Buddha hat das Handeln des Menschen und damit die Verantwortung für das eigene Tun und Handeln in den Mittelpunkt seiner neuen praktischen Lehre der Befreiung gerückt. Die Verantwortung für die Konsequenzen oder wie es im Sanskrit heißt die Frucht des eigenen Handelns bzw. das Karma trägt also jeder selbst. Vereinfacht ausgedrückt ergibt gutes Handeln gute Wirkungen also gutes Karma für uns und für andere. Schlechtes Handeln hat schlechte Wirkungen zur Folge. Viele buddhistischen Meister warnen aber davor, eine solche Beziehung von Ursache und Wirkung zu sehr zu vereinfachen und naiv zu begreifen.[i] Vor allem geht es um die Frage, wie man die Konsequenzen, Ergebnisse oder Wirkungen versteht und wie man sie dem Handeln zuordnet. Wie lange ist das Karma eigentlich wirksam? Welche Irrtümer, Selbsttäuschungen und psychischen Fallstricke drohen uns, wenn wir uns über die Ethik unseres Handelns klar werden wollen? Und wie verändern die Gifte Gier, Hass und Verblendung unser Leben kurzfristig und auf längere Sicht? Dass gutes Handeln eng mit unserem Wohlbefinden, mit unserer Zufriedenheit und unserem Glück zusammenhängt, ist sicher unbestritten.
Im MMK wird in der Präambel die Wirklichkeit als
gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung (pratitya
samutpada) bezeichnet. Die Wirklichkeit verstehen Buddha und Nāgārjuna also
als dynamisches Ganzes, indem sie das gemeinsame Entstehen hervorheben. Der
Mensch kann dabei durch eigenes Handeln sein Leiden erkennen und überwinden,
sich emanzipieren und von Hemmnissen und Fixierungen befreien.
Diese Wechselwirkung verstehe ich als Vernetzung und
wissenschaftlich als rückgekoppeltes vernetztes Gesamtsystem. Solche
Vernetzungen sind bei Ökosystemen, sozialen Systemen und nicht zuletzt beim
neuronalen Netz des menschlichen Gehirns evident. Sie können phänomenologisch
und naturwissenschaftlich nachgewiesen und analysiert werden. Durch dieses
Verständnis der Wirklichkeit ergibt sich ein radikaler Widerspruch zur Doktrin
einer unveränderlichen isolierten Substanz oder völlig autonomen Essenz, also
der absoluten Existenz oder Nicht-Existenz (Substantialismus). Außerdem
destruieren Buddha, Nāgārjuna und Meister Dōgen die Doktrin der isolierten
Zeit-Momente oder Zeit-Bausteine (Momentanismus).
Die wichtigsten Kernlehren des Buddhismus sind auch
in diesem Kapitel des MMK maßgeblich: die Vier Edlen Wahrheiten und der
Achtfache Pfad zur Überwindung des Leidens, die Sieben Glieder der Befreiung
und des Erwachens, die Fünf Hemmnisse des Erwachens, der Mittlere Weg zur
Vermeidung von Extremen sowie die zwölf Faktoren zur Befreiung und Erleuchtung.
Außerdem sind in allem Handeln die Ethik und Moral von zentraler Bedeutung, was
zum Beispiel in den buddhistischen Gelöbnissen und im Bodhisattva-Ideal
verwirklicht ist.
Nāgārjuna baut auf diesen Grundlagen auf und
untersucht für die Lehre des buddhistischen Handelns und des Karmas detailliert
den Zusammenhang von Verursachung und Wirkung. Eine naive Ding-Metaphorik für
das Karma destruiert er dabei genauso gründlich wie den Substantialismus. Es
geht ihm dabei auch um die Falsifizierung der vorbuddhistischen Weltanschauung
und Religion des Brahmanismus. Dessen Dogma behauptet, dass der Mensch einen
unabhängigen, unveränderlichen und ewigen Kern (ātman) habe. Die Veränderungen in der Welt der Phänomene und des
Menschen seien nur oberflächlich und würden den Kern nicht betreffen. Dieser
würde durch die Geburten wandern und sich jeweils neu verkörpern. Die
Eigenschaften des Menschen seien in seinem Leben durch das Karma des ātman
weitgehend zementiert oder vollständig festgelegt, sie veränderten sich kaum
oder gar nicht. Nach vorbuddhistischem Glauben werde durch unheilsames Handeln
schlechtes Karma beim ātman angesammelt und müsse in den folgenden Leben
beseitigt werden. Nach vielen Millionen Jahren sei der ātman endlich
vollständig bereinigt, sodass die endgültige Wiedervereinigung mit Brahman
erfolgen könne. Damit könne das individuelle Leiden des Menschen zu Ende gehen.
Der Ātman-Kern würde jeweils bei der neuen Geburt sein altes vorheriges Karma aus dem letzten Leben ergreifen. Daraus
würden sich dann zwangsläufig die Bedingungen
für das neu angefangene Leben ergeben. Das Karma sei wesentlich dadurch
bestimmt, dass die Pflichten der eigenen Kaste vollständig erfüllt werden. Übertretungen
und Verletzungen dieser detailliert festgelegten, angeblich ewigen
Karma-Gesetze hätten schwere karmische Bestrafungen zur Folge.
Nāgārjuna destruiert in diesem Kapitel ähnliche
doktrinäre Vorstellungen im Buddhismus, die sich dem Ātman-Modell für Handeln,
Akteur und Karma deutlich angenähert hatten. Er macht deutlich, dass eine
solche Doktrin der Eigensubstanz des Menschen die authentische Lehre Buddhas
tiefgreifend entstellt, und sogar in ihr Gegenteil verkehrt.
Das Sanskrit-Wort Karma
bedeutet im engeren Sinne das Handeln, die Handlung oder die Tat. In der
altindischen Religion des Brahmanismus wurde Karma überwiegend als substanzartiges
Ergebnis des moralischen Handelns verstanden und fast
ausschließlich mit der Idee der Wiedergeburt verknüpft. Danach waren durch das
moralische Handeln, das Karma, im gegenwärtigen Leben wesentlich die
Wiedergeburt und unser Schicksal im nächsten Leben bestimmt. Nur dadurch war es
möglich, gemäß dem System der Kasten im nächsten Leben aufzusteigen. Zum Teil
wurde die Karmalehre im alten Indien von der herrschenden Elite der Priester
als Machtmittel missbraucht, um die Gläubigen mithilfe von Angst und Schrecken
gefügig zu machen. Es wird der Fall berichtet, das ein Kastenloser ohne eigene
Absicht das Gespräch von Mitgliedern einer höheren Kaste mithörte. Als „gerechte“
Strafe wurden ihm beide Ohren zerstört, indem flüssiges Blei hineingegossen
wurde. Ob er daran starb, wird nicht berichtet. Vor diesem Hintergrund kommt
diesem Kapitel Nāgārjunas zu Akteur, Karma und Tat eine hohe Bedeutung zu.
Karma hat auch im Buddhismus zwei wichtige
Bedeutungen: das Handeln selbst, also
die Tätigkeit im Augenblick, und das Ergebnis bzw. die Wirkung des Handelns. Diese Wirkung wird häufig Frucht genannt und wirkt in die Zukunft. Ethisch gutes Handeln erzeugt gutes
Karma und schlechtes Handeln schlechtes Karma. Das gilt grundsätzlich auch im
Buddhismus. Buddha hat das Zusammenwirken aber aus der Starrheit und
Unmenschlichkeit der vorherigen Bedeutung befreit. Nach meinem Verständnis
lassen sich zudem grundsätzlich zwei verschiedene Dimensionen des Karmas
unterscheiden: zum einen das persönliche Karma, das auch wichtiges Element der
Wiedergeburtslehre ist. Und zum anderen das soziale
Karma, das sich jetzt und später auf andere auswirkt und so in den
„Kulturstrom“ der Menschen eingeht.
Als ich im Jahr 2006 mit Nishijima Roshi an diesem
Kapitel Nāgārjunas arbeitete, sagte er einen markanten Satz: „Actions are carved in the universe.“
Das heißt, unsere Handlungen wirken weiter im Universum und sind nicht mit
unserem individuellen Leben beendet. Unser Handeln verschwindet also nicht
einfach in der Welt, sondern setzt sich fort. Das bedeutet, dass ein positiv
wirkendes Handeln im Buddhismus zentrale Aufgabe und die klare Verantwortung
unseres Lebens ist. Durch ethisch gutes und klares Handeln leisten wir also
unseren wichtigen Beitrag für die Welt und die Menschheit. Es liegt auf der
Hand, dass Nishijima Roshi damit den wahren Buddhismus als Lehre und Praxis
meinte.
Das individuelle Karma der meisten Menschen entzieht
sich bei späteren Wiedergeburten weitgehend der Beobachtung, dem rationalen
Geist und auch einer erweiterten Vernunft. So glaubte Nishijima Roshi nicht an
die Wiedergeburt. Häufig gleitet der Glaube an die Wiedergeburt in grandiose
Wunschvorstellungen, Ängste und starre Doktrinen ab. In ähnlicher Weise ist die
Erinnerung an frühere Leben sicher für die meisten von uns eher dunkel und ein
Geheimnis, eine Illusion oder vielleicht eine Ahnung. Gautama Buddha und Nāgārjuna
haben daher davor gewarnt, sich zu sehr von Gedanken, Gefühlen, Hoffnungen und
Ängsten über das vergangene und das zukünftige Leben gefangen nehmen zu lassen.
Wir sollten uns ganz dem jetzigen überschaubaren Leben widmen, zum Beispiel den
Achtfachen Pfad gehen und den buddhistischen Gelöbnissen folgen.
Das soziale Karma ist für jeden Menschen in diesem
Leben zu erkennen und einzuschätzen, indem er sich beispielsweise die folgenden
Fragen stellt: Welche Auswirkungen hat mein jetziges Handeln auf die Menschen,
die mir nahestehen und mit denen ich zu tun habe? Sind meine Handlungen
nützlich, weiterführend und konstruktiv für andere? Oder hemmen, belasten oder
verletzen sie die anderen? Ist mein Handeln auf Macht ausgerichtet und
unterdrückt sogar die betroffenen Menschen? Oder kurz: Wie weit werde ich durch
Gier, Hass und Verblendung gesteuert, sei es bewusst oder unbewusst? Solche
Fragen und deren Beantwortung sind in der Tat ziemlich komplex. Sie sind aber
dennoch einfacher zu analysieren und zu beantworten als Fragen nach den
wirklichen Fakten der früheren Leben und der zukünftigen Wiedergeburten. Der
Zusammenhang zwischen Handeln und Karma kann also direkt hier und jetzt durch
Beobachtung, Selbstreflexion und Achtsamkeit, durch Dialog und Rückkopplung
recht gut verstanden werden. Die ethische Selbststeuerung wird dadurch und bei
unseren Weiterentwicklungen zunehmend besser in unser gesamtes Leben integriert.
Nishijima Roshi
unterstreicht, dass Nirvāna nach
Nāgārjuna die Befreiung von Ideologien
und materiellen Abhängigkeiten wie
Gier und Habsucht bedeutet, auch und gerade in
diesem Leben. Und diese Befreiung sei unauflösbar mit heilsamem Handeln verbunden, denn Denken und ein
isolierter Geist würden allein überhaupt nicht ausreichen. Die in der
westlichen Welt verbreiteten philosophischen Hauptströmungen des Idealismus und
Materialismus seien zwar weit entwickelt, aber einseitig. Sie seien daher wenig
geeignet, um das wirkliche Leben philosophisch und pädagogisch angemessen
begreifen und durch Selbststeuerung ein gutes Leben führen zu können. Eine Philosophie des Handelns und der Bewegung sei
im Westen nur in Ansätzen vorhanden, obgleich Aktivität und Handeln einen so
hohen Stellenwert in der westlichen Kultur hätten. Denn gerade
Naturwissenschaft und Technik sind von Veränderungen geprägt. „Durch die genaue
Untersuchung der Theorie und Praxis des Handelns kann der Buddhismus daher für
den Westen erhebliche realistische Verbesserungen der Lebensverhältnisse
erbringen“, fasst Nishijima Roshi zusammen.
Nāgārjuna untersucht im folgenden Vers die
Zeitlichkeit des Karmas:
Vers 17.6
(Wenn angenommen wird,) dass das Karma bis zum
Zeitpunkt der Reife (der Frucht) bestehen bliebe, würde auch dieses Handeln
unverändert in die Ewigkeit gehen.
Wenn (das Handeln total) beendet ist, fragt sich,
welche Frucht es erzeugen wird, wenn es als etwas Existierendes zur Ruhe
gekommen ist?
Nāgārjuna
analysiert hier Tat und Handlung genauer, besonders in Bezug auf das doktrinäre
Verständnis, dass die Tat und das Karma isolierte unveränderliche Entitäten
seien. Sie würden dann entweder unverändert bis in die Ewigkeit existieren oder
total aufhören zu existieren. Er untersucht also die Doktrinen von totaler
Dauerhaftigkeit und Identität oder von völligem Auflösen zum Nichts und totaler
Differenz. Beides sind unwirkliche Extreme. Aber das Grundproblem des Karmas
und der eigenen Verantwortung darf nicht bagatellisiert werden, denn ohne
Zweifel wirkt unser Handeln fort in die Zukunft, und die Folgen sind nicht
plötzlich ausgelöscht. Das wäre eine Illusion und besonders im Hinblick auf unmoralisches
Handeln verantwortungslos. Umgekehrt kann es keine Wirkung des Handelns in die
Ewigkeit der Zukunft geben. Nāgārjuna destruiert das simple Verständnis dieser
beiden Extreme, um damit ein naives Verständnis von Handeln, Karma, Ergebnis
und Frucht zu falsifizieren. Das heißt, er destruiert die unzutreffende Doktrin
der Substantialisten.
Nishijima Roshi bezeichnet solche
Doktrinen schlicht als „absurd“. Es macht also keinen Sinn, dass die Tat oder
das Karma wie eine dauerhafte unveränderte Entität bestehen bleiben, bis sie
zum Beispiel bei der Wiedergeburt „reifen“ und für das folgende Leben
dominieren. Es mag sein, dass der Begriff Frucht
für das Karma zu diesem Fehlschluss verführt. Genauso unsinnig ist es, dass
eine Tat total verschwindet, bevor die Wirkung erzeugt wird, weil dann
überhaupt keine Wirkung oder Frucht entstehen könnte.
Nishijima
Roshi ergänzt aus zen-buddhistischer Sicht: „Im Buddhismus ist der gegenwärtige
Augenblick die wahre Zeit, in der das
Handeln als Wirklichkeit stattfindet. Die übliche Vorstellung einer
linearen Zeit als angebliche Wirklichkeit von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft muss verlassen werden, um zur Wirklichkeit zu gelangen. Wirklichkeit
und Augenblick sind ein Ganzes! Handeln ist dann in der klaren Wirklichkeit,
und sie kann mit einem doktrinär denkenden Verstand nicht annäherungsweise oder
gar vollständig erfasst werden. Ergebnisse des Handelns sind darüber hinaus
Bewertungen, die voraussetzen, dass man Vergleiche zwischen verschiedenen
Zeitpunkten gemäß der linearen Zeit durchführt. Die Bewertungen der Ergebnisse
sind keine (direkte) Wirklichkeit. Daher ist das Konzept der Wirklichkeit von Ergebnissen (als
unveränderliche Substanzen) absurd.“
Vers 17.8
Und weil aus dem Samen eine Serie entsteht, aus
dessen Fortsetzung die Frucht erwächst, kommt zuerst der Samen und dann die
Frucht.
Die Frucht ist nicht total getrennt und abgeschnitten
vom Samen, aber sie dauert auch nicht unverändert und ewig an.
Nāgārjuna gibt hier die einfache Beobachtung wieder, dass beim Übergang vom
Samen über den Keimling zur Frucht beide weder vollständig verschieden noch
vollständig gleich sind. Dies ist typisch für prozesshafte Entwicklungen mit
den entsprechenden Veränderungen. Es
geht um die Prozesshaftigkeit und deren Steuerung in unserem Leben. Unheilsame
Steuerungen entstehen bekanntlich durch die buddhistischen Gifte Gier, Hass und
Verblendung. Dabei sind die Handlungsimpulse nach der buddhistischen Lehre
durch die formenden Kräfte und Prägungen des Menschen maßgeblich beeinflusst.
Nishijima
Roshi betont im gleichen Sinn wie Nāgārjuna: „Die Vorstellung der Ewigkeit ist jedenfalls unwirklich. Ergebnisse
kann es nur dann geben, wenn man eine Kontinuität in der Zeit voraussetzt, der
Samen wird dann als Anfang einer derartigen Kontinuität gesehen.“
Vers 17.22
Wenn Handlung und Karma wegen ihrer Eigen-Substanz
unverändert existieren würden, dann würden sie ohne Zweifel beständig und ewig
existieren.
Und die Handlung würde ausgeführt, ohne dass
gehandelt wurde, also ohne Kausalität. Denn etwas Beständiges wird nicht
ausgeführt und handelt nicht.
Nāgārjuna
weist nach, dass die doktrinäre Aussage der Substantialisten absurd und zudem
in sich widersprüchlich ist. Er vertieft die Analyse, dass eine Tat oder das
Handeln, also das Karma, veränderlich ist und keine unveränderliche
Eigen-Substanz hat. Sie dauern trotzdem unzerstörbar an, sonst wäre eine Tat
statisch und hätte keine Verursachung. Das Handeln wäre dann in immer derselben
Form unveränderlich und damit ewig. Es könnte aber auch nicht entstanden sein,
weil es ja bereits aus der unendlichen Vergangenheit als Substanz existiert
hätte; es wäre also nicht „gemacht“, nicht entstanden und nicht verursacht.
Eine solche Charakterisierung ist aber für das Handeln total unsinnig, weil
Handeln ja gerade als sich verändernder Prozess in der Zeit ausgeführt wird.
Nishijima Roshi arbeitet den
fundamentalen Unterschied zwischen einer vorgestellten, nur gedachten Tat und
dem wirklichen Handeln im Augenblick heraus: „Wenn eine Handlung nicht wirklich
vollzogen wird, sondern nur subjektiv
in unserer Vorstellung da ist, scheint sie ewig zu sein. Die Vorstellung der
Ewigkeit entsteht vor allem bei Menschen mit idealistischer Lebensphilosophie. Unsere Vorstellungen erscheinen
den Menschen dabei ewig und unveränderlich zu sein. Instabilität und Fragilität
sind im Gegensatz dazu meist mit einer materialistischen
Lebensphilosophie verbunden. Wirkliches Handeln hat Wirkungen, die sich in
der Welt immer weiter fortsetzen.“
In diesem Kapitel des MMK geht es nicht zuletzt um
die schwierige Frage, ob das Karma ewig und unveränderlich ist. Eine solche
Unveränderlichkeit wäre allerdings mit dem Buddhismus der Veränderlichkeit und
des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung nicht vereinbar. Karma ist kein
Ding, keine Entität, keine Substanz und keine Essenz. Karma verschwindet nicht
spurlos, löst sich nicht von selbst auf und wird nicht zu einem Nichts. Die
doktrinäre falsche Lehre über Karma, Tat, Akteur und Frucht, die von
unveränderlichen Substanzen ausgeht, gleicht laut Nāgārjuna einem flimmernden
verführerischen Lichtstrahl und ist ein illusionärer Traum, der immer neue
Illusionen und Verwirrungen erzeugt. Auch im Hinblick auf das Karma beschreibt
der Substantialismus also keine Wirklichkeit in der Welt. Nāgārjuna fasst
zusammen:
Vers 17.32
So hat (beim Substantialismus) auch der Akteur die
Gestalt eines künstlich Geschaffenen. Und seine Tat ist eine andere künstlich
erzeugte Kreation.
Das Ganze ist wie etwas künstlich Geschaffenes, das
durch etwas anderes künstlich hergestellt wurde.
Er
resümiert, dass bei der untersuchten Doktrin auch der Akteur nicht wirklich
lebt, sondern eine durch ein Dogma künstlich geschaffene Figur ist. Seine Taten
gibt es dann auch nicht als Realität, sie sind Fiktionen im verwirrten Geist.
Dadurch ergibt sich eine gefährliche, nicht reale Scheinwelt. Nishijima Roshi sagt hierzu klipp und klar,
dass Handeln etwas fundamental anderes ist als Ideen über das Handeln in
unserem Geist. Es gehe dabei um das Hier und Jetzt und auch nicht primär darum,
welche Dinge wir in der Vergangenheit vielleicht erzeugt haben. „Die Gegenwart
ist wirkliches Handeln, und dies ist die Wirklichkeit des Universums“, hält er
fest. Laut buddhistischer Überlieferung
ist es notwendig, dass wir eine intuitive ganzheitliche Weisheit entwickeln und
entsprechende Erfahrungen machen, wenn wir Klarheit über Karma, Akteur und
Handlung bekommen wollen.
Nāgārjuna zeigt auf, dass auch die buddhistische
Lehre in seiner Zeit zum Teil in Wortgläubigkeit, Erstarrung und naivem
substantialistischem Denken gefangen war. Es war dringend erforderlich, einen
Ausweg zu finden. Dieser besteht darin, das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung, pratitya samutpada,
zugrunde zu legen, wie er bereits in der Präambel deutlich macht.
Vers 17.33
(Die von der Substanz-Doktrin angenommenen) Plagen,
Taten, Körper, Akteure und Früchte haben die Gestalt einer Stadt von (fiktiven)
Gandharven-Wesen, ähnlich flimmernder Irrlichter wie in einem Traum.
Die in diesem Kapitel dargestellte und destruierte Doktrin von Karma, Tat, Akteur und Frucht als isolierte unveränderliche fiktive Substanzen vergleicht Nāgārjuna in diesem Vers mit der legendären, aber total illusorischen Stadt der Gandharven-Wesen.
[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 243ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s
Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 156ff.