In vorbuddhistischer Zeit war das höchste ersehnte Ziel die Unsterblichkeit, die ewige Seligkeit im Nirvāna und endgültige Erlösung von den Leiden und Katastrophen des Lebens. Aber ein solcher illusionärer Glaube hilft nicht bei der Bewältigung der realen Probleme im Hier und Jetzt, sondern führt zu neuen unlösbaren Problemen und Leiden.
Der Buddhismus entwickelte demgegenüber das in dieser Welt realisierbare Leitbild des Buddha oder Tathāgata als höchste Lebensform des
Erwachens bzw. der Erleuchtung. Diese Lebensform kann laut Buddha in diesem
Leben für alle Menschen grundsätzlich verwirklicht werden. Die Begriffe Tathāgata und Buddha
werden im Allgemeinen synonym verwendet. Durch die Erleuchtung und Befreiung
kommen Gier, Hass, Neid, Übelwollen, Hektik, Trägheit usw. zur Ruhe. Dann
können wir ein glückliches, sinnerfülltes und zufriedenes Leben führen. Dann
verschwindet auch die Sehnsucht nach einer zukünftigen Existenz. Wir sind erfüllt
vom Flow, von der Ruhe des Augenblicks sowie unseren Aufgaben und
Verantwortungen in dieser Welt, anstatt sinnlos um uns selbst zu kreisen.
Der Sanskrit-Begriff Tathāgata lässt sich je nach Unterteilung der
Sanskrit-Wortsilben übersetzen als „der so Gekommene“ oder „der so Gegangene“.
In der Literatur lautet die Übersetzung meist „der so Gegangene“. Dabei werden
verschiedene Fragen erörtert: ob der so gegangene Buddha noch existiert, wo er
existiert und welche Bedeutung er für die jetzt Lebenden in dieser Welt hat.
Weiter wird gefragt, ob er nach einigen Zeitaltern auf die Welt zurückkehrt zu
den normalen Menschen, um ihnen zu helfen. Außerdem ist damit der im Mahāyāna
durchaus verbreitete Glaube verbunden, es gebe einen absoluten, vollkommenen
Buddha, der sich von dem historischen Buddha unterscheiden soll, denn dieser
habe auch Fehler gemacht. Aber das könne für einen absoluten Buddha nicht
richtig sein. Der vollkommene Buddha fungiert dabei wie ein absolutes Prinzip.
Die Übersetzung des Begriffs
Tathāgata mit der Formulierung „der so Gegangene“ wirft die Frage auf, wie „der
so Gegangene“ konkret und phänomenologisch verlässlich beschrieben werden kann.
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil ein direktes, einfaches
Fortleben nach dem Tod phänomenologisch kaum zu beobachten ist. In den Ausführungen
der Upanishaden lebte die Überzeugung fort, dass ein metaphysischer gedachter
ātman sich in einer Kette der Wiedergeburten von den Beschmutzungen des Karmas zu
reinigen hatte, um dann in die ewige Seligkeit einzugehen. Buddha hat den
Glauben an ein so verstandenes Karma unverblümt abgelehnt und stattdessen den
direkten Bezug zur Realität des menschlichen Lebens betont. Er hat also die
Übungen des Praxisweges und die zunehmende Befreiung vom Leiden in den
Mittelpunkt gestellt. Er lehrte die Entwicklung und Emanzipation des Werdens
und Entstehens. Dabei legte er den Schwerpunkt ausschließlich auf das
gegenwärtige Leben.
Im zweiten Kapitel des MMK behandelt Nāgārjuna fundamentale Fragen zum Funktionieren
des Gehens, zum gegangenen Weg und zum Menschen, der geht. Danach folgt die
vertiefte Untersuchung des Mittleren Weges. Nun wird im vorliegenden Kapitel 22
anhand des Begriffes Tathāgata dieses Thema von Kapitel 2 wieder aufgegriffen.
Das ist aus meiner Sicht kein Zufall, sondern bewusst von Nāgārjuna so
gestaltet. Es ist eine zentrale Aussage des zweiten Kapitels, dass es unsinnig
ist, einen unveränderlichen Geher zu
behaupten – obwohl dies vom indogermanischen Sanskrit und auch von der deutschen
Sprache so suggeriert wird. Genauso unsinnig ist es, beim Weg von einem unveränderlichen
Gegangenen zu sprechen. Hier
analysiert Nāgārjuna die Veränderung, den Prozess, die Funktion, die Befreiung
und die Emanzipation im menschlichen Lebensgang. Kurz gesagt heißt das, dass
man zu Beginn seines Lebens nicht total durch seine genetische Disposition
determiniert ist, sondern sich auf seinem Lebensweg verändert und entwickelt.
Dabei geht von der zunehmenden Wahrheits- und Realitätserfahrung eine große
steuernde Kraft aus, eine Kraft, die sich fortlaufend und selbstähnlich
entwickelt. Es handelt sich also um einen evolutiven Prozess. Daher hat man
nach der buddhistischen Lehre die reale Chance, sich zu befreien und zu emanzipieren.
Diese Emanzipation geht über die genetischen Begrenzungen der Vererbung hinaus
und baut auf den interaktiven Lernprozessen im Umfeld eines Kindes auf.
Ich schlage deshalb eine umfassendere Interpretation des Sanskrit-Begriffes
Tathāgata vor. Denn es scheint mir naheliegend, dass sowohl die beiden
Bedeutungen „der so Gekommene“ und „der so Gegangene“ angesprochen werden als
auch der überschaubare Lebensbereich in dieser Welt an den realen Orten seines
Handelns in Indien. Der Begriff Tathāgata wäre in diesem Sinne etwa damit zu
umreißen, dass der gesamte Entwicklungsgang seines Lebens bis zur Befreiung
beschrieben wird. Die Übersetzung könnte dann heißen: „der so durch sein
Leben Gegangene“. Damit wäre aus meiner Sicht auch dem Grundsatz Buddhas
entsprochen, sich nicht unnötig mit spekulativen Gedanken über den Anfang und
das Ende des Lebens zu belasten. Vielmehr geht es darum, die Möglichkeiten und
Chancen des Lebens selbst zu sehen, zu entwickeln und die jeweils höchste
Lebensform für sich selbst zu verwirklichen.
Aus der heutigen Psychologie und
Neurowissenschaft wissen wir, dass Menschen, die sich zu viel mit dem eigenen
Tod beschäftigen, eine signifikant kürzere Lebenserwartung haben als andere,
die dies nicht tun. Bei der Angst vor
Alter und Tod ist der Mandelkern im Gehirn aktiviert, und dies führt zur
Schwächung des Immunsystems. Diese wissenschaftlich fundierte Tatsache stimmt
also erstaunlich gut mit den Lehren des Buddhismus überein. Demnach sind auch ausufernde
Spekulationen, was denn mit dem Menschen Buddha nach seinem Tod passiert,
überflüssig und sogar gefährlich. Sie würden sich vermutlich negativ auf die
eigene Lebensführung auswirken. Nāgārjuna sagt zum menschlichen Leben und
dessen Komponenten:
Vers 22.1
Der Tathāgata ist nicht identisch mit den Skandhas,
den Komponenten des Menschen, er ist nicht ein anderer als die Skandhas. Die
Skandhas sind nicht in ihm, er ist nicht in den Skandhas, und er hat nicht die
Skandhas.
Wer ist hier der Tathāgata?
Nāgārjuna knüpft hier an die Doktrin eines
substanzhaften, isolierten, unveränderlichen aber fiktiven Selbst als Existenz
und Entität an, das von den Substantialisten vertreten wird. Der Tathāgata hat
aber kein unveränderliches und ewiges fiktives Substanz-Selbst oder Ātman-Selbst.
Er ist nicht total identisch mit den Skandhas, wenn man diese fälschlich als
substantiale Entitäten versteht. Auch die totale Andersartigkeit oder Differenz
zu den Skandhas kommt nicht infrage. Nāgārjuna hat bereits nachgewiesen, dass
die Skandhas nicht dauerhaft existent sind und gemeinsam in Wechselwirkung
entstehen (pratitya samutpada).
Der Tathāgata ist synonym mit Buddha zu verstehen.
Nāgārjuna legt den Schwerpunkt auf das befreite
Leben Buddhas. Er verschließt sich Spekulationen darüber, was mit ihm nach
dem Tod geschieht und was er ist, wenn er gegangen ist, also dieses Leben
beendet hat. Bei totaler Identität oder totaler Differenz kann es keine
Verbindung und Wechselwirkung mit den Skandhas geben. Daher ist mit diesen
Ansätzen die Frage, wer der Tathāgata eigentlich ist, nicht zu behandeln oder
gar zu beantworten.
Leider neigen viele Glaubensreligionen dazu, genau eine solche
depressive Grundstimmung, Ängste vor dem Tod und dem, was danach folgt, zu
erzeugen. Dies mag die Macht der religiösen Eliten über die Psyche und den
Geist der Untergebenen stärken. Dies gilt wohl auch für den Brahmanismus zur
Zeit Buddhas. Im gleichen Sinne könnte man die Doktrin der Erbsünde des
Christentums interpretieren. Angst vermindert die Intelligenz und vor allem die
Kreativität des Menschen. Emanzipation, Befreiung und Entwicklung hängen im
Gegensatz dazu mit den positiven Kräften von Freude und Glück zusammen.
Die Ängste vor Altern, Krankheit und Tod sind sicher nicht zufällig
zentrale Themen der Vier Edlen Wahrheiten, denn sie verursachen als Ängste und
Verzweiflung unausweichlich Leiden und Schmerzen. So kann der Achtfache Pfad
als praktischer Gang der Befreiung und Emanzipation verstanden werden: Ich
ziehe daher den folgenden Begriff für Tathāgata vor „der so durch das Leben
Gegangene“. Diese Bedeutung wurde nach meinem Verständnis bisher in der
buddhistischen Lehre zu wenig beachtet.
Es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt, der im zweiten Kapitel des
MMK genau untersucht wurde, nämlich das Verständnis des begangenen Weges bzw.
des Begangenen. Dabei destruierte Nāgārjuna ein substanzhaftes Verständnis des
begangenen Weges. So ist mit dem Begriff Tathāgata aus meiner Sicht auch der
von Buddha begangene Weg der Befreiung gemeint.
Nach den Überlieferungen wurde Buddha als ein besonderes, hochbegabtes
Kind in einer Königsfamilie eines kleinen Königreiches geboren. Er erhielt
ausgezeichneten Unterricht in der damaligen Religion und Philosophie, zeigte
große Begabung und Fähigkeiten in Musik und Sport und nahm nicht zuletzt an den
Regierungsgeschäften seines Vaters teil. Er heiratete relativ zeitig und
standesgemäß und hatte einen Sohn. Aber dann wurden seine unbeantworteten
Fragen an die damalige Religion, Philosophie und praktische Lebensführung immer
drängender. Schließlich entschloss er sich, ein Hausloser zu werden und
zunächst zwei der bekanntesten Weisen und Heiligen des damaligen Brahmanismus
aufzusuchen, um fundiert Meditation zu lernen. In relativ kurzer Zeit gelang es
ihm, das Gelehrte selbst zu verwirklichen. Er war jedoch damit nicht zufrieden
und suchte nach weiteren Wegen, um Klarheit und Erleuchtung zu erlangen.
Kalupahana sieht die Ursache für Buddhas Fehlschlag bei der damaligen
Meditation darin, dass im Brahmanismus das absolute universelle Wissen, die Allwissenheit, angestrebt wurde. Buddha
erkannte aber, dass eine solche Allwissenheit nicht von einem Menschen erlangt
werden kann.[i] In der damaligen Philosophie
gab es eine strikte Trennung von ātman-Geist einerseits und Körper andererseits,
sodass Buddha nach seinen vergeblichen Versuchen der geistig-meditativen
Entwicklung zum Extrem der körperlichen Askese überging und diese bis in
Todesnähe praktizierte. Er stellte aber fest, dass auch diese Methode
unbrauchbar war, um tiefe nachhaltige Befreiung zu erlangen, sodass er eigene
Wege suchen musste.
Er wählte dann eine einfache Methode der Meditation, die nach
chinesischer und japanischer Überlieferung dem Zazen im Lotussitz gleich war.
Das heißt, er „ließ Körper und Geist fallen“ und überließ sich in der korrekten
Sitzposition des Lotus dem Hier und Jetzt ohne konkrete oder drängende Ziele,
ohne Gedanken, Vorstellungen und Gefühle. Beim aufgehenden Morgenstern erfuhr
er dann das große umfassende Erwachen und die Erleuchtung. Danach verfeinerte
er seine sehr praktische und therapeutische Lehre zur Überwindung des Leidens,
zur Befreiung und Emanzipation über 40 Jahre lang, bis er mit etwa 80 Jahren
verstarb. Als er aus dem Leben ging, hatte er also die höchste, dem Menschen
mögliche Weisheit und Praktikabilität des Handelns, Denkens und Redens, aber
auch der Gefühle, Planungen und des Erkennens erlangt. Aus meiner Sicht ist es
deshalb sinnvoll, den Sanskrit-Begriff Tathāgata als Bezeichnung für die gesamte Lebensspanne und den ganzen Lebensweg Buddhas zu
verstehen. Auf Deutsch kann man ihn wiedergeben mit der Formulierung „der so
Gekommene und der so Gegangene“.
Es ist eine alte Frage, ob Buddha ein „normaler“
Mensch war, der im Buddhismus durch die fünf Komponenten oder Skandhas gekennzeichnet
ist. Diese Komponenten sind nicht isoliert zu verstehen, sondern wirken
zusammen und sind eben der Mensch. Nāgārjuna untersucht, ob Buddha als
Erwachter und Erleuchteter mit diesen Skandhas identisch ist oder nicht. Sicher
ist es eine vereinfachte dualistische Frage, die nicht mit Ja oder Nein
beantwortet werden kann. Es ist auch wichtig, sich dabei zu vergegenwärtigen,
dass der Buddhismus nicht von der Lehre eines ewigen unvergänglichen ātman als
Kern des Menschen ausgeht. In diesem Fall wäre die Frage in der Tat leicht zu
beantworten, denn innerhalb der fünf Skandhas müsste die ewige Substanz oder
Essenz des ātman in irgendeiner Form enthalten sein und aufgefunden werden
können. Nāgārjuna beginnt mit dieser Frage die Analyse des Tathāgata als der
Erwachte.
Es geht in diesem
wichtigen Kapitel also vor allem um folgende Klärungen: In welchem Verhältnis
steht der Tathāgata oder Buddha zu den fünf Komponenten des Menschen, den
Skandhas? Gibt es eine totale Identität oder Differenz mit den Skandhas? Wenn
man die in der Präambel genannte Wechselwirkung für das Verständnis der
Wirklichkeit voraussetzt und auch auf den Tathāgata bezieht, ist es fraglich,
ob eine substantialistische Doktrin zur Klärung beiträgt. Nāgārjuna stellt
fest, dass der Tathāgata auf jeden Fall menschliche Skandhas umfasst, denn wenn
er sie nicht hätte, müsste er sie sich aneignen, also ergreifen. Aber auch ein
solches Aneignen darf nicht als substantial, verdinglicht und isoliert
verstanden werden, weil das der Wirklichkeit des Lebens widerspricht. Er sagt
zum fiktiven dinghaften Ergreifen:
Vers 22.10
Auf diese Weise sind das Ergreifen und der Ergreifer
insgesamt leer (also real und in Wechselwirkung).
Und wie lässt sich der leere (wirkliche) Tathāgata
aufgrund seiner Leerheit erkennen?
Der
Tathāgata ist nach Nāgārjunas Verständnis immer leer und frei von der
unheilsamen Doktrin der fiktiven substantialen Eigen-Substanz, sonst wäre er
nicht erleuchtet. Tathāgata ist also kein Ergreifer, weil es den in der
Wirklichkeit gar nicht gibt. Oder mit Nāgārjuna anders ausgedrückt: Als nicht
realer Ergreifer gerät er durch sein nicht reales Ergreifen der Skandhas nicht in Abhängigkeit und Unfreiheit.
Das klingt sicher kompliziert, ist aber eine logisch einwandfreie
Schlussfolgerung. Denn sein „leeres Ergreifen“ ist real und frei von Doktrinen
und verwirrten Meinungen und Vorurteilen wie der fiktiven Eigen-Substanz und
des fiktiven ātman. Vereinfacht könnte man sagen: Der Tathāgata ist damit von
gleicher Qualität wie die Leerheit selbst.
Der zweite Teil dieses Verses ist nicht leicht zu verstehen und muss
genauer untersucht werden. Die Frage ist, wie man einen wirklich Erleuchteten,
also einen Tathāgata, erkennen kann. Oder wie es im Original des MMK manchmal
heißt, wie sich der leere Tathāgata äußert, zeigt und zu erkennen ist. Das
falsche Verständnis von Leerheit als das Nichts muss radikal ausgeschlossen
werden. Außerdem haben das Handeln, die Wahrnehmung, das Denken, die Gefühle
usw. des Tathāgata eine signifikant höhere Qualität als bei normalen,
„unerleuchteten“ Menschen. Zentral ist darüber hinaus seine ethische Klarheit
im Denken, Fühlen und Handeln. Er hat also die Qualitäten, die im Buddhismus
auch einem Bodhisattva zugeschrieben werden.
Die zweite Zeile kann so interpretiert werden, dass man die Vorstellung
und Ideologie eines ewigen Wesenkerns,
des ātman, für einen Buddha oder Erleuchteten überhaupt nicht benötigt.
Phänomenologisch erkennt man einen solchen Menschen unmittelbar, nicht zuletzt
im gemeinschaftlichen Handeln. Es geht also nicht um idealistische
Verklärungen, die sich von der Wirklichkeit abgelöst haben, sondern um ganz
konkrete Beobachtung und Erfahrung im Hier und Jetzt. Da Menschen ohnehin nach
meinem Verständnis[ii] unendlich komplex sind, ist
es reine Fiktion und unmöglich, einen realen erleuchteten Wesenskern
herausfinden zu wollen, von dem alles andere abhängen soll. Ähnliches gilt auch
für die Buddha-Natur, wie Meister Dōgen betont.[iii]
Ein solcher Idealismus hat zweifellos für viele eine gewisse Attraktivität, ist
aber leider phänomenologisch nicht zu fassen und muss destruiert werden.
Nishijima Roshi interpretiert diesen Vers ganz kompakt: „Die Situation
im Gleichgewicht erzeugt auf diese Weise die wirkliche Situation der
Sinneswahrnehmung. Und was wahrgenommen wird, ist das Ganze der Welt.“ Er
verwendet also für den Begriff der Leerheit
die reale Situation im Gleichgewicht, die erst eine wirklichkeitsgemäße
Wahrnehmung realisiert. Im Gleichgewicht würden wir die Welt wahrnehmen
„genauso wie sie ist“. In einer solchen Situation wird die Intuition durch den
Zustand des Gleichgewichts erfahren, „und dies ist die wahre Bedeutung der
Verwirklichung und des Tathāgata“, erklärt Nishijima Roshi.
Nāgārjuna sagt über
doktrinäre Verwirrungen Folgendes:
Vers 22.15
Wer den Erwachten, dessen Verirrungen vergangen sind
und der keine Zersplitterungen mehr hat, weiter (doktrinär) verzerrt
(versteht), der sieht den wahren Erwachten nicht.
Solch ein Mensch wird selbst von seinen ausufernden
illusionären Verwirrungen geschlagen.
Mit diesem Vers knüpft Nāgārjuna
an die Präambel an, in der er ähnliche Formulierungen für Verirrungen und
wegführende Fehlentwicklungen verwendet. Er warnt hier in Bezug auf den Erwachten
vor ausufernden Verirrungen, doktrinären Fixierungen und Spekulationen, starren
Gedanken und Begriffen. Außerdem geht es um illusionäre Fantasien, die wie
künstliche Blüten in den Himmel wachsen. Menschen mit einem solchen verwirrten
Geist leiden selbst am meisten, denn mit derartigen Vorstellungen kann man den
wahren Buddha und die Buddha-Natur nicht erkennen und erleben. Solche wegführenden
Verwirrungen sind leider durchaus in buddhistischen Gruppen zu beobachten.
Besonders der Zen vermeidet jedoch solche idealistischen und doktrinären
Wirren, nicht zuletzt durch einfaches direktes Handeln.
Nishijima Roshi erläutert, dass buddhistische Lehrer ihren Schülern
schaden können, wenn sie Buddha verzerrende und illusionäre
Charaktereigenschaften zusprechen, die aber dem wahren Erwachten nicht
entsprechen. Besonders häufig geschieht dies, wenn es um illusionäre,
großartige Eigenschaften Buddhas geht, die er angeblich nach seinem physischen
Tod haben soll. Der Begriff Tathāgata wird in diesem Fall als „der aus dem
Leben Gegangene“ interpretiert. Tatsächlich wird in der buddhistischen
Tradition erstaunlich häufig darüber fantasiert, welche übernatürlichen
Eigenschaften und Fähigkeiten Buddha hat und an welchem Ort er sich befindet.
Nach Nishijimas Verständnis geht es im Buddhismus aber um das wirkliche Leben
und Handeln des Menschen und nicht darum, was Buddha vor seiner Geburt und nach
seinem Tod sein könnte. Im Übrigen ist die buddhistische Verwirklichung nicht
bei allen Erleuchteten gleich, da es jeweils auch um individuelle Merkmale des
Menschen geht. Darauf hat Dōgen im Shōbōgenzo an mehreren Stellen
hingewiesen.
Für die Abwesenheit
der fiktiven Selbst-Substanz verwendet Nāgārjuna also die Begriffe leer und Leerheit. Er sagt weiterhin,
dass man die Begriffe Selbst und Ich als Hilfe zwar bei der
Kommunikation verwenden könne, aber nicht verabsolutieren dürfe. Das Selbst
bezeichnet also keine bestimmte fiktive Substanz oder fiktive Essenz im
Menschen, sondern das reale Ganze des Menschen. Außerdem warnt er vor den
Extremaussagen, dass der Tathāgata substanzhaft existiere oder nicht existiere.
Eine solche Doktrin würde ebenfalls eine fiktive, aber nicht wirklich
vorhandene Substanz voraussetzen. Dann sei es unmöglich, den Tathāgata wirklich
zu sehen und zu erkennen. Buddhas „Nicht-Ich“ oder „Nicht-Selbst“ bedeutet
daher, dass es kein absolutes
substantiales Selbst im Sinne des Ātman-Selbst
gibt. Ein substantiales Selbst – ich nenne es Schein-Selbst – ist eine
metaphysische Erfindung und nicht wirklich. Jeder Mensch ist ein einzigartiges
Individuum im Universum, aber der Mensch hat kein Ātman-Selbst im Sinne der altindischen Religion und
Philosophie. Das Ātman-Selbst ist für Buddha eine gefährliche Fiktion, Spekulation und Illusion
und gerade nicht die wahre Natur des Menschen!
Nishijima Roshi übersetzt den Sanskrit-Begriff Tathāgata mit „Verwirklichung“ und betont, dass Buddha ein Mensch sei – jemand, der sich verwirklicht habe, der also einengende und schädliche Vorurteile, Ideologien, Doktrinen und Unmoral überwunden hat und so in der lebendigen Wirklichkeit lebt, fühlt, denkt und handelt. Dies ist besonders nach dem Zen ein Zustand und Prozess der tiefen inneren Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Lebensfreude. „So bezieht (sich der Begriff Tathāgata) auf einen besonderen Menschen wie Gautama Buddha, der aus der üblichen Welt fortgegangen und in den Zustand der Verwirklichung eingetreten ist“, erklärt Nishijima Roshi. Er habe die wirkliche Welt erkannt und erfahren.