Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
Buddha hatte in recht klarer Weise die vier
materiellen Elemente des Festen bzw. Erdartigen, des Flüssigen, des Luftartigen
und des Heißen, also des Feuerartigen, nicht zuletzt für den menschlichen
Körper gelehrt. Seine gesamte Lehre und den Weg der Befreiung baute er mit
erstaunlicher Stringenz überzeugend auf. Er behandelte die menschlichen
Gefühle, den Geist, die Hemmnisse auf dem Weg, die Wahrnehmungsfelder des
Menschen (z.B. das Sehen) sowie die Weiterentwicklung und Befreiung mithilfe
der Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades.
Buddhas revolutionierende Lehre fußt also nicht
zuletzt auf dem klaren Verständnis des materiellen
Anteils unseres Körpers und der Welt, denn ohne eine materielle Grundlage
können wir nicht leben. Eine esoterische Abwertung oder Leugnung des
Materiellen führt unweigerlich in illusionäre Scheinwelten. In solchen
metaphysischen Welten kann es keine wahre Freude geben, der Weg führt in das
Leiden. Im Achtfachen Pfad wird die
Ganzheit und Wechselwirkung aller menschlichen Bereiche einschließlich des
Materiellen präzisiert und wirkungsvoll für die Lebenspraxis beschrieben. Das
ist die buddhistische Lehre ohne geistige, psychische und materielle
Verwirrungen. Und dabei gibt es keine statischen unveränderlichen
Ur-Substanzen, die angeblich erst durch hinzukommende Merkmale und
Charakteristika sichtbar werden.
In den auf Buddha folgenden Jahrhunderten wurde die
vorbuddhistische Philosophie der Ur-Substanzen und Ur-Wesen allerdings wieder
neu belebt. Gleichzeitig wurden die Elemente „Raum“ und „Bewusstsein“ zu den
Elementen hinzugefügt, und teilweise wurden dem Raum sogar ganz neue
metaphysische Qualitäten wie die des Nirvāna zugesprochen.
In diesem fünften Kapitel des MMK destruiert
Nāgārjuna derartige Überdehnungen des Buddhismus. Im Hinblick auf den Raum
argumentiert er dabei wie folgt: Es ist kein „reiner“ Raum ohne Merkmale zu
finden, zum Beispiel ohne Gegenstände und Bewegungen. Der Raum kann nicht vor
seinen Merkmalen als „Ur-Substanz“ existieren. Was für den Raum gilt, ist auch
für alles andere auf der Welt richtig, also die Dinge und Phänomene, die Dharmas:
Ewige unveränderliche und isolierte Ur-Substanzen oder Ur-Identitäten des
Materiellen gibt es nicht. Wer glaubt, dass solche Substanzen und ihre Merkmale
wirklich und unverändert existieren, kann das Materielle und Raumhafte unserer
Welt überhaupt nicht erkennen. Die duale Sicht von Existenz und Nicht-Existenz
ist eine dramatische Sackgasse des Lebens!
Vers 5.8
Die Menschen, die einen schwachen Verstand haben und
die Zustände „es existiert“ oder „es existiert nicht“ als das Seiende der
Wirklichkeit sehen, diese sehen nicht das beglückende
Aufhören des materiell und absolut zu Sehenden.
Der Befreiungs- und Erlösungsweg, den Nāgārjuna als
das angenehme Aufhören und Befrieden bezeichnet, wird unmöglich gemacht, wenn
man an der doktrinären Vorstellung von materiellen Entitäten der Elemente
festhält und an deren Pseudo-Substanz glaubt. Er sagt sogar, dass solche
Menschen eine geringe Vernunft und einen schwachen Verstand haben, also nicht
pragmatisch, vernünftig und richtig denken können. Denn schon durch die
Anwendung der reinen Vernunft könne man der Argumentation Buddhas folgen. Es
bedarf dafür auf keinen Fall der von vielen so sehr gewünschten, aber
unerreichbaren und illusionären Allwissenheit. Nāgārjuna geht es um das klare,
einfache und unverstellte Sehen und Wahrnehmen. Dabei müssen die Extreme „es
existiert“ oder „es existiert nicht“ unbedingt vermieden werden und zur Ruhe
kommen. Mit der Formulierung des angenehmen oder „beglückenden Aufhörens“
knüpft er an die Präambel an.
Nishijima
Roshi sagt dazu: „Wir können den wirklichen Raum, so wie er ist, erfahren und
erleben, wenn die objektiven Merkmale und die subjektiven Vorstellungen eine
Ganzheit bilden. Bei einer Abspaltung der materiellen Dimension vom Inhalt
können wir also die Wirklichkeit und Wahrheit überhaupt nicht erfahren und
nicht erkennen.“ Zudem lässt sich die räumliche Dimension von den Objekten des
Hier und Jetzt gar nicht trennen, sonst gäbe es überhaupt keine Wirklichkeit,
und alles würde sich in imaginäre Scheinwelten auflösen – eine Befreiung zur
Klarheit im eigenen Leben ist dann ausgeschlossen. Solche Scheinwelten führen
zu den falschen extremen Unterscheidungen, dass etwas total existiert oder total nicht existiert. Unsere Sprache
bezeichnet dann etwas Nicht-Wirkliches.
Die
Annahme einer immer schon vorhandenen „Ur-Substanz“ und ihrer hinzukommenden
Merkmale führt also nicht weiter, weder in Bezug auf den Raum noch auf die
anderen materiellen Elemente. Um es mit Nāgārjunas Worten auszudrücken: Die
Menschen mit einem schwachen Verstand sehen nicht das „beglückende Aufhören“
der doktrinären Scheinobjekte, die
sie zu sehen glauben. Damit meint er auch, dass wir die Objekte
entmystifizieren sollen, wodurch sie „zur Ruhe kommen“. Das bedeutet reale
Wirklichkeit, denn es gibt eine direkte Wechselwirkung mit unserem Körper, mit
anderen Menschen und auch mit der beglückenden räumlichen Schönheit der Natur.
Was wären unser Leben und das Naturerlebnis ohne die
räumliche Tiefe, Gestalt, Farben und Schönheit? In Asien wurden die Klöster
meist in besonders schönen Landschaften erbaut. Die Klosteranlagen sind häufig
in wunderbarer Harmonie mit der Landschaft, den Gärten, Bäumen, Teichen und oft
künstlerisch angelegten Bächen gestaltet. Es gibt Erleuchtungserlebnisse in und
mit der Natur, und es heißt: Wer in der Natur erwacht, fällt nicht mehr zurück.
Warum? Die Natur lebt, wie sie lebt. Sie verbreitet keine Ideologien und
Doktrinen, sie will uns nicht zu irgendetwas überreden, will uns nichts
verkaufen und will uns nicht bei einer politischen Wahl beeinflussen.