Kompakte Fassung, ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
Dieses Kapitel ist sicher von zentraler Bedeutung für das gesamte MMK und mit 40 Versen auch das längste. Es beinhaltet die Analyse der Wirklichkeit, der dynamischen Wechselwirkung, der Überwindung des Leidens, der Befreiung und vor allem der wahren, authentischen Bedeutung der Leerheit im Sinne Nāgārjunas. Wer Letztere also verstehen will, sollte dieses Kapitel studieren. Er verlässt hier auch die bisher von ihm verwendete Methode der reinen Destruktion doktrinärer Annahmen und beschreibt stattdessen seine eigene positive Sicht. Damit wird eine valide Grundlage für die therapeutische Kraft des Buddhismus geschaffen, die bis heute für uns im Westen zunehmend positive Wirkung entfaltet.
Nāgārjuna macht im MMK deutlich, dass er den direkten Bezug zu den
authentischen und bewährten Lehren Buddhas für unverzichtbar hält. In diesem
Kapitel werden nun die zentralen Vier Edlen Wahrheiten Buddhas mit
großer Präzision untersucht. Nāgārjuna fasst deren fundamentale Aussagen
zusammen und verknüpft sie mit der Wahrheit des gemeinsamen wechselwirkenden
Entstehens und der Leerheit. Er bringt eine klare, brauchbare Semantik der
Leerheit ein und klärt damit die zahlreichen mit diesem Begriff verbundenen
Missverständnisse und Verwirrungen. Diese sind geradezu charakteristisch für
die buddhistische Geschichte.
Peter Gäng sagt zu den Vier Edlen Wahrheiten: „Die Bedeutung der vier edlen Wahrheiten ist unübersehbar. Sie bildeten
für fast alle buddhistischen Schulen das Zentrum der Lehre und den
Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, auch wenn die Bedeutung der vier edlen Wahrheiten
oft unterschiedlich gewichtet wird.“[i]
Sie beinhalten die entscheidenden Prozesse der Überwindung des Leidens
sowie der positiven Entwicklung und Befreiung des Menschen. Der zentrale Ansatz
von pratitya samutpada, dem
gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, und die Vermeidung von Extremen sind
das Fundament der buddhistischen Lehre. Wenn ideologische und doktrinäre
Extreme unwirksam sind, spricht Nāgārjuna von Leerheit und der wahren
Wirklichkeit.
Die Vier Edlen Wahrheiten beinhalten wie gesagt das Leiden der Menschen,
das es zweifellos in jedem Leben gibt. Gautama Buddha zählt ganz konkret zwölf
Bereiche auf, die hauptsächlich das Leiden ausmachen. Aber er sagt nicht, dass
das ganze Leben generell aus Leiden besteht, wie das in manchen buddhistischen
Linien und besonders von Kritikern des Buddhismus behauptet wird. Diese halten
es für eine unwirkliche Illusion zu glauben, dass man das Leiden überwinden
kann. Wer also Freude und Glück empfinde, würde sich grundsätzlich irren und sich
nur einbilden, glücklich zu sein. Er würde seichte Freude und wahres Leiden
miteinander verwechseln. Eine solche falsche Interpretation entsteht nicht
zuletzt aus der fehlerhaften Übersetzung aus dem Pali, wie Kalupahana feststellt.[ii]
Die genaue Übersetzung lautet nämlich: „Dies alles ist das Leiden.“
Indem das Wort idam weggelassen wird,
das „dieses“ oder „das Folgende“ bedeutet, ergibt sich die falsche Übersetzung
„alles ist Leiden“.
Ein zweiter wichtiger Fehler entsteht dadurch, dass eine substanzhafte
dualistische Doktrin zugrunde liegt: Dann gibt es entweder nur das totale
substanzhafte Leiden oder die totale Befreiung, das Nirvāna. Beides sind
unrealistische Extreme. Dabei wird das Nirvāna substanzhaft ins Jenseits und in
nachfolgende Wiedergeburten verlagert. Eine solche Doktrin widerspricht dem
authentischen Buddhismus, das hat Nāgārjuna in den vorigen Kapiteln überzeugend
nachgewiesen.
Als
weitere Erklärung der nicht authentischen Aussage, alles sei Leiden, nennt
Kalupahana den späteren Hinduismus. Er hält es für möglich, dass diese
Fehlinterpretation gezielt oder aus Unverständnis dem Buddha unterstellt wurde.[iii]
Es ist dabei nicht auszuschließen, dass die Religionspolitik und sogar
Religionskämpfe die Oberhand gewonnen haben. Dabei werde der Buddhismus als Leidensreligion abgewertet und die
eigene hinduistische Erlösungsreligion
gegenübergestellt, die überlegen sei. Vermutlich wurde diese Version von den
christlichen Europäern der Kolonialzeit übernommen, auch um den Buddhismus
abzuwerten.
Peter Gäng charakterisiert die Vier Edlen Wahrheiten so: „Zusammengefasst ist ihre Aussage: Leben
birgt immer die Möglichkeit des Leidens. Das Leiden kommt nicht zufällig,
sondern es hat klar erkennbare Ursachen. Das Leiden ist nicht unentrinnbar,
sondern es gibt die Möglichkeit, es zu überwinden. Der Buddhismus zeigt hierfür
einen Weg.“[iv]
In der großen Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit sagt Buddha:
„Da erkennt, ihr Mönche,
ein Mönch der Wirklichkeit gemäß:
‚Dies ist das Leiden.‘
Er erkennt der
Wirklichkeit gemäß:
‚Dies ist die Entstehung
des Leidens.‘
Er erkennt der
Wirklichkeit gemäß:
‚Dies ist die Aufhebung
des Leidens.‘
Er erkennt der
Wirklichkeit gemäß:
‚Dies ist der zur
Aufhebung des Leidens führende Weg.‘“[v]
Angesichts der geschichtlichen und religiösen Zeit, in der Gautama
Buddha lebte, ist es erstaunlich, wie nüchtern, tiefgründig und pragmatisch er die
Kernbereiche des Leidens analysierte. Magische Zuordnungen, die damals weit
verbreitet waren, fehlen ganz. So sagte er zum Beispiel gerade nicht, dass
Menschen leiden, weil sie wichtige Rituale zur Verehrung der Götter verletzt
oder vorgeschriebene göttliche Gebote übertreten haben.
Im
zweiten Schritt untersucht Buddha, wie das Leiden in den einzelnen Bereichen
entsteht. Die dritte der Vier Edlen Wahrheiten gibt konkret an, wie das Leiden
überwunden werden kann, wie wir uns also vollständig von der Gier befreien.
Dann kommen die Ursachen für die Entstehung des Leidens zur Ruhe. Im vierten
Schritt wird der berühmte Achtfache Pfad
der Leidensaufhebung im Einzelnen beschrieben. Er umfasst: „Rechte Sichtweise,
rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenswandel, rechte
Bemühung, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung.“[vi]
Die
Vier Edlen Wahrheiten basieren auf Buddhas tiefer Erkenntnis der wahren Natur
des Menschen. Diese oszilliert allerdings häufig zwischen fixierter Bindung
einerseits und Freiheit andererseits. Diese Wahrheiten beschreiben also ganz
konkret, wie die Befreiung und Emanzipation aus Bindung und Fesselung gelingt.
Dabei bestehen gewisse Ähnlichkeiten mit dem Höhlengleichnis von Platon,
der das „normale“, unklare Leben im Halbdunkel des Höhlendaseins mit dem
geistig freien Leben des Philosophen vergleicht. Dieser könne die Sonne, den
Mond, die Sterne und das ganze lebendige Leben sehen und erkennen. Allerdings
gibt Platon kaum Hinweise, wie ein Emanzipationsprozess der Angeketteten in der
Höhle vor sich gehen kann, damit die Befreiung zur Klarheit und Helligkeit des
Lebens gelingt. Anders Gautama Buddha: Er beschreibt zunächst die wichtigsten
Bereiche des Leidens und nennt deren wichtigste Ursachen, besonders die
Fixierung durch die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung. Dann zeigt er mit
dem Achtfachen Pfad sehr konkret auf, wie diese Fixierungen und Blockaden
überwunden werden können.
In
der Geschichte des Buddhismus wurde häufig kontrovers diskutiert, ob die Vier
Edlen Wahrheiten für jeden Menschen oder nur für erleuchtete und befreite
Menschen gelten. Im Lauf der Zeit setzte sich die Meinung durch, dass es dabei
nur um die Erleuchteten und Befreiten gehe. Ich folge dieser Interpretation
ausdrücklich nicht, denn aus meiner Sicht ist der Achtfache Pfad für alle
Menschen sinnvoll. Die Erleuchtung ist auch kein fixierter zeitunabhängiger
dauerhafter Zustand, sondern ein Prozess der Verwirklichung in unserem Leben.
Im
Kapitel 23 untersuchte Nāgārjuna die Gefahren von Verwechslungen, Verdrängungen
und Verfälschungen. Dabei wird das Gute für etwas Schlechtes angesehen und umgekehrt
das Schlechte als Gutes. Er zielt damit vor allem auf den Substantialismus, der
behauptet, dass sich nichts verändert und alles dauerhaft und ewig in der Welt
ist. In dieser Doktrin werden das Statische, Ewige und Unveränderliche als gut
und absolut wahr verstanden, obgleich es in Wirklichkeit eine solche Statik
nicht gibt. Denn die Wirklichkeit wird bei Buddha als dynamisches Entstehen in
Wechselwirkung verstanden. Eine substantialistische Doktrin führt also
unweigerlich ins Leiden, da sie an der wahren Wirklichkeit vorbeigeht.
Ähnliches gilt für das Leiden, das im vorliegenden Kapitel behandelt wird: Wer
daran leidet, dass die Welt und das Leben veränderlich und nicht ewig sind,
erschafft sich gerade damit das Leiden, weil er die Wirklichkeit verzerrt. Ohne
Veränderlichkeit kann es keine Überwindung des Leidens und keinen Wandel zum
Guten und Besseren geben. Das Gute ist also gerade dynamisch und kreativ. Eine
solche Sichtweise und Erkenntnis überwindet das Leiden und führt zur Freiheit.
Wer sich dagegen an Ewigkeit und Unveränderlichkeit klammert, wird laut Buddha
leiden, da er das Ungute mit dem Guten verwechselt.
Der
Substantialismus hat mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und der
Leerheit große Probleme. Er neigt dazu, die Leerheit als Nihilismus und
Nicht-Existenz zu verstehen. Leerheit wird also mit Nicht-Existenz verwechselt.[vii]
Dementsprechend kommen die Substantialisten zu dem Schluss, dass die Leerheit
auch die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas ad absurdum führen würde. Diesen
Problemen und Fragestellungen geht Nāgārjuna sehr fundiert nach. Er zitiert
einen Kontrahenten, der den Substantialismus vertritt:
(Dieser Kontrahent behauptet:) Falls dieses alles hier leer ist, existiert
weder Aufgehen noch Verschwinden und Auseinandergehen.
Für Dich (Nāgārjuna) folgt die Nicht-Existenz der
Vier Edlen Wahrheiten.
Die ersten
sechs Verse dieses Kapitels geben die Fundamentalkritik an der Leerheit wieder.
Diese Kritik entspricht durchaus der Doktrin des buddhistischen
Substantialismus, die nur eine totale Existenz oder Nicht-Existenz zulässt. Daher
hat sie große Schwierigkeiten damit, ihre statische und unrealistische
Philosophie mit der authentischen buddhistischen Lehre in Einklang zu bringen.
Diese Linie wollte natürlich nicht zugestehen, dass sie Buddhas Lehre
unterminierte, sondern beschuldigte Nāgārjuna der falschen Aussagen.
Nishijima Roshi übersetzt
das Wort shūnyatā nicht mit „Leerheit“, sondern mit
„Gleichgewichtszustand“. Er weist zu Recht darauf hin, dass die Übersetzung mit
Leerheit häufig zu erheblichen Missverständnissen führt: „Die Leerheit, die
hier mit Shūnyatā angesprochen wird, ist das wirkliche Universum wie es ist,
wenn es leer von Vorurteilen ist.“ Nishijima Roshi zitiert Gautama Buddha in
Bezug auf das Gleichgewicht und die Ganzheit mit dem Universum: „Zusammen mit
allen Dingen und Phänomenen im ganzen Universum bin ich erwacht.“ Dies gelte
für die Wirklichkeit des Augenblicks. Die Ganzheit mit dem Universum mag
vielleicht verwundern, aber auch aus naturwissenschaftlicher Sicht ist es klar,
dass wir selbst Teil des Universums sind, mit ihm also mehr oder minder stark
in Wechselwirkung leben, indem wir teilnehmen an der Physik, an den
Informationen, an den Lebensprozessen und damit an der Wechselwirkung des
Entstehens und Vergehens in der Welt.
Nāgārjuna erklärt dann
dem Kontrahenten die wahre Bedeutung der Leerheit:
In Bezug auf die Leerheit sagen wir hier: Du kennst
nicht die Absicht, die Leerheit und nicht den Zweck der Leerheit.
Von daher quälst Du Dich auf diese Weise mit der
Leerheit.
Nachdem Nāgārjuna
in den ersten Versen dieses Kapitels die üblichen Argumente gegen die falsch
verstandene Leerheit wiedergegeben hat, arbeitet er in den folgenden Versen die
korrekte Bedeutung der Leerheit präzise heraus. Seine Argumentation wird damit
auf der Grundlage des bisher Dargestellten weiter vertieft und abgesichert. Nāgārjuna
führt uns zu sehr prägnanten und aussagekräftigen Schlussfolgerungen beim
Buddhismus, zum Beispiel im Vers 24.18, der zentralen Aussage zur wahren
Leerheit. Dieser Begriff darf nicht absolut, also nicht substantialistisch
verstanden werden und auch nicht momentanistisch. Er ist pragmatisch und kann
konkret phänomenologisch untersucht werden.
Nishijima Roshi stellt fest, dass wir uns häufig mit Problemen und deren Ursachen beschäftigen und dabei das gute Leben aus den Augen verlieren, insbesondere das Leben im Gleichgewicht. Es wäre stattdessen sinnvoller, sich intensiv mit der wahren Bedeutung des Gleichgewichts und der Leerheit zu beschäftigen und sich entsprechend zu befreien, zu emanzipieren und weiterzuentwickeln.
Die falsch erkannte Leerheit richtet denjenigen
zugrunde, der geringe und langsame Einsicht besitzt. Dies ist genauso, wie wenn
man eine giftige Schlange schlecht und falsch festhält oder Wissen von der
Leerheit falsch erwirbt und anwendet.
Nishijima Roshi betont, dass es notwendig ist,
sich selbst klar darüber zu sein, ob man im Zustand des wirklichen
Gleichgewichts ist: „Dadurch, dass wir den Zustand des Gleichgewichts
wahrnehmen, können wir unsere eigenen falschen Bewertungen erkennen und die
eventuell unzureichenden Vorbereitungen zum Handeln. Wir können zum Beispiel
dann eine Schlange erkennen, die auf uns zukriecht“, und wissen unmittelbar,
was zu tun ist.
Nun folgt Nāgārjunas fundamentaler Vers zur Leerheit, der zu so vielen
Missverständnissen geführt hat.
Was gemeinsames Entstehen
in Wechselwirkung hat, dieses sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben,
ergibt sich eben der mittlere Zugang (zum Buddha-Weg der Wahrheit).
Nāgārjunas Aussage gliedert sich
zunächst in zwei Schritte und eröffnet dann den Weg zum Ziel des Buddhismus,
also dem Zugang zum Mittleren Weg.
Dieser Weg der Mitte führt zur Buddha-Wahrheit und zum Erwachen. Er vermeidet
die Extreme von ideologischen Übertreibungen, die die Wirklichkeit nicht
sachgerecht beschreiben können und damit auch keinen Ausweg aus dem Leiden
eröffnen. Solche Extreme führen nicht zum Erwachen und nicht zur Erleuchtung.
Ein Extrem ist zum Beispiel die Doktrin der absoluten Substanz oder Essenz.
Ausgangspunkt der Argumentation sind
das gemeinsame Entstehen und die
Wechselwirkung: „Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung hat (pratitya
samutpada), dieses sehen wir als Leerheit an.“ Das ist eine bemerkenswerte
Formulierung, denn Nāgārjuna sagt hier, dass wir das Betreffende als Leerheit ansehen.
Es wird also eine phänomenologische Sichtweise der Wirklichkeit und nicht eine
absolute Wahrheit beschrieben. Denn die Wirklichkeit kann mit dem Denken nicht
vollständig erfasst werden. Nāgārjuna behauptet aber nicht, dass es überhaupt
keine Wirklichkeit gäbe, denn das wäre unsinniger Nihilismus. Durch duales
Denken im Sinne des absoluten „Entweder-Oder“ ist überhaupt kein Zugang zur
Wirklichkeit möglich, und duales Denken widerspricht grundsätzlich dem
Buddha-Weg. Das heißt, dass die Wirklichkeit ohne Extreme ist. Sie ist, wie sie
ist. Die Wirklichkeit ist auch von Natur aus frei und leer von einer falschen
Doktrin, die Buddha nur angeblich gelehrt hat. Leerheit bedeutet die Leerheit von Unwahrheiten, Illusionen,
Täuschungen und unsinnigen Doktrinen, die das Leiden gerade nicht
überwinden können. Dies gilt besonders für die absoluten Doktrinen des Selbst
und der Dinge und Phänomenen, der Dharmas.
Im nächsten Schritt geht es um die
Aneignung der Bezeichnung und des
Begriffs der Leerheit: „Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben,
ergibt sich eben der mittlere Zugang
(zum Buddha-Weg der Wahrheit).“ Mit dieser Bezeichnung können wir gut und
wirkungsvoll kommunizieren und tiefgründiger denken. Wir überwinden damit den
Dualismus. Aber die Leerheit ist kein Selbstzweck und nicht das Ziel des
Erlösungsweges, sondern sie eröffnet die ganzheitliche Weiterentwicklung
zum Erwachen, die sich auf dem Mittleren Weg ereignet. Damit ergeben sich die
folgenden Schritte:
– Erkennen der intellektuell nicht
vollständig zu erfassenden Wirklichkeit, also des gemeinsamen Entstehens in
Wechselwirkung,
– Erkennen der Leerheit dieser Wirklichkeit von falschen Ideologien und Doktrinen,
– Benutzen der Bezeichnung „Leerheit“
zur effektiven Kommunikation für die weitere ganzheitliche Entwicklung des
Menschen,
– Eröffnung des Mittleren Weges zum
Erwachen und zur Erleuchtung.
Da es so viele unterschiedliche und
verwirrende Kommentare von Wissenschaftlern und Autoren zur Leerheit gibt, ist
die wirklich exakte Übersetzung von Vers 24.18 von größter Bedeutung: Die Leerheit ist die Sichtweise für das
gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada). Es handelt
sich also nicht um eine vollständige Identität von Leerheit und pratitya
samutpada, wie es die bisher üblichen Interpretationen behaupten. Sondern die
Leerheit ist die wahre Sichtweise des gemeinsamen Entstehens in
Wechselwirkung. Nāgārjuna verwendet den Begriff „Sichtweise“ also, um die
Beziehung von Leerheit und Wechselwirkung zu kennzeichnen.
Außerdem hat die Abfolge von Nāgārjunas
Argumentation in den vorherigen Versen große Bedeutung, denn eine isolierte
Interpretation der Leerheit kann meines Erachtens nicht valide sein. Bei seiner
Erklärung vermeidet er die Extreme der Ewigkeit und des Nichts genauso wie der
Unveränderlichkeit und des chaotischen Wechsels. Bei derartigen dogmatisierten
Verzerrungen und absoluten Negationen sprechen wir gerade nicht von Leerheit.
Obgleich damit die Semantik des Begriffs Leerheit eindeutig geklärt ist, hat
dieser Vers in vielen vergangenen Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein zu
gravierenden Missverständnissen und Verwirrungen geführt. Manche Autoren haben
seine Bedeutung sogar ganz übersehen.
Leerheit ist also unsere Sichtweise
der Wechselwirkung der Wirklichkeit und auf der Wortebene der akzeptierte
Begriff. Und das gilt für die Wirklichkeit, soweit wir sie erkennen und
wahrnehmen können.[viii] Nach meinem Verständnis
wird damit auch der Glaube an eine mögliche Allwissenheit und Allmacht des
Menschen ausgeschlossen. Er war im Brahmanismus von großer Bedeutung. Diese so aufgefasste
Wirklichkeit ist keine absolute Wirklichkeit und keine absolute Wahrheit. Sie
ist die praktische und kompetente Erfahrung im Leben und eng mit der
ganzheitlichen und genauen Wahrnehmung verbunden. Zentral ist dabei die
Erfahrung der Unterschiede, Veränderung und Bewegung. Deshalb möchte ich für
diesen philosophischen Ansatz die Bezeichnung „differentiale Ontologie“ vorschlagen. Denn es geht nicht um ein
unveränderliches Sein, sondern vielmehr um Veränderungen
bzw. um Beschleunigung oder
Verlangsamung von Veränderungen. Diese grundlegende Aussage ist in der
westlichen Philosophie bisher nicht ausreichend beachtet worden.
Ein wichtiges „Instrument“ dieser
Praxis und Erfahrung ist die von Buddha gelehrte und erprobte Achtsamkeit der
Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Wir sollten daher weniger über den
Begriff der Leerheit meditieren und ihn nicht verabsolutieren. Wichtiger ist
dessen Bedeutung in der Wirklichkeit, nämlich die Freiheit von Verzerrungen,
Dogmen und irrealen Annahmen. Dazu gehört besonders das Dogma eines
substanzhaften ewigen und unveränderlichen Selbst. Nishijima Roshi verwendet
deshalb statt des Begriffs der Leerheit den des Gleichgewichts in der Mitte zwischen irrealen gefährlichen
Extremen, zum Beispiel dem Idealismus und Materialismus. Dadurch möchte er
Irrtümer im Zusammenhang mit diesem Begriff vermeiden. Das Gleichgewicht wird
von Buddha als einer der sieben Faktoren des Erwachens und der Erleuchtung
genannt. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass ein solches Gleichgewicht von
zentraler Bedeutung für unser Leben ist. Dies gilt im besonderen Maße, wenn wir
die andauernde Dynamik und Veränderung des Lebens und aller lebenden Systeme in
der Wirklichkeit einbeziehen. Ohne ein solches Gleichgewicht bzw. eine solche
Mitte würde sich zwangsläufig ein permanentes Chaos des Lebens ergeben, das in
desaströse Extreme führen würde. Wenn wir uns zum Beispiel die dramatischen
Fehlentwicklungen des deutschen Nationalsozialismus vor Augen führen, wird
klar, dass Hitler, Goebbels und Göring keine Mitte und kein Gleichgewicht
hatten. Ihr Handeln, Denken und ihre Ethik waren von Extremen bestimmt, die
ganz Europa in ein furchtbares Chaos stürzten.
Bei
diesem zentralen Vers zur Leerheit ist es meines Erachtens zudem notwendig, auf
die Historie des Sanskrit-Begriffs shūnyatā einzugehen. In der Zeit Nāgārjunas
waren die indischen Mathematiker führend in der Welt. Dies erklärt sich daraus,
dass sie das dezimale Zahlensystem entwickelt hatten, das aus den zwei
Bereichen der negativen und positiven Zahlen besteht. Die Mitte dieser beiden
Zahlenbereiche wird durch die Null markiert, die keinen Eigenwert hat. Sie
ermöglicht damit die Funktionsweise der gesamten Arithmetik. Diese Null wurde
von den indischen Mathematikern als shūnyatā bezeichnet. Diese Erfindung
der Wissenschaftler erzeugte große Folgewirkungen auch in der Philosophie und
im Buddhismus.
Vor diesem Hintergrund muss man aus meiner Sicht die späteren Versuche
relativieren, die eine absolute Leerheit
postulieren. Sie sind in Gefahr, die Abgrenzung zum Nichts und zum Nihilismus
zu verwischen. Die schwerwiegendsten Probleme bei der Interpretation entstanden
auch dadurch, dass die Interpreten nicht von einer genauen Übersetzung des Sanskrit-Textes ausgegangen sind. Offensichtlich
haben sie bewusst oder unbewusst ihr Vorverständnis zur Leerheit und zum
Buddhismus eingebracht. Sowohl Kalupahana als auch Garfield übersetzen pratitya
samutpada als „abhängiges
Entstehen“ und sagen zudem, dass dieses Entstehen identisch und synonym mit der Leerheit sei.[ix]
Eine solche Identität ist aus meiner Sicht nicht überzeugend, weil sie gerade
nicht die genaue Übersetzung aus dem Sanskrit wiedergibt. Die genaue
Übersetzung bedeutet, dass die Bezeichnung der Leerheit den Zugang zur Realität des Mittleren Weges als Befreiungsprozess eröffnet.
Philosophisch
betrachtet, beinhaltet Vers 24.18 nach meinem Verständnis die folgenden
Aspekte:
1. Das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung
(pratitya samutpada) ist die ontologische Grundlage der Wirklichkeit;
diese ist phänomenologisch sinnvoll.
2. Als Bezeichnung auf der Wortebene wird dafür der
Begriff Leerheit (shūnyatā) verwendet.
3. Die Funktion ist der Zugang zum Mittleren Weg
der Befreiung, zu den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad.
Nishijima Roshi gliedert die höchste dem Menschen zugängliche Wahrheit
in vier Bereiche, und zwar in drei Teilbereiche und in die Gesamtheit dieser
Wahrheit. Die erste Teilwahrheit bezieht sich auf Theorie, Denken, Philosophie
und Bewusstsein; er nennt sie Idealismus.
Die zweite Teilwahrheit, der Materialismus, betrifft das Materielle, also die Teilwirklichkeit
vor allem der externen Welt der Dinge und Phänomene, aber auch der
Veränderungsprozesse dieser materiellen Welt. Nishijima verbindet diese
Teilwahrheit in erster Linie mit den Naturwissenschaften wie der Physik und
Chemie. Im Zen geht es vor allem um die dritte Teilwirklichkeit, das Handeln im gegenwärtigen Augenblick. Das
reale Handeln ist zentral für die Entwicklung ganzheitlicher Klarheit und die
Befreiung auf dem Bodhisattva-Weg. Viertens nennt Nishijima Roshi die
Gesamtheit der Wahrheit, die er als Ganzheit mit dem Universum versteht. Dies
sei die umfassende Wirklichkeit des Universums und des Menschen. Er betont,
dass damit die drei Teilwahrheiten zusammenfassend integriert sind und nicht
von dieser umfassenden Wahrheit getrennt werden können. Diese höchste Wahrheit
sei sehr konkret auf unser Leben und unsere Entwicklung bezogen und sei nicht
in Gefahr, in absolute Abstraktionen wie den Idealismus zu verfallen.
Zum Schluss hält Nāgārjuna eindeutig fest:
Wer gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und damit
die Leerheit sieht, der sieht genau und klar diese Tatsachen:
Schmerz und Leiden und eben deren Entstehen,
Zur-Ruhe-Kommen und eben den Weg der Befreiung.
In den einzelnen Kapiteln des MMK behandelt Nāgārjuna aus verschiedenen Perspektiven die Probleme der unklaren Vorstellungen und Konzepte zum Substanz-Selbst. Es ist sicher sein großes Verdienst, diese Unklarheiten und Fehlentwicklungen der buddhistischen Lehre präzise erkannt zu haben und den verfestigten Doktrinen seiner Zeit auf die Spur gekommen zu sein. Mit seinem genauen Wissen und Argumentieren sorgte er für Klarheit in den Kernlehren Buddhas.
[i] Gäng, Peter:
Buddhismus, S. 76
[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 326f.
[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 67
[iv] Gäng, Peter: Buddhismus, S. 76
[v] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 53
[vi] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 65f.
[vii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 326ff.
[viii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 132ff.
[ix] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 339;
Nāgārjuna: The Fundamental Wisdom of the Middle Way (übersetzt und kommentiert
von Jay L. Garfield), S. 304