Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
Vers 1.1
Es wird kein Seiendes (Ding, Phänomen) überhaupt irgendwo gefunden, das total aus sich selbst oder total aus etwas anderem heraus entstanden ist. Es wird auch nicht etwas gefunden, das sowohl total aus sich selbst als auch total aus einem anderen entstanden ist.Auch wird nichts irgendwo gefunden, das ohne Veranlassung und ohne Kausalität entstanden ist.
Aus sich selbst entstandene, isolierte, unveränderliche und dauerhaft
existierende Entitäten und Substanzen sind in unserer Welt laut Nāgārjuna nicht
zu finden. Entsprechend gibt es auch kein Entstehen aus etwas anderem und kein
Entstehen isoliert aus sich selbst und zugleich aus einem anderen. Das ist die
Theorie der totalen Identität und Differenz[ii]
isolierter Entitäten, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Eine
Außenverursachung wurde in der vorbuddhistischen Zeit von dogmatischen
Materialisten vertreten, die eine totale Determination durch absolute
Naturgesetze behaupteten, denen vorgeblich sogar die Götter unterliegen sollen.[iii]
Buddha und Nāgārjuna warnen eindringlich vor derartigen spekulativen
metaphysischen Philosophien, weil sie realitätsfremd sind und letztlich viel
Leiden und Elend erzeugen.
Es gibt vier wechselwirkende Faktoren:
– Veranlassung oder Kausalität,
– Stütze, zum Beispiel die äußere materielle
Umgebung,
– Abfolge, also ein fortlaufendes zeitliches
Nacheinander,
– und etwas Übergeordnetes.
Ein fünfter wechselwirkender Faktor existiert nicht.
Schließlich laufen in der sich ständig verändernden Welt zeitliche
Prozesse unaufhaltsam und ohne Unterbrechung nacheinander ab. Das ist mit Abfolge gemeint. Außerdem nennt
Nāgārjuna übergeordnete Bedingungen und
Einflüsse, die zum Beispiel in der modernen Sozialwissenschaft mit dem
Begriff Sinn bezeichnet werden.[iv]
In jeder Gruppe und bei jedem Menschen sind derartige übergeordnete
Richtlinien, Regeln und Bedingungen zu finden. Besonders deutlich ist dies bei
religiösen Menschen und Gruppen, die einem bestimmten Glauben folgen.
Für unseren Weg der Befreiung benötigen wir verlässliche Fakten und
Grundlagen über die Wahrheit des Lebens, sonst folgen wir irgendwelchen
spekulativen Versprechen, Doktrinen oder sogar Dogmen, die nicht einzulösen
sind. Dann werden wir enttäuscht. Diese Grundlagen für Wahrheit und Ethik
finden wir in aller Klarheit bei Buddha und Nāgārjuna. Sie verstehen die
Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung und bauen darauf den Weg des Menschen als
Prozess der Befreiung, Emanzipation und Weiterentwicklung auf. Dazu gehört auch
die Meditation, zum Beispiel des Zazen: die Entleerung des Geistes von
Störungen durch Denken, Gefühle, Willen und sinnlose Planungen, also auch von
Verhärtungen, Vorurteilen und schädlichen Doktrinen.
In diesem ersten Kapitel des MMK widerlegt Nāgārjuna überzeugend
verschiedene Dogmatisierungen sowie den naiven Volksbuddhismus, Populismus und
unnötige intellektuelle Verwirrungen. Es bildet die Grundlage für seine
folgenden scharfsinnigen Analysen. Er möchte der doktrinären Erstarrung des
Buddhismus seiner Zeit entgegentreten, enttarnt mit großer Lebenserfahrung und
präziser Gedankenführung die Fehlentwicklungen und schafft Raum für neue
fruchtbare Entwicklungen. Aus meiner Sicht geht er dabei als De-Konstruktivist[v]
vor: Er destruiert verzerrte und unklar gewordene Begriffe und Vorstellungen,
wie zum Beispiel eine fiktive ewige
Eigen-Substanz für Dinge, Phänomene und Ereignisse (Dharmas), um
anschließend konstruktiv eine wieder bereinigte und klare buddhistische Lehre
und Praxis vorzulegen. Dies war in seiner Zeit umso wichtiger, weil auch ein
wieder erstarkender absolutistischer Glaubens-Brahmanismus, der von der
authentischen Lehre der Befreiung und Emanzipation eklatant abgewichen war,
nach einer gewissen Integration von bestimmten buddhistischen Elementen den
Buddhismus selbst unter Druck setzte.
Der falsche Glaube, dass irgendetwas in der Welt gänzlich aus sich
selbst entstanden sei, wird durch die Realität nicht bestätigt. Alles entsteht
in Wechselwirkung, ist miteinander vernetzt und enthält die vielfältigen
Beziehungen von Ursache und Wirkung. Es gibt kein magisches Ur-Entstehen aus
sich selbst, das auch die frühe griechische Philosophie prägte. Die
Wechselwirkung wird eindeutig durch die heutige Psychologie und Gehirnforschung
nachgewiesen. Zu den vier Faktoren dieser Wechselwirkung zählen erstens die
kausale Veranlassung, dass nämlich überhaupt etwas Bestimmtes passiert,
zweitens das Stützen, zum Beispiel durch die materielle Umgebung, drittens die
zeitliche Abfolge der Prozesse und viertens etwas Übergeordnetes, wie zum
Beispiel der Sinn des Ganzen oder auch das Göttliche. Diese Faktoren sind
direkt nachvollziehbar, und sie sind im Einklang mit der modernen
Systemtheorie. Weitere Faktoren gibt es nach Nāgārjuna nicht.
Durch unseren eigenen Willen und unser eigenes Handeln, also durch
unsere Kräfte und Energien, können wir auf die genannten Faktoren in ihrer
Vernetzung einwirken. Wir müssen also nicht alles passiv erdulden, ertragen und
hinnehmen, sondern können aktiv mithilfe von Prozessen, die wir selbst steuern,
eingreifen. Dabei sind gute Lehrer besonders hilfreich, schlechte aber sehr
gefährlich, wie auch Zen-Meister Dōgen betont.
Wenn bei uns selbst und in der Welt dagegen überhaupt nichts entsteht, also Statik oder Erstarrung
vorherrscht, gibt es keine Überwindung des Leidens und keine Veränderungen zum
Guten. Wir wissen heute auch, dass durch Trägheit beim Menschen wegen fehlender
Aktivierung des Gehirns eine frühe Demenz eintreten kann. Dann verkümmert der
Geist, und das neuronale Netz schrumpft immer mehr. Das passiert nicht zuletzt,
wenn man unreale simple Doktrinen nicht als solche erkennt, nicht hinterfragt
und nicht genau beobachtet, ob sie unser Leben verbessern. Dies sollte
unabhängig davon sein, ob sie uns als heilig verkündet werden oder nicht. Denn:
Statische Weltbilder und absolute Glaubenssätze werden häufig von den jeweils
herrschenden Eliten behauptet, seien sie politischer, wirtschaftlicher oder
religiöser Art. Im alten Indien war eine solche Elite die Kaste der Brahmanen,
die aus meiner Sicht auch die eigenen Privilegien durch absolute Doktrinen
einer unveränderlichen Ewigkeit absichern wollten.
Im ersten Kapitel geht es zudem um die wichtigen Fragen, was wir in
unserem Leben realistisch erreichen und erzielen können, welche Ergebnisse wir
sinnvollerweise anstreben sollten und welche romantischen Utopien uns schaden.
Für solche positiven Prozesse wird in der Psychologie der Begriff
Selbstwirksamkeit verwendet. Wir müssen uns davor hüten zu glauben, dass ein erwünschtes
Ergebnis ohne Veränderungen und Wechselwirkungen gewissermaßen „vom Himmel
fällt“, so als ob es schon fertig irgendwo vorhanden wäre. Oder um es mit
Wilhelm Busch zu sagen: „Der Schnupfen hockt auf der Terrasse, auf dass er sich
ein Opfer fasse.“ Das ist philosophisch betrachtet Substantialismus: das Opfer
als Ding und Entität. Diese Vorstellung lässt zeitliche Veränderungsprozesse
außer Acht und betrachtet die Ursache sowie das Ergebnis jeweils wie ein
isoliertes unveränderliches Ding. Das ist jedoch irreführend und
realitätsfremd. Es ist zudem die behauptete Scheinwelt von weltlichen und
religiösen Populisten, die es leider auch im Buddhismus gibt.
In der vorbuddhistischen indischen Philosophie wurde angenommen, dass
die Welt aus ewigen unveränderlichen Bausteinen zusammengesetzt sei. Nāgārjuna
beweist in diesem Kapitel jedoch, dass wir uns diese Dharmas gerade nicht als
unveränderliche und unteilbare Bausteine oder Atome und Ideen-Bausteine
vorstellen können. Eine solche absolute Substanz-Philosophie kann
Wechselwirkungen, Prozesse und Veränderungen der Realität nicht sinnvoll
erklären, sie ist daher mit Buddhas Lehre und unserer Lebenserfahrung der sich
entwickelnden Veränderungen nicht vereinbar. Solche Doktrinen sind für unsere
geistigen und psychischen Prozesse der wirklichen Befreiung, Emanzipation und
Entwicklung völlig unbrauchbar und sogar gefährlich.
Damit legt Nāgārjuna die Grundlagen für die Lehre des Mittleren Weges
der Wechselwirkungen, Kausalitäten, Lebensziele und der realistischen
Ergebnisse. Er schildert, wie es möglich ist, ein gelungenes Leben zu führen
und Befreiung zu erlangen. Das ist das Kernstück des MMK. Leitlinie und
Hintergrund des Textes sind Buddhas authentische Schlüssellehren und -begriffe.
Im Buddhismus geht es um positive Veränderungen, deren Ergebnisse auch
als Früchte bezeichnet werden können. Im Volksbuddhismus gibt es allerdings den
Glauben und die Hoffnung, dass diese Früchte einfach und unverändert von einem
Leben durch die Wiedergeburt zum nächsten weitergegeben werden. Dabei werden
die Früchte als isolierte Dinge (Entitäten) und Eigen-Substanzen gedacht, auf
die Wechselwirkungen nicht zutreffen würden. Nāgārjuna destruiert einen solchen
simplen Glauben und warnt uns eindringlich davor, so etwas unreflektiert zu
übernehmen, da es mit der erfahrbaren Wirklichkeit nicht übereinstimmt und uns
letzten Endes nur schaden kann. Solche vereinfachenden Doktrinen führen also zu
Enttäuschungen und Stillstand, und wir kommen auf dem Weg der Befreiung nicht
voran. Nicht ein fernes isoliertes und erträumtes Ergebnis ist der Mittlere Weg
der Überwindung von Hindernissen und Blockaden, sondern unser reales Handeln im
konkreten Hier und Jetzt!
Deswegen wird keine isolierte absolute Frucht
erkannt, ganz gleich, ob sie aus wechselwirkenden realen Faktoren gemacht oder
nicht aus wechselwirkenden Faktoren gemacht ist.
Damit kommt Nāgārjuna zum Resümee des ersten Kapitels, dass die buddhistischen Früchte, zum Beispiel die wirkliche Erleuchtung und die wirkliche Überwindung des Leidens, in der lebenden Wechselwirkung entstehen und nicht in irgendeiner Weise schon immer existieren oder in Zukunft unverändert existieren werden. Denn dann wären sie unveränderliche, unverbundene Entitäten, die nicht der Wirklichkeit entsprechen und keinen Bezug zur Befreiung und Emanzipation des Menschen haben. Das wären fiktive Eigen-Substanzen, die es in der Wirklichkeit nicht gibt.
[i] Kalupahana, David J.: Causality: Central
Philosophy of Buddhism
[ii] Vgl. in der Philosophie: Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz
[iii] Kalupahana, David
J.: Causality: Central Philosophy of Buddhism
[iv] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie
[v] Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie