In diesem Kapitel
untersucht Nāgārjuna die Doktrin, dass jemand als eine ewige und
unveränderliche Entität bereits vor der Wahrnehmung existiert. Das bedeutet,
dass jemand schon existiert, bevor die Sinnestätigkeiten wie Sehen, Hören,
Fühlen usw. in Funktion sind.[i]
Auch die Sinnesorgane werden dabei als selbstständige Entitäten betrachtet.
Dies war die Vorstellung der vorbuddhistischen Inder in den Upanishaden. Darin
wird ein ewiger Wesenskern des Menschen postuliert, das Ātman-Selbst, das unverändert durch viele Wiedergeburten
wandert und dann jeweils neu die entsprechenden Sinnestätigkeiten ergreift.
Aber auch im Buddhismus entwickelten sich ähnliche
Doktrinen, zum Beispiel der Substantialismus der Sarvastivadins. Diese hielten
zwar an Buddhas Lehre fest, dass der Mensch insgesamt veränderlich und ohne ātman
sei, aber sie behaupteten, dass die Bausteine
der Welt und des Menschen,
die Dinge und Phänomene (Dharmas), unveränderlich und ewig seien. Auch die fünf
Komponenten des Menschen, die Skandhas (körperliche Form, Empfindung,
Wahrnehmung, formende Kräfte sowie Handeln und Bewusstsein), und die anderen
Dharmas der Sinnestätigkeiten seien ewig und nicht veränderlich. Das
Grundmodell dieser Doktrin ist letztlich auch, dass der Mensch bei der
Wiedergeburt die verschiedenen spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten in
Form von Entitäten für das jeweilige neue Leben ergreift. Durch ethisch schlechtes Handeln (Karma) erlange er eine
schlechte Wiedergeburt und durch ethisch gutes Handeln entsprechend eine gute
Wiedergeburt.
Diese Doktrin war verbunden mit dem Glauben an eine unveränderliche Substanz (svabhāva) der Bausteine, Dharmas, die
mit unseren Sinnesorganen nicht wahrzunehmen, also unsichtbar sei. Demnach wäre
ein solcher substantialistischer Kern der Dinge und Phänomene schon vorher da,
und erst danach würden die jeweiligen Eigenschaften und Fähigkeiten des Sehens,
Hörens, Fühlens usw. hinzukommen.
Der wahre Buddhismus lehnt den Glauben an einen
unveränderlichen ātman oder eine ewige Substanz jedoch ab und bietet gerade
keine scheinbar einfache Lehre für die Wiedergeburt und das „Ergreifen“ der
Wahrnehmung an. Dementsprechend kritisiert Nāgārjuna die substantialistische
Doktrin der Dharmas ganz entschieden und destruiert sie in diesem Kapitel mit
philosophischer Präzision, indem er die inneren Widersprüche deutlich aufzeigt.
Dabei untersucht er, ob es nach der authentischen buddhistischen Lehre möglich
ist, dass ein irgendwie geartetes unabhängiges
substantialistisches Dharma oder auch ein Selbst von den wichtigen
Sinnesfunktionen getrennt existieren kann, um sich dann auf irgendeine metaphysische Weise mit ihnen zu
verbinden.
Ohne Frage haben Menschen schon immer die Sehnsucht nach einem
unveränderlichen, ewigen Wesenskern gehabt, der von Natur aus eigentlich
rein, unbefleckt und möglichst unveränderlich ist, allerdings aber im Lauf des
Lebens durch falsches Denken und Handeln „Befleckungen“ aufweist. Was sagt der
Buddhismus dazu?
Solche Doktrinen stimmen mit Buddhas Lehre nicht überein. Die Skandhas
des Menschen entwickeln sich nach den bisherigen Untersuchungen Nāgārjunas in
einem zeitlichen interaktiven Prozess wechselwirkend und dynamisch vernetzt.
Sie sind damit keine unveränderlichen und unteilbaren Bausteine. Buddha und Nāgārjuna
nennen diese Vernetzung pratitya
samutpada, „gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung“. Wir dürfen zudem
nicht den Fehler machen, uns auf Extreme zu fixieren, zum Beispiel dass „etwas
total existiert“ oder „etwas total nicht existiert“. Solche Extreme gehören zu
einer Kategorie von metaphysischen Aussagen im Sinne eines logischen exklusiven
„Entweder-Oder“. Beide extreme Ansichten lassen sich in der Wirklichkeit nicht
finden und sind gedankliche und konzeptuelle Übertreibungen, mit denen man den
pragmatischen Mittleren Weg verfehlt. Vereinfacht gesagt, handelt es sich dabei
um Täuschungen. Dies trifft auch auf die Doktrin vom Selbst und den
Sinnesfunktionen als Entitäten zu. Solche Ideologien sind gefährliche Ursachen
des menschlichen Leidens und wurden von Buddha im Sūtta (in Sanskrit Sūtra) für
Kaccāna präzise destruiert. Nāgārjuna sagt dazu:
Vers 9.1
Einige sagen sogar: „Jemand existiert, bevor für ihn das Sehen, das Hören usw.
und auch das Empfinden usw. entstehen und werden.“
Hier bezieht
er sich auf die Upanishaden, dass jemand als Wesen schon existiert, bevor er
wahrnimmt, also sieht, hört, fühlt usw. Die Sinneswahrnehmungen und
Empfindungen müssten demnach später hinzukommen. Im Kern ist dies ein Modell
von substanzhaften und voneinander unabhängigen Entitäten der Welt, also des
Menschen sowie der Dinge und Phänomene (Dharmas). Der ātman wird im Vers als „jemand“ bezeichnet. Dieser unveränderliche
Wesenskern ergreift nach dieser Vorstellung die Wahrnehmungseigenschaften, also
die Fähigkeit, Objekte zu identifizieren, einzuordnen und mit dem Erleben zu
kombinieren.
Die Doktrin von unveränderlichen Entitäten für Menschen und Wahrnehmungen
beinhaltet auch die Behauptung, dass man mit diesen Entitäten die Vergangenheit vollständig verstehen und
wissen könne, wann man das höchste absolute Wissen erlangt habe. Damit besteht
eine enge Verbindung zur doktrinären Behauptung der so intensiv ersehnten Allwissenheit der vorbuddhistischen
Religion. Auch heute gibt es noch in einigen Linien des Mahāyāna den Glauben an
die mögliche Allwissenheit Buddhas und vollkommen erleuchteter Menschen. Zwar
misst auch Buddha dem möglichst realistischen Erkennen der Vergangenheit eine
hohe Bedeutung für die Bewältigung des Lebens und den Befreiungsprozess bei,
aber es handelt sich dabei nicht um Allwissenheit. Ich teile diese
Einschätzung.
Nāgārjuna stellt einer solchen Doktrin die
beobachtbare und realitätsbezogene dynamische Wechselwirkung entgegen. Er
verwendet die Methode der Phänomenologie für das Leben und die Wirklichkeit und
die Methode der logischen Schlussfolgerung für die Destruktion.
Nāgārjuna führt eine klare Destruierung in den Versen dieses Kapitels
durch. Er zeigt auf, dass es niemanden gibt, der unabhängig von seinen eigenen
Wahrnehmungen und Komponenten (Skandhas) existiert. Dies gilt sowohl für die
Vergangenheit als auch für die Gegenwart und Zukunft. Die Trennung und
Unabhängigkeit der Sinneswahrnehmungen sowie der Empfindungen in Form von
Entitäten und einem ebenfalls unabhängigen Selbst erweist sich als ein Denk-
und Glaubenskonstrukt, ein Fantasiegebilde und eine realitätsferne unbrauchbare
Doktrin. Sie kann das Werden und Entstehen sowie die Wechselwirkung der
Wahrnehmungen untereinander und mit dem lebenden Menschen als Prozess nicht
sinnvoll erfassen. Die Befreiung und Emanzipation der Sinneswahrnehmungen von
falschen und unheilsamen Konzepten, Ideologien und Dogmen sind von großer
Bedeutung. Die Wirklichkeit der Sinneswahrnehmung muss ohne Ideologien erfahren
und gedacht werden.
Vers 9.10
Das substantiale Selbst wird in diesen Elementen
nicht gefunden, aus denen sich das Sehen, das Hören usw. und auch das Empfinden
entwickeln.
Die
materiellen Elemente Erde, Wasser, Luft usw. kann man als Basis der Wahrnehmungen
verstehen. Die Sinnesorgane mit ihren Funktionen sind u.a. aus den materiellen
Elementen aufgebaut. Ein substantialistisches Entitäts-Selbst ist laut
Nāgārjuna in den materiellen Elementen nicht zu finden, denn diese sind ebenfalls keine unveränderlichen Entitäten, sondern
wechselwirkend miteinander vernetzt. Eine Existenz von jeweils voneinander
unabhängigen, nur fälschlich gedachten Entitäten kann es deshalb nicht geben.
[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 188ff.
Nagarjuna: Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s
Mulamadhyamakakarika (Translation: Gudo Wafu Nishijima), S. 95ff.