Sonntag, 9. Januar 2022

Verlässliche Grundlagen des Buddhismus – Kausalität, Wechselwirkung, menschliche Wirkkraft und Frucht des Handelns, MMK, Kap 1

 

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

Vers 1.1

Es wird kein Seiendes (Ding, Phänomen) überhaupt irgendwo gefunden, das total aus sich selbst oder total aus etwas anderem heraus entstanden ist. Es wird auch nicht etwas gefunden, das sowohl total aus sich selbst als auch total aus einem anderen entstanden ist.Auch wird nichts irgendwo gefunden, das ohne Veranlassung und ohne Kausalität entstanden ist.

 Mit diesen Aussagen falsifiziert Nāgārjuna die Doktrin des Substantialismus, die den altindischen religiösen Überzeugungen der Veden sehr ähnlich ist; ihre Grundlage bildet die unveränderliche Dauerhaftigkeit von Dingen, Phänomenen und fiktiven Substanzen. Zuerst geht er auf die alte und in seiner Zeit wieder neu erstarkte Metaphysik ein, dass etwas ganz aus sich selbst entstanden sei. Dies sollte vor allem auf den Gott Brahman am Anfang der Welt zutreffen. Diese metaphysische Ideologie war in der vorbuddhistischen Zeit in Indien weit verbreitet.[i] Alles, was wir in der Wirklichkeit finden und wahrnehmen, entsteht und vergeht aber in der Welt mit Veranlassung und damit durch Kausalität – meist Ursache genanntim Rahmen der Wechselwirkung. Die Welt ist in Wechselwirkung entstanden.

Aus sich selbst entstandene, isolierte, unveränderliche und dauerhaft existierende Entitäten und Substanzen sind in unserer Welt laut Nāgārjuna nicht zu finden. Entsprechend gibt es auch kein Entstehen aus etwas anderem und kein Entstehen isoliert aus sich selbst und zugleich aus einem anderen. Das ist die Theorie der totalen Identität und Differenz[ii] isolierter Entitäten, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Eine Außenverursachung wurde in der vorbuddhistischen Zeit von dogmatischen Materialisten vertreten, die eine totale Determination durch absolute Naturgesetze behaupteten, denen vorgeblich sogar die Götter unterliegen sollen.[iii] Buddha und Nāgārjuna warnen eindringlich vor derartigen spekulativen metaphysischen Philosophien, weil sie realitätsfremd sind und letztlich viel Leiden und Elend erzeugen.

 Vers 1.2

Es gibt vier wechselwirkende Faktoren:

– Veranlassung oder Kausalität,

– Stütze, zum Beispiel die äußere materielle Umgebung,

– Abfolge, also ein fortlaufendes zeitliches Nacheinander,

– und etwas Übergeordnetes.

Ein fünfter wechselwirkender Faktor existiert nicht.

 Nāgārjuna beschreibt die Wirklichkeit in unserer Welt durch vier verlässliche wechselwirkende Faktoren und nimmt damit Bezug zum Entstehen in Wechselwirkung, das er in der Präambel behandelt. Nach der Falsifizierung des Entstehens aus sich selbst oder aus dem anderen in Vers 1.1 erklärt Nāgārjuna in diesen Zeilen, dass bestimmte Zusammenhänge in der Wirklichkeit vorliegen, ohne die es keine Veranlassung oder Verursachung in der wechselwirkenden Welt und beim Menschen geben kann. Jeder Prozess und jede Vernetzung bedürfen einer gewissen Umgebung oder einer Situation, die er als Stütze bezeichnet.

Schließlich laufen in der sich ständig verändernden Welt zeitliche Prozesse unaufhaltsam und ohne Unterbrechung nacheinander ab. Das ist mit Abfolge gemeint. Außerdem nennt Nāgārjuna übergeordnete Bedingungen und Einflüsse, die zum Beispiel in der modernen Sozialwissenschaft mit dem Begriff Sinn bezeichnet werden.[iv] In jeder Gruppe und bei jedem Menschen sind derartige übergeordnete Richtlinien, Regeln und Bedingungen zu finden. Besonders deutlich ist dies bei religiösen Menschen und Gruppen, die einem bestimmten Glauben folgen.

Für unseren Weg der Befreiung benötigen wir verlässliche Fakten und Grundlagen über die Wahrheit des Lebens, sonst folgen wir irgendwelchen spekulativen Versprechen, Doktrinen oder sogar Dogmen, die nicht einzulösen sind. Dann werden wir enttäuscht. Diese Grundlagen für Wahrheit und Ethik finden wir in aller Klarheit bei Buddha und Nāgārjuna. Sie verstehen die Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und bauen darauf den Weg des Menschen als Prozess der Befreiung, Emanzipation und Weiterentwicklung auf. Dazu gehört auch die Meditation, zum Beispiel des Zazen: die Entleerung des Geistes von Störungen durch Denken, Gefühle, Willen und sinnlose Planungen, also auch von Verhärtungen, Vorurteilen und schädlichen Doktrinen.

In diesem ersten Kapitel des MMK widerlegt Nāgārjuna überzeugend verschiedene Dogmatisierungen sowie den naiven Volksbuddhismus, Populismus und unnötige intellektuelle Verwirrungen. Es bildet die Grundlage für seine folgenden scharfsinnigen Analysen. Er möchte der doktrinären Erstarrung des Buddhismus seiner Zeit entgegentreten, enttarnt mit großer Lebenserfahrung und präziser Gedankenführung die Fehlentwicklungen und schafft Raum für neue fruchtbare Entwicklungen. Aus meiner Sicht geht er dabei als De-Konstruktivist[v] vor: Er destruiert verzerrte und unklar gewordene Begriffe und Vorstellungen, wie zum Beispiel eine fiktive ewige Eigen-Substanz für Dinge, Phänomene und Ereignisse (Dharmas), um anschließend konstruktiv eine wieder bereinigte und klare buddhistische Lehre und Praxis vorzulegen. Dies war in seiner Zeit umso wichtiger, weil auch ein wieder erstarkender absolutistischer Glaubens-Brahmanismus, der von der authentischen Lehre der Befreiung und Emanzipation eklatant abgewichen war, nach einer gewissen Integration von bestimmten buddhistischen Elementen den Buddhismus selbst unter Druck setzte.

Der falsche Glaube, dass irgendetwas in der Welt gänzlich aus sich selbst entstanden sei, wird durch die Realität nicht bestätigt. Alles entsteht in Wechselwirkung, ist miteinander vernetzt und enthält die vielfältigen Beziehungen von Ursache und Wirkung. Es gibt kein magisches Ur-Entstehen aus sich selbst, das auch die frühe griechische Philosophie prägte. Die Wechselwirkung wird eindeutig durch die heutige Psychologie und Gehirnforschung nachgewiesen. Zu den vier Faktoren dieser Wechselwirkung zählen erstens die kausale Veranlassung, dass nämlich überhaupt etwas Bestimmtes passiert, zweitens das Stützen, zum Beispiel durch die materielle Umgebung, drittens die zeitliche Abfolge der Prozesse und viertens etwas Übergeordnetes, wie zum Beispiel der Sinn des Ganzen oder auch das Göttliche. Diese Faktoren sind direkt nachvollziehbar, und sie sind im Einklang mit der modernen Systemtheorie. Weitere Faktoren gibt es nach Nāgārjuna nicht.

Durch unseren eigenen Willen und unser eigenes Handeln, also durch unsere Kräfte und Energien, können wir auf die genannten Faktoren in ihrer Vernetzung einwirken. Wir müssen also nicht alles passiv erdulden, ertragen und hinnehmen, sondern können aktiv mithilfe von Prozessen, die wir selbst steuern, eingreifen. Dabei sind gute Lehrer besonders hilfreich, schlechte aber sehr gefährlich, wie auch Zen-Meister Dōgen betont.

Wenn bei uns selbst und in der Welt dagegen überhaupt nichts entsteht, also Statik oder Erstarrung vorherrscht, gibt es keine Überwindung des Leidens und keine Veränderungen zum Guten. Wir wissen heute auch, dass durch Trägheit beim Menschen wegen fehlender Aktivierung des Gehirns eine frühe Demenz eintreten kann. Dann verkümmert der Geist, und das neuronale Netz schrumpft immer mehr. Das passiert nicht zuletzt, wenn man unreale simple Doktrinen nicht als solche erkennt, nicht hinterfragt und nicht genau beobachtet, ob sie unser Leben verbessern. Dies sollte unabhängig davon sein, ob sie uns als heilig verkündet werden oder nicht. Denn: Statische Weltbilder und absolute Glaubenssätze werden häufig von den jeweils herrschenden Eliten behauptet, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder religiöser Art. Im alten Indien war eine solche Elite die Kaste der Brahmanen, die aus meiner Sicht auch die eigenen Privilegien durch absolute Doktrinen einer unveränderlichen Ewigkeit absichern wollten.

Im ersten Kapitel geht es zudem um die wichtigen Fragen, was wir in unserem Leben realistisch erreichen und erzielen können, welche Ergebnisse wir sinnvollerweise anstreben sollten und welche romantischen Utopien uns schaden. Für solche positiven Prozesse wird in der Psychologie der Begriff Selbstwirksamkeit verwendet. Wir müssen uns davor hüten zu glauben, dass ein erwünschtes Ergebnis ohne Veränderungen und Wechselwirkungen gewissermaßen „vom Himmel fällt“, so als ob es schon fertig irgendwo vorhanden wäre. Oder um es mit Wilhelm Busch zu sagen: „Der Schnupfen hockt auf der Terrasse, auf dass er sich ein Opfer fasse.“ Das ist philosophisch betrachtet Substantialismus: das Opfer als Ding und Entität. Diese Vorstellung lässt zeitliche Veränderungsprozesse außer Acht und betrachtet die Ursache sowie das Ergebnis jeweils wie ein isoliertes unveränderliches Ding. Das ist jedoch irreführend und realitätsfremd. Es ist zudem die behauptete Scheinwelt von weltlichen und religiösen Populisten, die es leider auch im Buddhismus gibt.

In der vorbuddhistischen indischen Philosophie wurde angenommen, dass die Welt aus ewigen unveränderlichen Bausteinen zusammengesetzt sei. Nāgārjuna beweist in diesem Kapitel jedoch, dass wir uns diese Dharmas gerade nicht als unveränderliche und unteilbare Bausteine oder Atome und Ideen-Bausteine vorstellen können. Eine solche absolute Substanz-Philosophie kann Wechselwirkungen, Prozesse und Veränderungen der Realität nicht sinnvoll erklären, sie ist daher mit Buddhas Lehre und unserer Lebenserfahrung der sich entwickelnden Veränderungen nicht vereinbar. Solche Doktrinen sind für unsere geistigen und psychischen Prozesse der wirklichen Befreiung, Emanzipation und Entwicklung völlig unbrauchbar und sogar gefährlich.

Damit legt Nāgārjuna die Grundlagen für die Lehre des Mittleren Weges der Wechselwirkungen, Kausalitäten, Lebensziele und der realistischen Ergebnisse. Er schildert, wie es möglich ist, ein gelungenes Leben zu führen und Befreiung zu erlangen. Das ist das Kernstück des MMK. Leitlinie und Hintergrund des Textes sind Buddhas authentische Schlüssellehren und -begriffe.

Im Buddhismus geht es um positive Veränderungen, deren Ergebnisse auch als Früchte bezeichnet werden können. Im Volksbuddhismus gibt es allerdings den Glauben und die Hoffnung, dass diese Früchte einfach und unverändert von einem Leben durch die Wiedergeburt zum nächsten weitergegeben werden. Dabei werden die Früchte als isolierte Dinge (Entitäten) und Eigen-Substanzen gedacht, auf die Wechselwirkungen nicht zutreffen würden. Nāgārjuna destruiert einen solchen simplen Glauben und warnt uns eindringlich davor, so etwas unreflektiert zu übernehmen, da es mit der erfahrbaren Wirklichkeit nicht übereinstimmt und uns letzten Endes nur schaden kann. Solche vereinfachenden Doktrinen führen also zu Enttäuschungen und Stillstand, und wir kommen auf dem Weg der Befreiung nicht voran. Nicht ein fernes isoliertes und erträumtes Ergebnis ist der Mittlere Weg der Überwindung von Hindernissen und Blockaden, sondern unser reales Handeln im konkreten Hier und Jetzt!

 Vers 1.14

Deswegen wird keine isolierte absolute Frucht erkannt, ganz gleich, ob sie aus wechselwirkenden realen Faktoren gemacht oder nicht aus wechselwirkenden Faktoren gemacht ist.

 Eine solche Frucht als substanzhaft Seiendes, als Eigen-Substanz, kann nicht erkannt werden. Eine wirkliche Frucht ist unauflösbar mit wirklichen wechselwirkenden Faktoren verbunden.

Damit kommt Nāgārjuna zum Resümee des ersten Kapitels, dass die buddhistischen Früchte, zum Beispiel die wirkliche Erleuchtung und die wirkliche Überwindung des Leidens, in der lebenden Wechselwirkung entstehen und nicht in irgendeiner Weise schon immer existieren oder in Zukunft unverändert existieren werden. Denn dann wären sie unveränderliche, unverbundene Entitäten, die nicht der Wirklichkeit entsprechen und keinen Bezug zur Befreiung und Emanzipation des Menschen haben. Das wären fiktive Eigen-Substanzen, die es in der Wirklichkeit nicht gibt.


[i] Kalupahana, David J.: Causality: Central Philosophy of Buddhism

[ii] Vgl. in der Philosophie: Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz

[iii] Kalupahana, David J.: Causality: Central Philosophy of Buddhism

[iv] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie

[v] Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie