Sonntag, 9. Januar 2022

MMK, Kap. 17: Handeln, Karma und Verantwortung

 

Buddha hat das Handeln des Menschen und damit die Verantwortung für das eigene Tun und Handeln in den Mittelpunkt seiner neuen praktischen Lehre der Befreiung gerückt. Die Verantwortung für die Konsequenzen oder wie es im Sanskrit heißt die Frucht des eigenen Handelns bzw. das Karma trägt also jeder selbst. Vereinfacht ausgedrückt ergibt gutes Handeln gute Wirkungen also gutes Karma für uns und für andere. Schlechtes Handeln hat schlechte Wirkungen zur Folge. Viele buddhistischen Meister warnen aber davor, eine solche Beziehung von Ursache und Wirkung zu sehr zu vereinfachen und naiv zu begreifen.[i] Vor allem geht es um die Frage, wie man die Konsequenzen, Ergebnisse oder Wirkungen versteht und wie man sie dem Handeln zuordnet. Wie lange ist das Karma eigentlich wirksam? Welche Irrtümer, Selbsttäuschungen und psychischen Fallstricke drohen uns, wenn wir uns über die Ethik unseres Handelns klar werden wollen? Und wie verändern die Gifte Gier, Hass und Verblendung unser Leben kurzfristig und auf längere Sicht? Dass gutes Handeln eng mit unserem Wohlbefinden, mit unserer Zufriedenheit und unserem Glück zusammenhängt, ist sicher unbestritten.

Im MMK wird in der Präambel die Wirklichkeit als gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) bezeichnet. Die Wirklichkeit verstehen Buddha und Nāgārjuna also als dynamisches Ganzes, indem sie das gemeinsame Entstehen hervorheben. Der Mensch kann dabei durch eigenes Handeln sein Leiden erkennen und überwinden, sich emanzipieren und von Hemmnissen und Fixierungen befreien.

Diese Wechselwirkung verstehe ich als Vernetzung und wissenschaftlich als rückgekoppeltes vernetztes Gesamtsystem. Solche Vernetzungen sind bei Ökosystemen, sozialen Systemen und nicht zuletzt beim neuronalen Netz des menschlichen Gehirns evident. Sie können phänomenologisch und naturwissenschaftlich nachgewiesen und analysiert werden. Durch dieses Verständnis der Wirklichkeit ergibt sich ein radikaler Widerspruch zur Doktrin einer unveränderlichen isolierten Substanz oder völlig autonomen Essenz, also der absoluten Existenz oder Nicht-Existenz (Substantialismus). Außerdem destruieren Buddha, Nāgārjuna und Meister Dōgen die Doktrin der isolierten Zeit-Momente oder Zeit-Bausteine (Momentanismus).

Die wichtigsten Kernlehren des Buddhismus sind auch in diesem Kapitel des MMK maßgeblich: die Vier Edlen Wahrheiten und der Achtfache Pfad zur Überwindung des Leidens, die Sieben Glieder der Befreiung und des Erwachens, die Fünf Hemmnisse des Erwachens, der Mittlere Weg zur Vermeidung von Extremen sowie die zwölf Faktoren zur Befreiung und Erleuchtung. Außerdem sind in allem Handeln die Ethik und Moral von zentraler Bedeutung, was zum Beispiel in den buddhistischen Gelöbnissen und im Bodhisattva-Ideal verwirklicht ist.

Nāgārjuna baut auf diesen Grundlagen auf und untersucht für die Lehre des buddhistischen Handelns und des Karmas detailliert den Zusammenhang von Verursachung und Wirkung. Eine naive Ding-Metaphorik für das Karma destruiert er dabei genauso gründlich wie den Substantialismus. Es geht ihm dabei auch um die Falsifizierung der vorbuddhistischen Weltanschauung und Religion des Brahmanismus. Dessen Dogma behauptet, dass der Mensch einen unabhängigen, unveränderlichen und ewigen Kern (ātman) habe. Die Veränderungen in der Welt der Phänomene und des Menschen seien nur oberflächlich und würden den Kern nicht betreffen. Dieser würde durch die Geburten wandern und sich jeweils neu verkörpern. Die Eigenschaften des Menschen seien in seinem Leben durch das Karma des ātman weitgehend zementiert oder vollständig festgelegt, sie veränderten sich kaum oder gar nicht. Nach vorbuddhistischem Glauben werde durch unheilsames Handeln schlechtes Karma beim ātman angesammelt und müsse in den folgenden Leben beseitigt werden. Nach vielen Millionen Jahren sei der ātman endlich vollständig bereinigt, sodass die endgültige Wiedervereinigung mit Brahman erfolgen könne. Damit könne das individuelle Leiden des Menschen zu Ende gehen. Der Ātman-Kern würde jeweils bei der neuen Geburt sein altes vorheriges Karma aus dem letzten Leben ergreifen. Daraus würden sich dann zwangsläufig die Bedingungen für das neu angefangene Leben ergeben. Das Karma sei wesentlich dadurch bestimmt, dass die Pflichten der eigenen Kaste vollständig erfüllt werden. Übertretungen und Verletzungen dieser detailliert festgelegten, angeblich ewigen Karma-Gesetze hätten schwere karmische Bestrafungen zur Folge.

Nāgārjuna destruiert in diesem Kapitel ähnliche doktrinäre Vorstellungen im Buddhismus, die sich dem Ātman-Modell für Handeln, Akteur und Karma deutlich angenähert hatten. Er macht deutlich, dass eine solche Doktrin der Eigensubstanz des Menschen die authentische Lehre Buddhas tiefgreifend entstellt, und sogar in ihr Gegenteil verkehrt.

Das Sanskrit-Wort Karma bedeutet im engeren Sinne das Handeln, die Handlung oder die Tat. In der altindischen Religion des Brahmanismus wurde Karma überwiegend als substanzartiges Ergebnis des moralischen Handelns verstanden und fast ausschließlich mit der Idee der Wiedergeburt verknüpft. Danach waren durch das moralische Handeln, das Karma, im gegenwärtigen Leben wesentlich die Wiedergeburt und unser Schicksal im nächsten Leben bestimmt. Nur dadurch war es möglich, gemäß dem System der Kasten im nächsten Leben aufzusteigen. Zum Teil wurde die Karmalehre im alten Indien von der herrschenden Elite der Priester als Machtmittel missbraucht, um die Gläubigen mithilfe von Angst und Schrecken gefügig zu machen. Es wird der Fall berichtet, das ein Kastenloser ohne eigene Absicht das Gespräch von Mitgliedern einer höheren Kaste mithörte. Als „gerechte“ Strafe wurden ihm beide Ohren zerstört, indem flüssiges Blei hineingegossen wurde. Ob er daran starb, wird nicht berichtet. Vor diesem Hintergrund kommt diesem Kapitel Nāgārjunas zu Akteur, Karma und Tat eine hohe Bedeutung zu.

Karma hat auch im Buddhismus zwei wichtige Bedeutungen: das Handeln selbst, also die Tätigkeit im Augenblick, und das Ergebnis bzw. die Wirkung des Handelns. Diese Wirkung wird häufig Frucht genannt und wirkt in die Zukunft. Ethisch gutes Handeln erzeugt gutes Karma und schlechtes Handeln schlechtes Karma. Das gilt grundsätzlich auch im Buddhismus. Buddha hat das Zusammenwirken aber aus der Starrheit und Unmenschlichkeit der vorherigen Bedeutung befreit. Nach meinem Verständnis lassen sich zudem grundsätzlich zwei verschiedene Dimensionen des Karmas unterscheiden: zum einen das persönliche Karma, das auch wichtiges Element der Wiedergeburtslehre ist. Und zum anderen das soziale Karma, das sich jetzt und später auf andere auswirkt und so in den „Kulturstrom“ der Menschen eingeht.

Als ich im Jahr 2006 mit Nishijima Roshi an diesem Kapitel Nāgārjunas arbeitete, sagte er einen markanten Satz: „Actions are carved in the universe.“ Das heißt, unsere Handlungen wirken weiter im Universum und sind nicht mit unserem individuellen Leben beendet. Unser Handeln verschwindet also nicht einfach in der Welt, sondern setzt sich fort. Das bedeutet, dass ein positiv wirkendes Handeln im Buddhismus zentrale Aufgabe und die klare Verantwortung unseres Lebens ist. Durch ethisch gutes und klares Handeln leisten wir also unseren wichtigen Beitrag für die Welt und die Menschheit. Es liegt auf der Hand, dass Nishijima Roshi damit den wahren Buddhismus als Lehre und Praxis meinte.

Das individuelle Karma der meisten Menschen entzieht sich bei späteren Wiedergeburten weitgehend der Beobachtung, dem rationalen Geist und auch einer erweiterten Vernunft. So glaubte Nishijima Roshi nicht an die Wiedergeburt. Häufig gleitet der Glaube an die Wiedergeburt in grandiose Wunschvorstellungen, Ängste und starre Doktrinen ab. In ähnlicher Weise ist die Erinnerung an frühere Leben sicher für die meisten von uns eher dunkel und ein Geheimnis, eine Illusion oder vielleicht eine Ahnung. Gautama Buddha und Nāgārjuna haben daher davor gewarnt, sich zu sehr von Gedanken, Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten über das vergangene und das zukünftige Leben gefangen nehmen zu lassen. Wir sollten uns ganz dem jetzigen überschaubaren Leben widmen, zum Beispiel den Achtfachen Pfad gehen und den buddhistischen Gelöbnissen folgen.

Das soziale Karma ist für jeden Menschen in diesem Leben zu erkennen und einzuschätzen, indem er sich beispielsweise die folgenden Fragen stellt: Welche Auswirkungen hat mein jetziges Handeln auf die Menschen, die mir nahestehen und mit denen ich zu tun habe? Sind meine Handlungen nützlich, weiterführend und konstruktiv für andere? Oder hemmen, belasten oder verletzen sie die anderen? Ist mein Handeln auf Macht ausgerichtet und unterdrückt sogar die betroffenen Menschen? Oder kurz: Wie weit werde ich durch Gier, Hass und Verblendung gesteuert, sei es bewusst oder unbewusst? Solche Fragen und deren Beantwortung sind in der Tat ziemlich komplex. Sie sind aber dennoch einfacher zu analysieren und zu beantworten als Fragen nach den wirklichen Fakten der früheren Leben und der zukünftigen Wiedergeburten. Der Zusammenhang zwischen Handeln und Karma kann also direkt hier und jetzt durch Beobachtung, Selbstreflexion und Achtsamkeit, durch Dialog und Rückkopplung recht gut verstanden werden. Die ethische Selbststeuerung wird dadurch und bei unseren Weiterentwicklungen zunehmend besser in unser gesamtes Leben integriert.

Nishijima Roshi unterstreicht, dass Nirvāna nach Nāgārjuna die Befreiung von Ideologien und materiellen Abhängigkeiten wie Gier und Habsucht bedeutet, auch und gerade in diesem Leben. Und diese Befreiung sei unauflösbar mit heilsamem Handeln verbunden, denn Denken und ein isolierter Geist würden allein überhaupt nicht ausreichen. Die in der westlichen Welt verbreiteten philosophischen Hauptströmungen des Idealismus und Materialismus seien zwar weit entwickelt, aber einseitig. Sie seien daher wenig geeignet, um das wirkliche Leben philosophisch und pädagogisch angemessen begreifen und durch Selbststeuerung ein gutes Leben führen zu können. Eine Philosophie des Handelns und der Bewegung sei im Westen nur in Ansätzen vorhanden, obgleich Aktivität und Handeln einen so hohen Stellenwert in der westlichen Kultur hätten. Denn gerade Naturwissenschaft und Technik sind von Veränderungen geprägt. „Durch die genaue Untersuchung der Theorie und Praxis des Handelns kann der Buddhismus daher für den Westen erhebliche realistische Verbesserungen der Lebensverhältnisse erbringen“, fasst Nishijima Roshi zusammen.

Nāgārjuna untersucht im folgenden Vers die Zeitlichkeit des Karmas:

 

Vers 17.6

(Wenn angenommen wird,) dass das Karma bis zum Zeitpunkt der Reife (der Frucht) bestehen bliebe, würde auch dieses Handeln unverändert in die Ewigkeit gehen.

Wenn (das Handeln total) beendet ist, fragt sich, welche Frucht es erzeugen wird, wenn es als etwas Existierendes zur Ruhe gekommen ist?

 

Nāgārjuna analysiert hier Tat und Handlung genauer, besonders in Bezug auf das doktrinäre Verständnis, dass die Tat und das Karma isolierte unveränderliche Entitäten seien. Sie würden dann entweder unverändert bis in die Ewigkeit existieren oder total aufhören zu existieren. Er untersucht also die Doktrinen von totaler Dauerhaftigkeit und Identität oder von völligem Auflösen zum Nichts und totaler Differenz. Beides sind unwirkliche Extreme. Aber das Grundproblem des Karmas und der eigenen Verantwortung darf nicht bagatellisiert werden, denn ohne Zweifel wirkt unser Handeln fort in die Zukunft, und die Folgen sind nicht plötzlich ausgelöscht. Das wäre eine Illusion und besonders im Hinblick auf unmoralisches Handeln verantwortungslos. Umgekehrt kann es keine Wirkung des Handelns in die Ewigkeit der Zukunft geben. Nāgārjuna destruiert das simple Verständnis dieser beiden Extreme, um damit ein naives Verständnis von Handeln, Karma, Ergebnis und Frucht zu falsifizieren. Das heißt, er destruiert die unzutreffende Doktrin der Substantialisten.

Nishijima Roshi bezeichnet solche Doktrinen schlicht als „absurd“. Es macht also keinen Sinn, dass die Tat oder das Karma wie eine dauerhafte unveränderte Entität bestehen bleiben, bis sie zum Beispiel bei der Wiedergeburt „reifen“ und für das folgende Leben dominieren. Es mag sein, dass der Begriff Frucht für das Karma zu diesem Fehlschluss verführt. Genauso unsinnig ist es, dass eine Tat total verschwindet, bevor die Wirkung erzeugt wird, weil dann überhaupt keine Wirkung oder Frucht entstehen könnte.

Nishijima Roshi ergänzt aus zen-buddhistischer Sicht: „Im Buddhismus ist der gegenwärtige Augenblick die wahre Zeit, in der das Handeln als Wirklichkeit stattfindet. Die übliche Vorstellung einer linearen Zeit als angebliche Wirklichkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft muss verlassen werden, um zur Wirklichkeit zu gelangen. Wirklichkeit und Augenblick sind ein Ganzes! Handeln ist dann in der klaren Wirklichkeit, und sie kann mit einem doktrinär denkenden Verstand nicht annäherungsweise oder gar vollständig erfasst werden. Ergebnisse des Handelns sind darüber hinaus Bewertungen, die voraussetzen, dass man Vergleiche zwischen verschiedenen Zeitpunkten gemäß der linearen Zeit durchführt. Die Bewertungen der Ergebnisse sind keine (direkte) Wirklichkeit. Daher ist das Konzept der Wirklichkeit von Ergebnissen (als unveränderliche Substanzen) absurd.“

 

Vers 17.8

Und weil aus dem Samen eine Serie entsteht, aus dessen Fortsetzung die Frucht erwächst, kommt zuerst der Samen und dann die Frucht.

Die Frucht ist nicht total getrennt und abgeschnitten vom Samen, aber sie dauert auch nicht unverändert und ewig an.

 

Nāgārjuna gibt hier die einfache Beobachtung wieder, dass beim Übergang vom Samen über den Keimling zur Frucht beide weder vollständig verschieden noch vollständig gleich sind. Dies ist typisch für prozesshafte Entwicklungen mit den entsprechenden Veränderungen. Es geht um die Prozesshaftigkeit und deren Steuerung in unserem Leben. Unheilsame Steuerungen entstehen bekanntlich durch die buddhistischen Gifte Gier, Hass und Verblendung. Dabei sind die Handlungsimpulse nach der buddhistischen Lehre durch die formenden Kräfte und Prägungen des Menschen maßgeblich beeinflusst.

Nishijima Roshi betont im gleichen Sinn wie Nāgārjuna: „Die Vorstellung der Ewigkeit ist jedenfalls unwirklich. Ergebnisse kann es nur dann geben, wenn man eine Kontinuität in der Zeit voraussetzt, der Samen wird dann als Anfang einer derartigen Kontinuität gesehen.“

 

Vers 17.22

Wenn Handlung und Karma wegen ihrer Eigen-Substanz unverändert existieren würden, dann würden sie ohne Zweifel beständig und ewig existieren.

Und die Handlung würde ausgeführt, ohne dass gehandelt wurde, also ohne Kausalität. Denn etwas Beständiges wird nicht ausgeführt und handelt nicht.

 

Nāgārjuna weist nach, dass die doktrinäre Aussage der Substantialisten absurd und zudem in sich widersprüchlich ist. Er vertieft die Analyse, dass eine Tat oder das Handeln, also das Karma, veränderlich ist und keine unveränderliche Eigen-Substanz hat. Sie dauern trotzdem unzerstörbar an, sonst wäre eine Tat statisch und hätte keine Verursachung. Das Handeln wäre dann in immer derselben Form unveränderlich und damit ewig. Es könnte aber auch nicht entstanden sein, weil es ja bereits aus der unendlichen Vergangenheit als Substanz existiert hätte; es wäre also nicht „gemacht“, nicht entstanden und nicht verursacht. Eine solche Charakterisierung ist aber für das Handeln total unsinnig, weil Handeln ja gerade als sich verändernder Prozess in der Zeit ausgeführt wird.

Nishijima Roshi arbeitet den fundamentalen Unterschied zwischen einer vorgestellten, nur gedachten Tat und dem wirklichen Handeln im Augenblick heraus: „Wenn eine Handlung nicht wirklich vollzogen wird, sondern nur subjektiv in unserer Vorstellung da ist, scheint sie ewig zu sein. Die Vorstellung der Ewigkeit entsteht vor allem bei Menschen mit idealistischer Lebensphilosophie. Unsere Vorstellungen erscheinen den Menschen dabei ewig und unveränderlich zu sein. Instabilität und Fragilität sind im Gegensatz dazu meist mit einer materialistischen Lebensphilosophie verbunden. Wirkliches Handeln hat Wirkungen, die sich in der Welt immer weiter fortsetzen.“

In diesem Kapitel des MMK geht es nicht zuletzt um die schwierige Frage, ob das Karma ewig und unveränderlich ist. Eine solche Unveränderlichkeit wäre allerdings mit dem Buddhismus der Veränderlichkeit und des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung nicht vereinbar. Karma ist kein Ding, keine Entität, keine Substanz und keine Essenz. Karma verschwindet nicht spurlos, löst sich nicht von selbst auf und wird nicht zu einem Nichts. Die doktrinäre falsche Lehre über Karma, Tat, Akteur und Frucht, die von unveränderlichen Substanzen ausgeht, gleicht laut Nāgārjuna einem flimmernden verführerischen Lichtstrahl und ist ein illusionärer Traum, der immer neue Illusionen und Verwirrungen erzeugt. Auch im Hinblick auf das Karma beschreibt der Substantialismus also keine Wirklichkeit in der Welt. Nāgārjuna fasst zusammen:

 

Vers 17.32

So hat (beim Substantialismus) auch der Akteur die Gestalt eines künstlich Geschaffenen. Und seine Tat ist eine andere künstlich erzeugte Kreation.

Das Ganze ist wie etwas künstlich Geschaffenes, das durch etwas anderes künstlich hergestellt wurde.

 

Er resümiert, dass bei der untersuchten Doktrin auch der Akteur nicht wirklich lebt, sondern eine durch ein Dogma künstlich geschaffene Figur ist. Seine Taten gibt es dann auch nicht als Realität, sie sind Fiktionen im verwirrten Geist. Dadurch ergibt sich eine gefährliche, nicht reale Scheinwelt. Nishijima Roshi sagt hierzu klipp und klar, dass Handeln etwas fundamental anderes ist als Ideen über das Handeln in unserem Geist. Es gehe dabei um das Hier und Jetzt und auch nicht primär darum, welche Dinge wir in der Vergangenheit vielleicht erzeugt haben. „Die Gegenwart ist wirkliches Handeln, und dies ist die Wirklichkeit des Universums“, hält er fest. Laut buddhistischer Überlieferung ist es notwendig, dass wir eine intuitive ganzheitliche Weisheit entwickeln und entsprechende Erfahrungen machen, wenn wir Klarheit über Karma, Akteur und Handlung bekommen wollen.

Nāgārjuna zeigt auf, dass auch die buddhistische Lehre in seiner Zeit zum Teil in Wortgläubigkeit, Erstarrung und naivem substantialistischem Denken gefangen war. Es war dringend erforderlich, einen Ausweg zu finden. Dieser besteht darin, das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, zugrunde zu legen, wie er bereits in der Präambel deutlich macht.

 

Vers 17.33

(Die von der Substanz-Doktrin angenommenen) Plagen, Taten, Körper, Akteure und Früchte haben die Gestalt einer Stadt von (fiktiven) Gandharven-Wesen, ähnlich flimmernder Irrlichter wie in einem Traum.

 

Die in diesem Kapitel dargestellte und destruierte Doktrin von Karma, Tat, Akteur und Frucht als isolierte unveränderliche fiktive Substanzen vergleicht Nāgārjuna in diesem Vers mit der legendären, aber total illusorischen Stadt der Gandharven-Wesen.



[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 243ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 156ff.