Sonntag, 9. Januar 2022

Die Vier Edlen Wahrheiten und die Leerheit – Überwindung des Leidens, der Täuschungen und Illusionen, MMK Kap. 24.

 Kompakte Fassung, ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text


Dieses Kapitel ist sicher von zentraler Bedeutung für das gesamte MMK und mit 40 Versen auch das längste. Es beinhaltet die Analyse der Wirklichkeit, der dynamischen Wechselwirkung, der Überwindung des Leidens, der Befreiung und vor allem der wahren, authentischen Bedeutung der Leerheit im Sinne Nāgārjunas. Wer Letztere also verstehen will, sollte dieses Kapitel studieren. Er verlässt hier auch die bisher von ihm verwendete Methode der reinen Destruktion doktrinärer Annahmen und beschreibt stattdessen seine eigene positive Sicht. Damit wird eine valide Grundlage für die therapeutische Kraft des Buddhismus geschaffen, die bis heute für uns im Westen zunehmend positive Wirkung entfaltet.

Nāgārjuna macht im MMK deutlich, dass er den direkten Bezug zu den authentischen und bewährten Lehren Buddhas für unverzichtbar hält. In diesem Kapitel werden nun die zentralen Vier Edlen Wahrheiten Buddhas mit großer Präzision untersucht. Nāgārjuna fasst deren fundamentale Aussagen zusammen und verknüpft sie mit der Wahrheit des gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens und der Leerheit. Er bringt eine klare, brauchbare Semantik der Leerheit ein und klärt damit die zahlreichen mit diesem Begriff verbundenen Missverständnisse und Verwirrungen. Diese sind geradezu charakteristisch für die buddhistische Geschichte.

Peter Gäng sagt zu den Vier Edlen Wahrheiten: „Die Bedeutung der vier edlen Wahrheiten ist unübersehbar. Sie bildeten für fast alle buddhistischen Schulen das Zentrum der Lehre und den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, auch wenn die Bedeutung der vier edlen Wahrheiten oft unterschiedlich gewichtet wird.“[i] Sie beinhalten die entscheidenden Prozesse der Überwindung des Leidens sowie der positiven Entwicklung und Befreiung des Menschen. Der zentrale Ansatz von pratitya samutpada, dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung, und die Vermeidung von Extremen sind das Fundament der buddhistischen Lehre. Wenn ideologische und doktrinäre Extreme unwirksam sind, spricht Nāgārjuna von Leerheit und der wahren Wirklichkeit.

Die Vier Edlen Wahrheiten beinhalten wie gesagt das Leiden der Menschen, das es zweifellos in jedem Leben gibt. Gautama Buddha zählt ganz konkret zwölf Bereiche auf, die hauptsächlich das Leiden ausmachen. Aber er sagt nicht, dass das ganze Leben generell aus Leiden besteht, wie das in manchen buddhistischen Linien und besonders von Kritikern des Buddhismus behauptet wird. Diese halten es für eine unwirkliche Illusion zu glauben, dass man das Leiden überwinden kann. Wer also Freude und Glück empfinde, würde sich grundsätzlich irren und sich nur einbilden, glücklich zu sein. Er würde seichte Freude und wahres Leiden miteinander verwechseln. Eine solche falsche Interpretation entsteht nicht zuletzt aus der fehlerhaften Übersetzung aus dem Pali, wie Kalupahana feststellt.[ii] Die genaue Übersetzung lautet nämlich: „Dies alles ist das Leiden.“ Indem das Wort idam weggelassen wird, das „dieses“ oder „das Folgende“ bedeutet, ergibt sich die falsche Übersetzung „alles ist Leiden“.

Ein zweiter wichtiger Fehler entsteht dadurch, dass eine substanzhafte dualistische Doktrin zugrunde liegt: Dann gibt es entweder nur das totale substanzhafte Leiden oder die totale Befreiung, das Nirvāna. Beides sind unrealistische Extreme. Dabei wird das Nirvāna substanzhaft ins Jenseits und in nachfolgende Wiedergeburten verlagert. Eine solche Doktrin widerspricht dem authentischen Buddhismus, das hat Nāgārjuna in den vorigen Kapiteln überzeugend nachgewiesen.

Als weitere Erklärung der nicht authentischen Aussage, alles sei Leiden, nennt Kalupahana den späteren Hinduismus. Er hält es für möglich, dass diese Fehlinterpretation gezielt oder aus Unverständnis dem Buddha unterstellt wurde.[iii] Es ist dabei nicht auszuschließen, dass die Religionspolitik und sogar Religionskämpfe die Oberhand gewonnen haben. Dabei werde der Buddhismus als Leidensreligion abgewertet und die eigene hinduistische Erlösungsreligion gegenübergestellt, die überlegen sei. Vermutlich wurde diese Version von den christlichen Europäern der Kolonialzeit übernommen, auch um den Buddhismus abzuwerten.

Peter Gäng charakterisiert die Vier Edlen Wahrheiten so: „Zusammengefasst ist ihre Aussage: Leben birgt immer die Möglichkeit des Leidens. Das Leiden kommt nicht zufällig, sondern es hat klar erkennbare Ursachen. Das Leiden ist nicht unentrinnbar, sondern es gibt die Möglichkeit, es zu überwinden. Der Buddhismus zeigt hierfür einen Weg.“[iv]

In der großen Lehrrede von den Grundlagen der Achtsamkeit sagt Buddha:

„Da erkennt, ihr Mönche, ein Mönch der Wirklichkeit gemäß:

‚Dies ist das Leiden.‘

Er erkennt der Wirklichkeit gemäß:

‚Dies ist die Entstehung des Leidens.‘

Er erkennt der Wirklichkeit gemäß:

‚Dies ist die Aufhebung des Leidens.‘

Er erkennt der Wirklichkeit gemäß:

‚Dies ist der zur Aufhebung des Leidens führende Weg.‘“[v]

 Im ersten dieser vier Schritte zählt Buddha die verschiedenen Bereiche und Formen des Leidens auf, die für ihn eine zentrale Bedeutung haben: Geburt, Altern, Krankheit, Sterben, Kummer, Jammer, Schmerz, Gram, Verzweiflung, mit Unliebem vereint zu sein (zum Beispiel mit Menschen, Lebensbedingungen oder geistigen Gegebenheiten), von Liebem getrennt zu sein und sehnlich Erwünschtes nicht zu erlangen. Wenn wir uns diese zwölf Kernbereiche des Leidens aus heutiger Sicht vergegenwärtigen, wird ihre ungebrochene Aktualität offensichtlich. Sie sind teils physisch bedingt, haben aber überwiegend psychische und soziale Ursachen. Die heutigen psychotherapeutischen Praxen sind voller denn je mit Patienten, die oft schwer unter Verzweiflung, Ängsten, Depressionen, Antriebsstörungen und einer negativen Grundeinstellung zum Leben leiden. Unsere materiell orientierte Konsumwelt suggeriert fälschlich, dass wir durch das Erwerben von Konsumgütern glücklich werden. Allerdings ist das Angebot am Markt wesentlich umfangreicher, als es sich die meisten leisten können. Viele wünschen sich mehr, als sie bezahlen können. Das vermindert also nicht wie erhofft das Leiden, sondern erhöht sogar noch den Leidensdruck.

Angesichts der geschichtlichen und religiösen Zeit, in der Gautama Buddha lebte, ist es erstaunlich, wie nüchtern, tiefgründig und pragmatisch er die Kernbereiche des Leidens analysierte. Magische Zuordnungen, die damals weit verbreitet waren, fehlen ganz. So sagte er zum Beispiel gerade nicht, dass Menschen leiden, weil sie wichtige Rituale zur Verehrung der Götter verletzt oder vorgeschriebene göttliche Gebote übertreten haben.

Im zweiten Schritt untersucht Buddha, wie das Leiden in den einzelnen Bereichen entsteht. Die dritte der Vier Edlen Wahrheiten gibt konkret an, wie das Leiden überwunden werden kann, wie wir uns also vollständig von der Gier befreien. Dann kommen die Ursachen für die Entstehung des Leidens zur Ruhe. Im vierten Schritt wird der berühmte Achtfache Pfad der Leidensaufhebung im Einzelnen beschrieben. Er umfasst: „Rechte Sichtweise, rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenswandel, rechte Bemühung, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung.“[vi]

Die Vier Edlen Wahrheiten basieren auf Buddhas tiefer Erkenntnis der wahren Natur des Menschen. Diese oszilliert allerdings häufig zwischen fixierter Bindung einerseits und Freiheit andererseits. Diese Wahrheiten beschreiben also ganz konkret, wie die Befreiung und Emanzipation aus Bindung und Fesselung gelingt. Dabei bestehen gewisse Ähnlichkeiten mit dem Höhlengleichnis von Platon, der das „normale“, unklare Leben im Halbdunkel des Höhlendaseins mit dem geistig freien Leben des Philosophen vergleicht. Dieser könne die Sonne, den Mond, die Sterne und das ganze lebendige Leben sehen und erkennen. Allerdings gibt Platon kaum Hinweise, wie ein Emanzipationsprozess der Angeketteten in der Höhle vor sich gehen kann, damit die Befreiung zur Klarheit und Helligkeit des Lebens gelingt. Anders Gautama Buddha: Er beschreibt zunächst die wichtigsten Bereiche des Leidens und nennt deren wichtigste Ursachen, besonders die Fixierung durch die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung. Dann zeigt er mit dem Achtfachen Pfad sehr konkret auf, wie diese Fixierungen und Blockaden überwunden werden können.

In der Geschichte des Buddhismus wurde häufig kontrovers diskutiert, ob die Vier Edlen Wahrheiten für jeden Menschen oder nur für erleuchtete und befreite Menschen gelten. Im Lauf der Zeit setzte sich die Meinung durch, dass es dabei nur um die Erleuchteten und Befreiten gehe. Ich folge dieser Interpretation ausdrücklich nicht, denn aus meiner Sicht ist der Achtfache Pfad für alle Menschen sinnvoll. Die Erleuchtung ist auch kein fixierter zeitunabhängiger dauerhafter Zustand, sondern ein Prozess der Verwirklichung in unserem Leben.

Im Kapitel 23 untersuchte Nāgārjuna die Gefahren von Verwechslungen, Verdrängungen und Verfälschungen. Dabei wird das Gute für etwas Schlechtes angesehen und umgekehrt das Schlechte als Gutes. Er zielt damit vor allem auf den Substantialismus, der behauptet, dass sich nichts verändert und alles dauerhaft und ewig in der Welt ist. In dieser Doktrin werden das Statische, Ewige und Unveränderliche als gut und absolut wahr verstanden, obgleich es in Wirklichkeit eine solche Statik nicht gibt. Denn die Wirklichkeit wird bei Buddha als dynamisches Entstehen in Wechselwirkung verstanden. Eine substantialistische Doktrin führt also unweigerlich ins Leiden, da sie an der wahren Wirklichkeit vorbeigeht. Ähnliches gilt für das Leiden, das im vorliegenden Kapitel behandelt wird: Wer daran leidet, dass die Welt und das Leben veränderlich und nicht ewig sind, erschafft sich gerade damit das Leiden, weil er die Wirklichkeit verzerrt. Ohne Veränderlichkeit kann es keine Überwindung des Leidens und keinen Wandel zum Guten und Besseren geben. Das Gute ist also gerade dynamisch und kreativ. Eine solche Sichtweise und Erkenntnis überwindet das Leiden und führt zur Freiheit. Wer sich dagegen an Ewigkeit und Unveränderlichkeit klammert, wird laut Buddha leiden, da er das Ungute mit dem Guten verwechselt.

Der Substantialismus hat mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung und der Leerheit große Probleme. Er neigt dazu, die Leerheit als Nihilismus und Nicht-Existenz zu verstehen. Leerheit wird also mit Nicht-Existenz verwechselt.[vii] Dementsprechend kommen die Substantialisten zu dem Schluss, dass die Leerheit auch die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas ad absurdum führen würde. Diesen Problemen und Fragestellungen geht Nāgārjuna sehr fundiert nach. Er zitiert einen Kontrahenten, der den Substantialismus vertritt:

 Vers 24.1

(Dieser Kontrahent behauptet:) Falls dieses alles hier leer ist, existiert weder Aufgehen noch Verschwinden und Auseinandergehen.

Für Dich (Nāgārjuna) folgt die Nicht-Existenz der Vier Edlen Wahrheiten.

 Dieser Kontrahent hat ein falsches und absolutistisches Verständnis der Leerheit als totales Nichts und Nihilismus. Er sagt zu Nāgārjuna, dass aus der Leerheit die Unwirksamkeit der Vier Edlen Wahrheiten folgen würde. Denn der Kontrahent versteht die Leerheit falsch als Nicht-Existenz. Damit meint er, Nāgārjunas Begriff der Leerheit und dessen Bedeutung zu Fall gebracht zu haben, denn dadurch würden die zentralen Aussagen Buddhas falsifiziert.

Die ersten sechs Verse dieses Kapitels geben die Fundamentalkritik an der Leerheit wieder. Diese Kritik entspricht durchaus der Doktrin des buddhistischen Substantialismus, die nur eine totale Existenz oder Nicht-Existenz zulässt. Daher hat sie große Schwierigkeiten damit, ihre statische und unrealistische Philosophie mit der authentischen buddhistischen Lehre in Einklang zu bringen. Diese Linie wollte natürlich nicht zugestehen, dass sie Buddhas Lehre unterminierte, sondern beschuldigte Nāgārjuna der falschen Aussagen.

Nishijima Roshi übersetzt das Wort shūnyatā nicht mit „Leerheit“, sondern mit „Gleichgewichtszustand“. Er weist zu Recht darauf hin, dass die Übersetzung mit Leerheit häufig zu erheblichen Missverständnissen führt: „Die Leerheit, die hier mit Shūnyatā angesprochen wird, ist das wirkliche Universum wie es ist, wenn es leer von Vorurteilen ist.“ Nishijima Roshi zitiert Gautama Buddha in Bezug auf das Gleichgewicht und die Ganzheit mit dem Universum: „Zusammen mit allen Dingen und Phänomenen im ganzen Universum bin ich erwacht.“ Dies gelte für die Wirklichkeit des Augenblicks. Die Ganzheit mit dem Universum mag vielleicht verwundern, aber auch aus naturwissenschaftlicher Sicht ist es klar, dass wir selbst Teil des Universums sind, mit ihm also mehr oder minder stark in Wechselwirkung leben, indem wir teilnehmen an der Physik, an den Informationen, an den Lebensprozessen und damit an der Wechselwirkung des Entstehens und Vergehens in der Welt.

Nāgārjuna erklärt dann dem Kontrahenten die wahre Bedeutung der Leerheit:

 Vers 24.7

In Bezug auf die Leerheit sagen wir hier: Du kennst nicht die Absicht, die Leerheit und nicht den Zweck der Leerheit.

Von daher quälst Du Dich auf diese Weise mit der Leerheit.

 Das richtige Verständnis der Leerheit hat für Nāgārjuna eine zentrale Bedeutung. Die Leerheit ist unauflösbar mit dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) und dem pragmatischen Grundansatz Buddhas des Mittleren Weges verknüpft, also der Vermeidung von Extremen. Der Kontrahent kann aber wegen seiner Doktrin des Substantialismus weder die wahre Bedeutung der Vier Edlen Wahrheiten noch die Bedeutung und Funktion der Leerheit verstehen.

Nachdem Nāgārjuna in den ersten Versen dieses Kapitels die üblichen Argumente gegen die falsch verstandene Leerheit wiedergegeben hat, arbeitet er in den folgenden Versen die korrekte Bedeutung der Leerheit präzise heraus. Seine Argumentation wird damit auf der Grundlage des bisher Dargestellten weiter vertieft und abgesichert. Nāgārjuna führt uns zu sehr prägnanten und aussagekräftigen Schlussfolgerungen beim Buddhismus, zum Beispiel im Vers 24.18, der zentralen Aussage zur wahren Leerheit. Dieser Begriff darf nicht absolut, also nicht substantialistisch verstanden werden und auch nicht momentanistisch. Er ist pragmatisch und kann konkret phänomenologisch untersucht werden.

Nishijima Roshi stellt fest, dass wir uns häufig mit Problemen und deren Ursachen beschäftigen und dabei das gute Leben aus den Augen verlieren, insbesondere das Leben im Gleichgewicht. Es wäre stattdessen sinnvoller, sich intensiv mit der wahren Bedeutung des Gleichgewichts und der Leerheit zu beschäftigen und sich entsprechend zu befreien, zu emanzipieren und weiterzuentwickeln.

 Vers 24.11

Die falsch erkannte Leerheit richtet denjenigen zugrunde, der geringe und langsame Einsicht besitzt. Dies ist genauso, wie wenn man eine giftige Schlange schlecht und falsch festhält oder Wissen von der Leerheit falsch erwirbt und anwendet.

 Diese Aussage ist sehr bemerkenswert und schildert die große Gefahr einer falsch verstandenen Leerheit. Wer die vorhandene buddhistische Literatur zur Leerheit kennt, ist in der Tat erstaunt und verwirrt über die große Bandbreite von Missverständnissen und Unklarheiten zu diesem Thema. Manches wirkt geradezu naiv und trivial, anderes verschwommen und unnötig verkompliziert. Das war zu Nāgārjunas Zeit vermutlich nicht anders. Umso wichtiger sind seine eigenen klaren Aussagen. Schließlich gilt er als der wichtigste „Philosoph der Leerheit“.

Nishijima Roshi betont, dass es notwendig ist, sich selbst klar darüber zu sein, ob man im Zustand des wirklichen Gleichgewichts ist: „Dadurch, dass wir den Zustand des Gleichgewichts wahrnehmen, können wir unsere eigenen falschen Bewertungen erkennen und die eventuell unzureichenden Vorbereitungen zum Handeln. Wir können zum Beispiel dann eine Schlange erkennen, die auf uns zukriecht“, und wissen unmittelbar, was zu tun ist.

Nun folgt Nāgārjunas fundamentaler Vers zur Leerheit, der zu so vielen Missverständnissen geführt hat.

 Vers 24.18

Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung hat, dieses sehen wir als Leerheit an.

Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben der mittlere Zugang (zum Buddha-Weg der Wahrheit).

 Meines Erachtens ist dieser Vers das Herzstück des MMK und beschreibt in großer Klarheit die Bedeutung, Funktion, Sichtweise und Bezeichnung der Leerheit (shūnyatā). Leerheit ist demnach der Begriff für die unverzerrte Realität der Wechselwirkung des gemeinsamen Entstehens.

Nāgārjunas Aussage gliedert sich zunächst in zwei Schritte und eröffnet dann den Weg zum Ziel des Buddhismus, also dem Zugang zum Mittleren Weg. Dieser Weg der Mitte führt zur Buddha-Wahrheit und zum Erwachen. Er vermeidet die Extreme von ideologischen Übertreibungen, die die Wirklichkeit nicht sachgerecht beschreiben können und damit auch keinen Ausweg aus dem Leiden eröffnen. Solche Extreme führen nicht zum Erwachen und nicht zur Erleuchtung. Ein Extrem ist zum Beispiel die Doktrin der absoluten Substanz oder Essenz.

Ausgangspunkt der Argumentation sind das gemeinsame Entstehen und die Wechselwirkung: „Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung hat (pratitya samutpada), dieses sehen wir als Leerheit an. Das ist eine bemerkenswerte Formulierung, denn Nāgārjuna sagt hier, dass wir das Betreffende als Leerheit ansehen. Es wird also eine phänomenologische Sichtweise der Wirklichkeit und nicht eine absolute Wahrheit beschrieben. Denn die Wirklichkeit kann mit dem Denken nicht vollständig erfasst werden. Nāgārjuna behauptet aber nicht, dass es überhaupt keine Wirklichkeit gäbe, denn das wäre unsinniger Nihilismus. Durch duales Denken im Sinne des absoluten „Entweder-Oder“ ist überhaupt kein Zugang zur Wirklichkeit möglich, und duales Denken widerspricht grundsätzlich dem Buddha-Weg. Das heißt, dass die Wirklichkeit ohne Extreme ist. Sie ist, wie sie ist. Die Wirklichkeit ist auch von Natur aus frei und leer von einer falschen Doktrin, die Buddha nur angeblich gelehrt hat. Leerheit bedeutet die Leerheit von Unwahrheiten, Illusionen, Täuschungen und unsinnigen Doktrinen, die das Leiden gerade nicht überwinden können. Dies gilt besonders für die absoluten Doktrinen des Selbst und der Dinge und Phänomenen, der Dharmas.

Im nächsten Schritt geht es um die Aneignung der Bezeichnung und des Begriffs der Leerheit: „Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben der mittlere Zugang (zum Buddha-Weg der Wahrheit).“ Mit dieser Bezeichnung können wir gut und wirkungsvoll kommunizieren und tiefgründiger denken. Wir überwinden damit den Dualismus. Aber die Leerheit ist kein Selbstzweck und nicht das Ziel des Erlösungsweges, sondern sie eröffnet die ganzheitliche Weiterentwicklung zum Erwachen, die sich auf dem Mittleren Weg ereignet. Damit ergeben sich die folgenden Schritte:

– Erkennen der intellektuell nicht vollständig zu erfassenden Wirklichkeit, also des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung,

– Erkennen der Leerheit dieser Wirklichkeit von falschen Ideologien und Doktrinen,

– Benutzen der Bezeichnung „Leerheit“ zur effektiven Kommunikation für die weitere ganzheitliche Entwicklung des Menschen,

– Eröffnung des Mittleren Weges zum Erwachen und zur Erleuchtung.

 Verkürzt gesagt ist die Leerheit nicht das letzte Ziel der menschlichen Entwicklung, sondern laut Nāgārjuna die Voraussetzung und Bedingung für die kreative Weiterentwicklung. Er bezeichnet diesen Zugang zur Buddha-Wahrheit durch die Leerheit als den Weg der Mitte oder den Mittleren Weg. Dieser Weg führt mithilfe der Leerheit zur Fülle und Lebendigkeit. Das heißt, die Leerheit befreit uns von hemmenden und falschen Doktrinen wie dem Substantialismus. Sie eröffnet die kreative Entwicklung des Menschen und die Verwirklichung der Buddha-Natur.

Da es so viele unterschiedliche und verwirrende Kommentare von Wissenschaftlern und Autoren zur Leerheit gibt, ist die wirklich exakte Übersetzung von Vers 24.18 von größter Bedeutung: Die Leerheit ist die Sichtweise für das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada). Es handelt sich also nicht um eine vollständige Identität von Leerheit und pratitya samutpada, wie es die bisher üblichen Interpretationen behaupten. Sondern die Leerheit ist die wahre Sichtweise des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung. Nāgārjuna verwendet den Begriff „Sichtweise“ also, um die Beziehung von Leerheit und Wechselwirkung zu kennzeichnen.

Außerdem hat die Abfolge von Nāgārjunas Argumentation in den vorherigen Versen große Bedeutung, denn eine isolierte Interpretation der Leerheit kann meines Erachtens nicht valide sein. Bei seiner Erklärung vermeidet er die Extreme der Ewigkeit und des Nichts genauso wie der Unveränderlichkeit und des chaotischen Wechsels. Bei derartigen dogmatisierten Verzerrungen und absoluten Negationen sprechen wir gerade nicht von Leerheit. Obgleich damit die Semantik des Begriffs Leerheit eindeutig geklärt ist, hat dieser Vers in vielen vergangenen Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein zu gravierenden Missverständnissen und Verwirrungen geführt. Manche Autoren haben seine Bedeutung sogar ganz übersehen.

Leerheit ist also unsere Sichtweise der Wechselwirkung der Wirklichkeit und auf der Wortebene der akzeptierte Begriff. Und das gilt für die Wirklichkeit, soweit wir sie erkennen und wahrnehmen können.[viii] Nach meinem Verständnis wird damit auch der Glaube an eine mögliche Allwissenheit und Allmacht des Menschen ausgeschlossen. Er war im Brahmanismus von großer Bedeutung. Diese so aufgefasste Wirklichkeit ist keine absolute Wirklichkeit und keine absolute Wahrheit. Sie ist die praktische und kompetente Erfahrung im Leben und eng mit der ganzheitlichen und genauen Wahrnehmung verbunden. Zentral ist dabei die Erfahrung der Unterschiede, Veränderung und Bewegung. Deshalb möchte ich für diesen philosophischen Ansatz die Bezeichnung „differentiale Ontologie“ vorschlagen. Denn es geht nicht um ein unveränderliches Sein, sondern vielmehr um Veränderungen bzw. um Beschleunigung oder Verlangsamung von Veränderungen. Diese grundlegende Aussage ist in der westlichen Philosophie bisher nicht ausreichend beachtet worden.

Ein wichtiges „Instrument“ dieser Praxis und Erfahrung ist die von Buddha gelehrte und erprobte Achtsamkeit der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Wir sollten daher weniger über den Begriff der Leerheit meditieren und ihn nicht verabsolutieren. Wichtiger ist dessen Bedeutung in der Wirklichkeit, nämlich die Freiheit von Verzerrungen, Dogmen und irrealen Annahmen. Dazu gehört besonders das Dogma eines substanzhaften ewigen und unveränderlichen Selbst. Nishijima Roshi verwendet deshalb statt des Begriffs der Leerheit den des Gleichgewichts in der Mitte zwischen irrealen gefährlichen Extremen, zum Beispiel dem Idealismus und Materialismus. Dadurch möchte er Irrtümer im Zusammenhang mit diesem Begriff vermeiden. Das Gleichgewicht wird von Buddha als einer der sieben Faktoren des Erwachens und der Erleuchtung genannt. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass ein solches Gleichgewicht von zentraler Bedeutung für unser Leben ist. Dies gilt im besonderen Maße, wenn wir die andauernde Dynamik und Veränderung des Lebens und aller lebenden Systeme in der Wirklichkeit einbeziehen. Ohne ein solches Gleichgewicht bzw. eine solche Mitte würde sich zwangsläufig ein permanentes Chaos des Lebens ergeben, das in desaströse Extreme führen würde. Wenn wir uns zum Beispiel die dramatischen Fehlentwicklungen des deutschen Nationalsozialismus vor Augen führen, wird klar, dass Hitler, Goebbels und Göring keine Mitte und kein Gleichgewicht hatten. Ihr Handeln, Denken und ihre Ethik waren von Extremen bestimmt, die ganz Europa in ein furchtbares Chaos stürzten.

Bei diesem zentralen Vers zur Leerheit ist es meines Erachtens zudem notwendig, auf die Historie des Sanskrit-Begriffs shūnyatā einzugehen. In der Zeit Nāgārjunas waren die indischen Mathematiker führend in der Welt. Dies erklärt sich daraus, dass sie das dezimale Zahlensystem entwickelt hatten, das aus den zwei Bereichen der negativen und positiven Zahlen besteht. Die Mitte dieser beiden Zahlenbereiche wird durch die Null markiert, die keinen Eigenwert hat. Sie ermöglicht damit die Funktionsweise der gesamten Arithmetik. Diese Null wurde von den indischen Mathematikern als shūnyatā bezeichnet. Diese Erfindung der Wissenschaftler erzeugte große Folgewirkungen auch in der Philosophie und im Buddhismus.

Vor diesem Hintergrund muss man aus meiner Sicht die späteren Versuche relativieren, die eine absolute Leerheit postulieren. Sie sind in Gefahr, die Abgrenzung zum Nichts und zum Nihilismus zu verwischen. Die schwerwiegendsten Probleme bei der Interpretation entstanden auch dadurch, dass die Interpreten nicht von einer genauen Übersetzung des Sanskrit-Textes ausgegangen sind. Offensichtlich haben sie bewusst oder unbewusst ihr Vorverständnis zur Leerheit und zum Buddhismus eingebracht. Sowohl Kalupahana als auch Garfield übersetzen pratitya samutpada als „abhängiges Entstehen“ und sagen zudem, dass dieses Entstehen identisch und synonym mit der Leerheit sei.[ix] Eine solche Identität ist aus meiner Sicht nicht überzeugend, weil sie gerade nicht die genaue Übersetzung aus dem Sanskrit wiedergibt. Die genaue Übersetzung bedeutet, dass die Bezeichnung der Leerheit den Zugang zur Realität des Mittleren Weges als Befreiungsprozess eröffnet.

Philosophisch betrachtet, beinhaltet Vers 24.18 nach meinem Verständnis die folgenden Aspekte:

1. Das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) ist die ontologische Grundlage der Wirklichkeit; diese ist phänomenologisch sinnvoll.

2. Als Bezeichnung auf der Wortebene wird dafür der Begriff Leerheit (shūnyatā) verwendet.

3. Die Funktion ist der Zugang zum Mittleren Weg der Befreiung, zu den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad.

 Ein weiterer wichtiger Punkt in diesem Kapitel ist die Klärung der Bedeutung und Funktion der Wahrheit. Es besteht die Gefahr, dass die Wahrheit der realen Wirklichkeit mit der doktrinären absoluten und angeblich höchsten Wahrheit verwechselt wird. Ich folge Nāgārjuna in aller Klarheit, dass es ein absolutes Allwissen nicht gibt. Eine substantialistische Unterscheidung zwischen einer „relativen“ und einer „absoluten“ Wahrheit ist nicht tragfähig. Eine absolute Allwissenheit müsste nämlich für die gesamte Vergangenheit, die Gegenwart und die ganze Zukunft gelten. Das erscheint mir phänomenologisch absurd. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie ein menschliches Gehirn so etwas leisten könnte. Damit entfällt zudem der substantialistische Glaube, dass mit dem Begriff der Wahrheit eine absolute unveränderliche und allgemeingültige Semantik verbunden wäre. Vielmehr ist die Semantik jedes Begriffes zwar zum Teil zeitübergreifend, aber nicht total unveränderlich. Sie wird maßgeblich von den sozialen Systemen der Gesellschaft beeinflusst und ist überdies individuell geprägt.

Nishijima Roshi gliedert die höchste dem Menschen zugängliche Wahrheit in vier Bereiche, und zwar in drei Teilbereiche und in die Gesamtheit dieser Wahrheit. Die erste Teilwahrheit bezieht sich auf Theorie, Denken, Philosophie und Bewusstsein; er nennt sie Idealismus. Die zweite Teilwahrheit, der Materialismus, betrifft das Materielle, also die Teilwirklichkeit vor allem der externen Welt der Dinge und Phänomene, aber auch der Veränderungsprozesse dieser materiellen Welt. Nishijima verbindet diese Teilwahrheit in erster Linie mit den Naturwissenschaften wie der Physik und Chemie. Im Zen geht es vor allem um die dritte Teilwirklichkeit, das Handeln im gegenwärtigen Augenblick. Das reale Handeln ist zentral für die Entwicklung ganzheitlicher Klarheit und die Befreiung auf dem Bodhisattva-Weg. Viertens nennt Nishijima Roshi die Gesamtheit der Wahrheit, die er als Ganzheit mit dem Universum versteht. Dies sei die umfassende Wirklichkeit des Universums und des Menschen. Er betont, dass damit die drei Teilwahrheiten zusammenfassend integriert sind und nicht von dieser umfassenden Wahrheit getrennt werden können. Diese höchste Wahrheit sei sehr konkret auf unser Leben und unsere Entwicklung bezogen und sei nicht in Gefahr, in absolute Abstraktionen wie den Idealismus zu verfallen.

Zum Schluss hält Nāgārjuna eindeutig fest:

 Vers 24.40

Wer gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und damit die Leerheit sieht, der sieht genau und klar diese Tatsachen:

Schmerz und Leiden und eben deren Entstehen, Zur-Ruhe-Kommen und eben den Weg der Befreiung.

 Ohne das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung genau zu erfassen und zu erfahren, kann der buddhistische Weg des Achtfachen Pfades nicht gegangen werden. Diese zentrale Aussage beschreibt genau die wahre Leerheit der Wirklichkeit von täuschenden Doktrinen. Sie ist das Gegenteil von isolierter dualistischer Eigen-Substanz, die keine erfahrbare und phänomenologisch erfassbare Wirklichkeit und damit keine Leerheit hat.

In den einzelnen Kapiteln des MMK behandelt Nāgārjuna aus verschiedenen Perspektiven die Probleme der unklaren Vorstellungen und Konzepte zum Substanz-Selbst. Es ist sicher sein großes Verdienst, diese Unklarheiten und Fehlentwicklungen der buddhistischen Lehre präzise erkannt zu haben und den verfestigten Doktrinen seiner Zeit auf die Spur gekommen zu sein. Mit seinem genauen Wissen und Argumentieren sorgte er für Klarheit in den Kernlehren Buddhas.


[i] Gäng, Peter: Buddhismus, S. 76

[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 326f.

[iii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 67

[iv] Gäng, Peter: Buddhismus, S. 76

[v] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 53

[vi] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 65f.

[vii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 326ff.

[viii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 132ff.

[ix] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 339;
Nāgārjuna: The Fundamental Wisdom of the Middle Way (übersetzt und kommentiert von Jay L. Garfield), S. 304