Ganz neue Übersetzung aus dem Ur-Text
Nāgārjuna betont die wechselseitige Vernetzung der fünf Komponenten des Menschen, der Skandhas, und gleichzeitig die unauflösbare Verbindung mit den jeweiligen Grundlagen, zum Beispiel den Elementen. Bei der Form sind dies die entsprechenden physikalischen, materiellen Elemente des Körpers.
Vers 4.4
Wenn die Form isoliert
existieren würde, ist die Grundlage
der Form nicht möglich.
Wenn die Form überhaupt nicht existieren würde, wäre die Grundlage der Form nicht möglich.“
Es ist sinnlos zu sagen, dass es eine Form gibt, wenn
keine Grundlage, beispielsweise die physikalischen Elemente, vorhanden ist.
Dasselbe gilt umgekehrt: Es kann keine Grundlage geben, wenn die Form nicht
existiert, da beide zusammenhängen und in Wechselwirkung sind. Beide bedingen
sich gegenseitig: Keine Form ohne Grundlage und keine Grundlage ohne Form.
Gleichzeitig gibt es die Verbindungen und
Wechselwirkungen mit den anderen Komponenten, wie den Gefühlen, dem Denken, dem
Bewusstsein und den formenden Kräften. Nāgārjuna beweist, dass man zu
unsinnigen Schlussfolgerungen kommt, wenn man die Skandhas als metaphysische,
also unveränderliche Dharmas versteht. Dann wären vor allem die Lehren Buddhas
zur Befreiung nicht mehr gültig.
Nach der heutigen Gehirnforschung ist unbestritten,
dass Denken und Gefühle wechselwirkend und neuronal gekoppelt sind. Dies gilt
besonders für die Strukturen, Prozesse und Informationen des Gehirns, also die
Nervenzellen, Nervenfasern und synaptischen Verbindungen. Diese sind wiederum
mit dem Sehsystem, der Motorik und vielen anderen Teilsystemen vernetzt.
Dadurch sind sie ausgesprochen leistungsfähig und von größter Bedeutung für den
Weg der Befreiung und Emanzipation. Denn je leistungsfähiger diese
Interaktionen sind, desto intensiver sind die vernetzten Wechselwirkungen und
desto besser verlaufen die Lernprozesse. Zwischen diesen modernen Erkenntnissen
sowie der Praxis und Philosophie Buddhas und Nāgārjunas besteht eine
erstaunliche Übereinstimmung. Weder das Selbst noch die Skandhas der Dharmas sind
als isolierte Entitäten oder Substanzen zu verstehen, sondern als
wechselwirkende und sich dauernd verändernden Module.
Es ist denkbar, dass Nāgārjuna mit diesem Kapitel
auch den allzu naiven volksbuddhistischen Vorstellungen von der Wiedergeburt
von Entitäten einen Riegel vorschieben wollte. Denn es ist eindeutig, dass
weder eines der fünf Skandhas noch deren Kombination unverändert wiedergeboren
werden kann, da die entsprechenden materiellen Grundlagen unlösbar mit ihnen
verbunden sind. Manchmal wird auch das besondere Skandha der formenden Kräfte (samskāra) mit den Tatabsichten am Ende
gleichgesetzt, die dann die Wiedergeburt und die neue Persönlichkeit bestimmen
sollen. Eine solche Argumentation wird von Nāgārjuna nicht bestätigt und auch
nicht erwähnt. Auch das Bewusstsein als isoliertes Skandha könne nicht einfach
wiedergeboren werden. Nāgārjuna sagt beispielhaft für die Form als Skandha:
Vers 4.5
Auch die Form
ist ohne eine Grundlage (also isoliert) nicht möglich.
Deswegen sollte man nicht willkürlich irgendwelche
Gedankenkonstrukte doktrinär erzeugen, die angeblich in die Form gegangen sind.
Durch die Wechselwirkung von Form und Grundlage
ergibt sich eine unauflösbare Beziehung zwischen beiden. Es lassen sich daher
nicht willkürlich künstliche Unterscheidungen bei der Form finden, zum Beispiel
durch Ideologien und Doktrinen, die keinen direkten Bezug zur Grundlage haben,
etwa zu den materiellen Elementen der Welt. Solche Unterscheidungen sind
demnach metaphysische Spekulationen des Geistes und in der Wirklichkeit der
Form nicht zu beobachten.
Nishijima Roshi sagt zu diesem Kapitel des MMK, dass
nach buddhistischer Lehre „das Handeln im Augenblick von zentraler Bedeutung
(ist), denn es ist die Grundlage unseres Lebens und Überlebens. Denken und
Erinnern können wir daher eher als Hilfsfunktionen des Lebens bezeichnen. Das
Bewusstsein ergibt sich vor allem aus der Kombination von Denken und
Wahrnehmung.“ Man dürfe die Skandhas allerdings nicht als getrennte und
isolierte Bereiche des Lebens verstehen, sondern sie bilden nach der
buddhistischen Lehre und Praxis ein umfassendes zusammenwirkendes Ganzes. Auf
der Ebene der buddhistischen Wirklichkeit könne es daher keine Trennung
zwischen Körper, Gefühlen, Geist usw. geben. Das sei genau die Lehre des
Mittleren Weges. „Wenn Form und Inhalt (fälschlich) getrennt sind, verengt sich
die Sichtweise des Menschen auf die Form. Dadurch entsteht das materialistische
Weltbild, das immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbildet und meist zur
Verödung des spirituellen und psychischen Lebens führt“, erläutert Nishijima
Roshi. Außerdem betont er: „Fehlerhafte Ideen und Doktrinen führen zu falschem
und oft unmoralischem Handeln. Insofern haben derartige Ideen eine sehr
begrenzte Realität, die von der wahren Wirklichkeit stark abweicht, und sie
sind eine große Gefahr für die Menschen. Dann kann man nicht mehr klar die
Zusammenhänge und Folgen erkennen, und sogar materielle Fakten werden
ideologisch verzerrt wahrgenommen.“
Die beiden letzten Verse 4.8 und 4.9 beziehen sich
meines Erachtens auf die Destruktion des Arguments eines Kontrahenten, der die
von Nāgārjuna eingebrachte Leerheit nicht richtig versteht. Er verwechselt sie
mit dem Nichts, dem Nihilismus und der Nicht-Existenz. Das ergibt ohne Zweifel
eine Blockade auf dem buddhistischen Weg.
Vers 4.9
Wer bei einer Auseinandersetzung mit der Leerheit
argumentiert und selbst die Doktrin der isolierten Substanz der skāndhas vertritt, hat die obige
Wechselwirkung in Wahrheit gar nicht behandelt und daher auch nicht abgewiesen.
Er muss seine eigene Doktrin beweisen und stützt in Wirklichkeit die obige
überzeugende Argumentation.
Nāgārjuna kritisiert hier den Kontrahenten, der
das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung ablehnt und dabei das Argument der
Leerheit verwendet. Die wahre Leerheit weist der Kontrahent dabei aber
in Wirklichkeit nicht ab, denn diese ist das Gleiche wie das gemeinsame
Entstehen in Wechselwirkung. Daher muss der Kontrahent Nāgārjunas Belehrung
voll akzeptieren.
In diesem Vers geht es
darum, dass der Kontrahent durch den falsch
verstandenen Begriff der Leerheit
etwas als richtig beweisen will, während Nāgārjuna seinerseits positiv seine wahre Argumentation erklärt
und das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung und damit die Leerheit als
richtig beweist. Auf diese Weise behauptet der Kontrahent eine metaphysische
substantialistische Scheinwahrheit von
Ideologien und Extremen. Das ist nach Buddha und Nāgārjuna ein fundamentaler
Irrtum.
Die Leerheit wäre auch
für den Kontrahenten ein Weg zur Klarheit und Befreiung. Allerdings müsste er
dann der vorausgegangenen Beweisführung Nāgārjunas folgen. Nur mit dessen
Verständnis der Skandhas und deren Wechselwirkung ist es möglich, die
metaphysische Unwissenheit zu überwinden. Wer davon abweicht oder zum Beispiel
behauptet, die Leerheit sei das Nichts, geht in die Irre; er löst grundsätzlich
alles Reale, alle Differenzierung und die Wirklichkeit der Form dieser Welt
auf.
Nishijima Roshi versteht die Leerheit als
Gleichgewicht. Ich erinnere mich, dass er selten den Begriff Leerheit
verwendete, denn „Gleichgewicht“ lässt die Doktrinen verschwinden, im Sinne von
„Körper und Geist fallen lassen“ bei der Zazen-Praxis. Und in aller Klarheit
stellt er fest: „Wer im Gleichgewicht ist, kann seine Aufmerksamkeit
aufrechterhalten und gefestigt über alles reden, ohne in Extreme zu verfallen.“
Das ist nicht anderes als die Bedeutung der Leerheit. Dann könne man mit
größter Klarheit wahrnehmen, wirklich sehen und die vernetzten Prozesse, die
man nicht ändern oder beeinflussen kann, in ruhiger, unaufgeregter Haltung
akzeptieren. Dann lasse man sich nicht aus der Ruhe bringen und sei ohne Panik
oder Euphorie auf dem Mittleren Weg. Wer selbst im Gleichgewicht sei, begehe
keine gravierenden Fehler, so Nishijima. Wenn man anderen einen Rat erteile und
auf wahrgenommene Fehler hinweise, müsse das frei von Egoismus,
unkontrolliertem Narzissmus und grandioser Selbstdarstellung geschehen. Diesen
Zustand bezeichnet Nāgārjuna als Leerheit (shūnyatā).
Indem Nāgārjuna in diesem vierten Kapitel die Bedeutung der fünf
Komponenten des Menschen (Skandhas)
herausarbeitet, hat er gleichzeitig die Grundlage für die weitere Analyse der
Dinge und Phänomene (Dharmas) sowie
des ganzen Menschen geschaffen.