem Denken
nicht leisten können.
Auf diese Weise kann man meines Erachtens auch die Bedeutung der
Zazen-Meditation zumindest teilweise erklären: Durch das „Abfallen von Körper
und Geist“ im Zazen werden intellektuelles Denken, bewusstes Wollen und
ungesteuertes Fühlen zur Ruhe gebracht. Dann wird eine erweiterte intuitive
Vernunft wirksam, also das Zusammenwirken größerer Bereiche des neuronalen
Netzes. Dadurch entsteht eine neue geistige und auch ethische Klarheit.
Wenn wir dieses Wissen aus der Gehirnforschung auf das 20. MMK-Kapitel
über den Zusammenhang von Verursachung und Wirkung anwenden, so wird klar, dass
im Augenblick des ganzheitlichen Gleichgewichts ein intuitives
Gesamtverständnis möglich ist. Dieses Gesamtverständnis verbindet gespeicherte
Informationen der Vergangenheit, also der Erinnerung, und der Zukunft. Diese
Informationen erscheinen nicht unbedingt in der bewussten Ratio des Gehirns.
Vereinfacht kann man sagen, dass es eine funktionale Einheit von Verursachung
und Wirkung im Geist gibt und dass dies ein typischer Augenblickszustand ist. Dieser
wird von Buddha und Nāgārjuna als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung
bezeichnet. Es geht also um das gemeinsame Entstehen als Impuls aus dem
ganzheitlichen Geist.
Ich finde es erstaunlich und habe tiefe Bewunderung für Buddha und Nāgārjuna,
dass sie diese Funktionen unseres Geistes und unserer Psyche so klar erkannt haben.
Sie machten sie zur Grundlage unseres geistigen, körperlichen und psychischen
Entwicklungsprozesses. Wenn sich die westliche Philosophie dagegen nur auf die
Vernunft und Intellektualität bezieht, sind derartige Zusammenhänge nicht
erkennbar. Die gesamtheitlichen intuitiven geistigen Leistungen, die sich genau
im gegenwärtigen Augenblick ereignen, bleiben dann unberücksichtigt.
Dabei wird deutlich, dass ein vereinfachtes Modell von Ursache und
Wirkung in einem eindimensionalen unidirektionalen zeitlichen Ablauf die
Realität der Vernetzung nicht wiedergeben kann. Daher muss das Verständnis der
simplen Kausalität erweitert werden, um die vernetzte Wirklichkeit zu erfassen.
Das umfassende intuitive Verstehen aus unserer menschlichen Mitte und Balance
ist der Kern der buddhistischen Lehre. Dabei ist vor allem zwischen der wahren
umfassenden Vernunft und den angestrebten Zielen und Ergebnissen zu
unterscheiden. Letztere gehören dem Bereich der Ideen und des dualen Intellekts
an. Außerdem sind sie nicht selten Teil von völlig unzuverlässigen
Scheinwahrheiten der Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft. Nāgārjuna fährt
fort:
Vers 20.23
Welche Gesamtheit es von wechselwirkenden Faktoren
und Verursachungen auch immer geben
mag, eine solche Gesamtheit erzeugt das Ātman-Selbst nicht aus sich selbst.
Und es stellt sich die Frage, wie eine solche
Gesamtheit eine Frucht erzeugen könnte.
Wir kommen nun zu den abschließenden Aussagen über
die Gesamtheit von Verursachung, wechselwirkenden Faktoren und Frucht als
Ergebnis. Eine solche Gesamtheit kann laut Nāgārjuna niemals total aus sich
selbst oder total aus anderem erzeugt werden. Es kann auch keine Erzeugung
durch ein Ātman-Selbst geben. Damit kann also auch eine Frucht nicht aus der
genannten Gesamtheit erzeugt werden.
Nishijima Roshi fasst zusammen: „Die Welt basiert auf der Vernunft (als
Kausalität) als einer verlässlichen Tatsache (wechselwirkender Faktor). Dadurch
kann aber niemals die Ātman-Seele erzeugt werden. Die Welt beruht nämlich
überhaupt nicht auf einer isolierten Ātman-Seele.“
Er fragt, wie ein Ergebnis (eine Frucht) erzeugt werden könne in einer Welt,
die als große Identität gedacht werde und in sich total gleich sei. „Die
integrative Vernunft ist also fundamental für die Welt“, fügt er hinzu. Ohne
eine umfassende intuitive Vernunft könne es keine wirkliche Frucht geben.
In diesem Kapitel weist Nāgārjuna
anhand der Prüfung aller Varianten und logischen Alternativen nach, dass eine
Weltanschauung getrennter Entitäten in die Irre geht. Isolierte, aus sich
selbst entstandene Pseudo-Substanzen sind für den zentralen Zusammenhang von
Verursachung und Wirkung unbrauchbar. Mit dieser Doktrin würden sich bei den
wichtigen Phänomenen der Verursachung, der wechselwirkenden Bedingungen und des
Ergebnisses, der Frucht, unsinnige und widersprüchliche Schlussfolgerungen ergeben.
Damit wäre die gesamte Karmalehre des Buddhismus unterminiert!
Eine ethische Verantwortung
muss vom Zusammenhang von Verursachung und Wirkung ausgehen, sonst würde es zur
totalen Willkür des moralischen Handelns unter den Menschen kommen. Dies hätte
für uns alle fatale Folgen. Eine Gemeinschaft und ein sinnvolles Zusammenleben
wären dann nicht möglich, weil die Menschen keine Verantwortung für ihre Handlungen
übernehmen würden. Das widerspricht im Kern der buddhistischen Lehre. Sie ist die Grundlage des heilsamen
Zusammenlebens der Menschen und des schonenden und nachhaltigen Umgangs mit der
Umwelt und den Ökosystemen.