Sonntag, 9. Januar 2022

Die buddhistischen Elemente Festes, Flüssiges, Luftartiges, Heißes sowie Raum und Bewusstsein, MMK, Kap. 5:

 

Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text

Buddha hatte in recht klarer Weise die vier materiellen Elemente des Festen bzw. Erdartigen, des Flüssigen, des Luftartigen und des Heißen, also des Feuerartigen, nicht zuletzt für den menschlichen Körper gelehrt. Seine gesamte Lehre und den Weg der Befreiung baute er mit erstaunlicher Stringenz überzeugend auf. Er behandelte die menschlichen Gefühle, den Geist, die Hemmnisse auf dem Weg, die Wahrnehmungsfelder des Menschen (z.B. das Sehen) sowie die Weiterentwicklung und Befreiung mithilfe der Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades.

Buddhas revolutionierende Lehre fußt also nicht zuletzt auf dem klaren Verständnis des materiellen Anteils unseres Körpers und der Welt, denn ohne eine materielle Grundlage können wir nicht leben. Eine esoterische Abwertung oder Leugnung des Materiellen führt unweigerlich in illusionäre Scheinwelten. In solchen metaphysischen Welten kann es keine wahre Freude geben, der Weg führt in das Leiden. Im Achtfachen Pfad wird die Ganzheit und Wechselwirkung aller menschlichen Bereiche einschließlich des Materiellen präzisiert und wirkungsvoll für die Lebenspraxis beschrieben. Das ist die buddhistische Lehre ohne geistige, psychische und materielle Verwirrungen. Und dabei gibt es keine statischen unveränderlichen Ur-Substanzen, die angeblich erst durch hinzukommende Merkmale und Charakteristika sichtbar werden.

In den auf Buddha folgenden Jahrhunderten wurde die vorbuddhistische Philosophie der Ur-Substanzen und Ur-Wesen allerdings wieder neu belebt. Gleichzeitig wurden die Elemente „Raum“ und „Bewusstsein“ zu den Elementen hinzugefügt, und teilweise wurden dem Raum sogar ganz neue metaphysische Qualitäten wie die des Nirvāna zugesprochen.

In diesem fünften Kapitel des MMK destruiert Nāgārjuna derartige Überdehnungen des Buddhismus. Im Hinblick auf den Raum argumentiert er dabei wie folgt: Es ist kein „reiner“ Raum ohne Merkmale zu finden, zum Beispiel ohne Gegenstände und Bewegungen. Der Raum kann nicht vor seinen Merkmalen als „Ur-Substanz“ existieren. Was für den Raum gilt, ist auch für alles andere auf der Welt richtig, also die Dinge und Phänomene, die Dharmas: Ewige unveränderliche und isolierte Ur-Substanzen oder Ur-Identitäten des Materiellen gibt es nicht. Wer glaubt, dass solche Substanzen und ihre Merkmale wirklich und unverändert existieren, kann das Materielle und Raumhafte unserer Welt überhaupt nicht erkennen. Die duale Sicht von Existenz und Nicht-Existenz ist eine dramatische Sackgasse des Lebens!

 

Vers 5.8

Die Menschen, die einen schwachen Verstand haben und die Zustände „es existiert“ oder „es existiert nicht“ als das Seiende der Wirklichkeit sehen, diese sehen nicht das beglückende Aufhören des materiell und absolut zu Sehenden.

 

Der Befreiungs- und Erlösungsweg, den Nāgārjuna als das angenehme Aufhören und Befrieden bezeichnet, wird unmöglich gemacht, wenn man an der doktrinären Vorstellung von materiellen Entitäten der Elemente festhält und an deren Pseudo-Substanz glaubt. Er sagt sogar, dass solche Menschen eine geringe Vernunft und einen schwachen Verstand haben, also nicht pragmatisch, vernünftig und richtig denken können. Denn schon durch die Anwendung der reinen Vernunft könne man der Argumentation Buddhas folgen. Es bedarf dafür auf keinen Fall der von vielen so sehr gewünschten, aber unerreichbaren und illusionären Allwissenheit. Nāgārjuna geht es um das klare, einfache und unverstellte Sehen und Wahrnehmen. Dabei müssen die Extreme „es existiert“ oder „es existiert nicht“ unbedingt vermieden werden und zur Ruhe kommen. Mit der Formulierung des angenehmen oder „beglückenden Aufhörens“ knüpft er an die Präambel an.

Nishijima Roshi sagt dazu: „Wir können den wirklichen Raum, so wie er ist, erfahren und erleben, wenn die objektiven Merkmale und die subjektiven Vorstellungen eine Ganzheit bilden. Bei einer Abspaltung der materiellen Dimension vom Inhalt können wir also die Wirklichkeit und Wahrheit überhaupt nicht erfahren und nicht erkennen.“ Zudem lässt sich die räumliche Dimension von den Objekten des Hier und Jetzt gar nicht trennen, sonst gäbe es überhaupt keine Wirklichkeit, und alles würde sich in imaginäre Scheinwelten auflösen – eine Befreiung zur Klarheit im eigenen Leben ist dann ausgeschlossen. Solche Scheinwelten führen zu den falschen extremen Unterscheidungen, dass etwas total existiert oder total nicht existiert. Unsere Sprache bezeichnet dann etwas Nicht-Wirkliches.

Die Annahme einer immer schon vorhandenen „Ur-Substanz“ und ihrer hinzukommenden Merkmale führt also nicht weiter, weder in Bezug auf den Raum noch auf die anderen materiellen Elemente. Um es mit Nāgārjunas Worten auszudrücken: Die Menschen mit einem schwachen Verstand sehen nicht das „beglückende Aufhören“ der doktrinären Scheinobjekte, die sie zu sehen glauben. Damit meint er auch, dass wir die Objekte entmystifizieren sollen, wodurch sie „zur Ruhe kommen“. Das bedeutet reale Wirklichkeit, denn es gibt eine direkte Wechselwirkung mit unserem Körper, mit anderen Menschen und auch mit der beglückenden räumlichen Schönheit der Natur.

Was wären unser Leben und das Naturerlebnis ohne die räumliche Tiefe, Gestalt, Farben und Schönheit? In Asien wurden die Klöster meist in besonders schönen Landschaften erbaut. Die Klosteranlagen sind häufig in wunderbarer Harmonie mit der Landschaft, den Gärten, Bäumen, Teichen und oft künstlerisch angelegten Bächen gestaltet. Es gibt Erleuchtungserlebnisse in und mit der Natur, und es heißt: Wer in der Natur erwacht, fällt nicht mehr zurück. Warum? Die Natur lebt, wie sie lebt. Sie verbreitet keine Ideologien und Doktrinen, sie will uns nicht zu irgendetwas überreden, will uns nichts verkaufen und will uns nicht bei einer politischen Wahl beeinflussen.