Sonntag, 9. Januar 2022

MMK, Kap 22: Der Buddha-Tathāgata und die fünf lebendigen Komponenten des Menschen, skandhas


Mittlerer Weg, Kasuaki Tanahashi

In vorbuddhistischer Zeit war das höchste ersehnte Ziel die Unsterblichkeit, die ewige Seligkeit im Nirvāna und endgültige Erlösung von den Leiden und Katastrophen des Lebens. Aber ein solcher illusionärer Glaube hilft nicht bei der Bewältigung der realen Probleme im Hier und Jetzt, sondern führt zu neuen unlösbaren Problemen und Leiden.

Der Buddhismus entwickelte demgegenüber das in dieser Welt realisierbare Leitbild des Buddha oder Tathāgata als höchste Lebensform des Erwachens bzw. der Erleuchtung. Diese Lebensform kann laut Buddha in diesem Leben für alle Menschen grundsätzlich verwirklicht werden. Die Begriffe Tathāgata und Buddha werden im Allgemeinen synonym verwendet. Durch die Erleuchtung und Befreiung kommen Gier, Hass, Neid, Übelwollen, Hektik, Trägheit usw. zur Ruhe. Dann können wir ein glückliches, sinnerfülltes und zufriedenes Leben führen. Dann verschwindet auch die Sehnsucht nach einer zukünftigen Existenz. Wir sind erfüllt vom Flow, von der Ruhe des Augenblicks sowie unseren Aufgaben und Verantwortungen in dieser Welt, anstatt sinnlos um uns selbst zu kreisen.

Der Sanskrit-Begriff Tathāgata lässt sich je nach Unterteilung der Sanskrit-Wortsilben übersetzen als „der so Gekommene“ oder „der so Gegangene“. In der Literatur lautet die Übersetzung meist „der so Gegangene“. Dabei werden verschiedene Fragen erörtert: ob der so gegangene Buddha noch existiert, wo er existiert und welche Bedeutung er für die jetzt Lebenden in dieser Welt hat. Weiter wird gefragt, ob er nach einigen Zeitaltern auf die Welt zurückkehrt zu den normalen Menschen, um ihnen zu helfen. Außerdem ist damit der im Mahāyāna durchaus verbreitete Glaube verbunden, es gebe einen absoluten, vollkommenen Buddha, der sich von dem historischen Buddha unterscheiden soll, denn dieser habe auch Fehler gemacht. Aber das könne für einen absoluten Buddha nicht richtig sein. Der vollkommene Buddha fungiert dabei wie ein absolutes Prinzip.

Die Übersetzung des Begriffs Tathāgata mit der Formulierung „der so Gegangene“ wirft die Frage auf, wie „der so Gegangene“ konkret und phänomenologisch verlässlich beschrieben werden kann. Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil ein direktes, einfaches Fortleben nach dem Tod phänomenologisch kaum zu beobachten ist. In den Ausführungen der Upanishaden lebte die Überzeugung fort, dass ein metaphysischer gedachter ātman sich in einer Kette der Wiedergeburten von den Beschmutzungen des Karmas zu reinigen hatte, um dann in die ewige Seligkeit einzugehen. Buddha hat den Glauben an ein so verstandenes Karma unverblümt abgelehnt und stattdessen den direkten Bezug zur Realität des menschlichen Lebens betont. Er hat also die Übungen des Praxisweges und die zunehmende Befreiung vom Leiden in den Mittelpunkt gestellt. Er lehrte die Entwicklung und Emanzipation des Werdens und Entstehens. Dabei legte er den Schwerpunkt ausschließlich auf das gegenwärtige Leben.

Im zweiten Kapitel des MMK behandelt Nāgārjuna fundamentale Fragen zum Funktionieren des Gehens, zum gegangenen Weg und zum Menschen, der geht. Danach folgt die vertiefte Untersuchung des Mittleren Weges. Nun wird im vorliegenden Kapitel 22 anhand des Begriffes Tathāgata dieses Thema von Kapitel 2 wieder aufgegriffen. Das ist aus meiner Sicht kein Zufall, sondern bewusst von Nāgārjuna so gestaltet. Es ist eine zentrale Aussage des zweiten Kapitels, dass es unsinnig ist, einen unveränderlichen Geher zu behaupten – obwohl dies vom indogermanischen Sanskrit und auch von der deutschen Sprache so suggeriert wird. Genauso unsinnig ist es, beim Weg von einem unveränderlichen Gegangenen zu sprechen. Hier analysiert Nāgārjuna die Veränderung, den Prozess, die Funktion, die Befreiung und die Emanzipation im menschlichen Lebensgang. Kurz gesagt heißt das, dass man zu Beginn seines Lebens nicht total durch seine genetische Disposition determiniert ist, sondern sich auf seinem Lebensweg verändert und entwickelt. Dabei geht von der zunehmenden Wahrheits- und Realitätserfahrung eine große steuernde Kraft aus, eine Kraft, die sich fortlaufend und selbstähnlich entwickelt. Es handelt sich also um einen evolutiven Prozess. Daher hat man nach der buddhistischen Lehre die reale Chance, sich zu befreien und zu emanzipieren. Diese Emanzipation geht über die genetischen Begrenzungen der Vererbung hinaus und baut auf den interaktiven Lernprozessen im Umfeld eines Kindes auf.

Ich schlage deshalb eine umfassendere Interpretation des Sanskrit-Begriffes Tathāgata vor. Denn es scheint mir naheliegend, dass sowohl die beiden Bedeutungen „der so Gekommene“ und „der so Gegangene“ angesprochen werden als auch der überschaubare Lebensbereich in dieser Welt an den realen Orten seines Handelns in Indien. Der Begriff Tathāgata wäre in diesem Sinne etwa damit zu umreißen, dass der gesamte Entwicklungsgang seines Lebens bis zur Befreiung beschrieben wird. Die Übersetzung könnte dann heißen: „der so durch sein Leben Gegangene“. Damit wäre aus meiner Sicht auch dem Grundsatz Buddhas entsprochen, sich nicht unnötig mit spekulativen Gedanken über den Anfang und das Ende des Lebens zu belasten. Vielmehr geht es darum, die Möglichkeiten und Chancen des Lebens selbst zu sehen, zu entwickeln und die jeweils höchste Lebensform für sich selbst zu verwirklichen.

Aus der heutigen Psychologie und Neurowissenschaft wissen wir, dass Menschen, die sich zu viel mit dem eigenen Tod beschäftigen, eine signifikant kürzere Lebenserwartung haben als andere, die dies nicht tun. Bei der Angst vor Alter und Tod ist der Mandelkern im Gehirn aktiviert, und dies führt zur Schwächung des Immunsystems. Diese wissenschaftlich fundierte Tatsache stimmt also erstaunlich gut mit den Lehren des Buddhismus überein. Demnach sind auch ausufernde Spekulationen, was denn mit dem Menschen Buddha nach seinem Tod passiert, überflüssig und sogar gefährlich. Sie würden sich vermutlich negativ auf die eigene Lebensführung auswirken. Nāgārjuna sagt zum menschlichen Leben und dessen Komponenten:

 

Vers 22.1

Der Tathāgata ist nicht identisch mit den Skandhas, den Komponenten des Menschen, er ist nicht ein anderer als die Skandhas. Die Skandhas sind nicht in ihm, er ist nicht in den Skandhas, und er hat nicht die Skandhas.

Wer ist hier der Tathāgata?

 

Nāgārjuna knüpft hier an die Doktrin eines substanzhaften, isolierten, unveränderlichen aber fiktiven Selbst als Existenz und Entität an, das von den Substantialisten vertreten wird. Der Tathāgata hat aber kein unveränderliches und ewiges fiktives Substanz-Selbst oder Ātman-Selbst. Er ist nicht total identisch mit den Skandhas, wenn man diese fälschlich als substantiale Entitäten versteht. Auch die totale Andersartigkeit oder Differenz zu den Skandhas kommt nicht infrage. Nāgārjuna hat bereits nachgewiesen, dass die Skandhas nicht dauerhaft existent sind und gemeinsam in Wechselwirkung entstehen (pratitya samutpada).

Der Tathāgata ist synonym mit Buddha zu verstehen. Nāgārjuna legt den Schwerpunkt auf das befreite Leben Buddhas. Er verschließt sich Spekulationen darüber, was mit ihm nach dem Tod geschieht und was er ist, wenn er gegangen ist, also dieses Leben beendet hat. Bei totaler Identität oder totaler Differenz kann es keine Verbindung und Wechselwirkung mit den Skandhas geben. Daher ist mit diesen Ansätzen die Frage, wer der Tathāgata eigentlich ist, nicht zu behandeln oder gar zu beantworten.

Leider neigen viele Glaubensreligionen dazu, genau eine solche depressive Grundstimmung, Ängste vor dem Tod und dem, was danach folgt, zu erzeugen. Dies mag die Macht der religiösen Eliten über die Psyche und den Geist der Untergebenen stärken. Dies gilt wohl auch für den Brahmanismus zur Zeit Buddhas. Im gleichen Sinne könnte man die Doktrin der Erbsünde des Christentums interpretieren. Angst vermindert die Intelligenz und vor allem die Kreativität des Menschen. Emanzipation, Befreiung und Entwicklung hängen im Gegensatz dazu mit den positiven Kräften von Freude und Glück zusammen.

Die Ängste vor Altern, Krankheit und Tod sind sicher nicht zufällig zentrale Themen der Vier Edlen Wahrheiten, denn sie verursachen als Ängste und Verzweiflung unausweichlich Leiden und Schmerzen. So kann der Achtfache Pfad als praktischer Gang der Befreiung und Emanzipation verstanden werden: Ich ziehe daher den folgenden Begriff für Tathāgata vor „der so durch das Leben Gegangene“. Diese Bedeutung wurde nach meinem Verständnis bisher in der buddhistischen Lehre zu wenig beachtet.

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt, der im zweiten Kapitel des MMK genau untersucht wurde, nämlich das Verständnis des begangenen Weges bzw. des Begangenen. Dabei destruierte Nāgārjuna ein substanzhaftes Verständnis des begangenen Weges. So ist mit dem Begriff Tathāgata aus meiner Sicht auch der von Buddha begangene Weg der Befreiung gemeint.

Nach den Überlieferungen wurde Buddha als ein besonderes, hochbegabtes Kind in einer Königsfamilie eines kleinen Königreiches geboren. Er erhielt ausgezeichneten Unterricht in der damaligen Religion und Philosophie, zeigte große Begabung und Fähigkeiten in Musik und Sport und nahm nicht zuletzt an den Regierungsgeschäften seines Vaters teil. Er heiratete relativ zeitig und standesgemäß und hatte einen Sohn. Aber dann wurden seine unbeantworteten Fragen an die damalige Religion, Philosophie und praktische Lebensführung immer drängender. Schließlich entschloss er sich, ein Hausloser zu werden und zunächst zwei der bekanntesten Weisen und Heiligen des damaligen Brahmanismus aufzusuchen, um fundiert Meditation zu lernen. In relativ kurzer Zeit gelang es ihm, das Gelehrte selbst zu verwirklichen. Er war jedoch damit nicht zufrieden und suchte nach weiteren Wegen, um Klarheit und Erleuchtung zu erlangen.

Kalupahana sieht die Ursache für Buddhas Fehlschlag bei der damaligen Meditation darin, dass im Brahmanismus das absolute universelle Wissen, die Allwissenheit, angestrebt wurde. Buddha erkannte aber, dass eine solche Allwissenheit nicht von einem Menschen erlangt werden kann.[i] In der damaligen Philosophie gab es eine strikte Trennung von ātman-Geist einerseits und Körper andererseits, sodass Buddha nach seinen vergeblichen Versuchen der geistig-meditativen Entwicklung zum Extrem der körperlichen Askese überging und diese bis in Todesnähe praktizierte. Er stellte aber fest, dass auch diese Methode unbrauchbar war, um tiefe nachhaltige Befreiung zu erlangen, sodass er eigene Wege suchen musste.

Er wählte dann eine einfache Methode der Meditation, die nach chinesischer und japanischer Überlieferung dem Zazen im Lotussitz gleich war. Das heißt, er „ließ Körper und Geist fallen“ und überließ sich in der korrekten Sitzposition des Lotus dem Hier und Jetzt ohne konkrete oder drängende Ziele, ohne Gedanken, Vorstellungen und Gefühle. Beim aufgehenden Morgenstern erfuhr er dann das große umfassende Erwachen und die Erleuchtung. Danach verfeinerte er seine sehr praktische und therapeutische Lehre zur Überwindung des Leidens, zur Befreiung und Emanzipation über 40 Jahre lang, bis er mit etwa 80 Jahren verstarb. Als er aus dem Leben ging, hatte er also die höchste, dem Menschen mögliche Weisheit und Praktikabilität des Handelns, Denkens und Redens, aber auch der Gefühle, Planungen und des Erkennens erlangt. Aus meiner Sicht ist es deshalb sinnvoll, den Sanskrit-Begriff Tathāgata als Bezeichnung für die gesamte Lebensspanne und den ganzen Lebensweg Buddhas zu verstehen. Auf Deutsch kann man ihn wiedergeben mit der Formulierung „der so Gekommene und der so Gegangene“.

Es ist eine alte Frage, ob Buddha ein „normaler“ Mensch war, der im Buddhismus durch die fünf Komponenten oder Skandhas gekennzeichnet ist. Diese Komponenten sind nicht isoliert zu verstehen, sondern wirken zusammen und sind eben der Mensch. Nāgārjuna untersucht, ob Buddha als Erwachter und Erleuchteter mit diesen Skandhas identisch ist oder nicht. Sicher ist es eine vereinfachte dualistische Frage, die nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. Es ist auch wichtig, sich dabei zu vergegenwärtigen, dass der Buddhismus nicht von der Lehre eines ewigen unvergänglichen ātman als Kern des Menschen ausgeht. In diesem Fall wäre die Frage in der Tat leicht zu beantworten, denn innerhalb der fünf Skandhas müsste die ewige Substanz oder Essenz des ātman in irgendeiner Form enthalten sein und aufgefunden werden können. Nāgārjuna beginnt mit dieser Frage die Analyse des Tathāgata als der Erwachte.

Es geht in diesem wichtigen Kapitel also vor allem um folgende Klärungen: In welchem Verhältnis steht der Tathāgata oder Buddha zu den fünf Komponenten des Menschen, den Skandhas? Gibt es eine totale Identität oder Differenz mit den Skandhas? Wenn man die in der Präambel genannte Wechselwirkung für das Verständnis der Wirklichkeit voraussetzt und auch auf den Tathāgata bezieht, ist es fraglich, ob eine substantialistische Doktrin zur Klärung beiträgt. Nāgārjuna stellt fest, dass der Tathāgata auf jeden Fall menschliche Skandhas umfasst, denn wenn er sie nicht hätte, müsste er sie sich aneignen, also ergreifen. Aber auch ein solches Aneignen darf nicht als substantial, verdinglicht und isoliert verstanden werden, weil das der Wirklichkeit des Lebens widerspricht. Er sagt zum fiktiven dinghaften Ergreifen:

 

Vers 22.10

Auf diese Weise sind das Ergreifen und der Ergreifer insgesamt leer (also real und in Wechselwirkung).

Und wie lässt sich der leere (wirkliche) Tathāgata aufgrund seiner Leerheit erkennen?

 

Der Tathāgata ist nach Nāgārjunas Verständnis immer leer und frei von der unheilsamen Doktrin der fiktiven substantialen Eigen-Substanz, sonst wäre er nicht erleuchtet. Tathāgata ist also kein Ergreifer, weil es den in der Wirklichkeit gar nicht gibt. Oder mit Nāgārjuna anders ausgedrückt: Als nicht realer Ergreifer gerät er durch sein nicht reales Ergreifen der Skandhas nicht in Abhängigkeit und Unfreiheit. Das klingt sicher kompliziert, ist aber eine logisch einwandfreie Schlussfolgerung. Denn sein „leeres Ergreifen“ ist real und frei von Doktrinen und verwirrten Meinungen und Vorurteilen wie der fiktiven Eigen-Substanz und des fiktiven ātman. Vereinfacht könnte man sagen: Der Tathāgata ist damit von gleicher Qualität wie die Leerheit selbst.

Der zweite Teil dieses Verses ist nicht leicht zu verstehen und muss genauer untersucht werden. Die Frage ist, wie man einen wirklich Erleuchteten, also einen Tathāgata, erkennen kann. Oder wie es im Original des MMK manchmal heißt, wie sich der leere Tathāgata äußert, zeigt und zu erkennen ist. Das falsche Verständnis von Leerheit als das Nichts muss radikal ausgeschlossen werden. Außerdem haben das Handeln, die Wahrnehmung, das Denken, die Gefühle usw. des Tathāgata eine signifikant höhere Qualität als bei normalen, „unerleuchteten“ Menschen. Zentral ist darüber hinaus seine ethische Klarheit im Denken, Fühlen und Handeln. Er hat also die Qualitäten, die im Buddhismus auch einem Bodhisattva zugeschrieben werden.

Die zweite Zeile kann so interpretiert werden, dass man die Vorstellung und Ideologie eines ewigen Wesenkerns, des ātman, für einen Buddha oder Erleuchteten überhaupt nicht benötigt. Phänomenologisch erkennt man einen solchen Menschen unmittelbar, nicht zuletzt im gemeinschaftlichen Handeln. Es geht also nicht um idealistische Verklärungen, die sich von der Wirklichkeit abgelöst haben, sondern um ganz konkrete Beobachtung und Erfahrung im Hier und Jetzt. Da Menschen ohnehin nach meinem Verständnis[ii] unendlich komplex sind, ist es reine Fiktion und unmöglich, einen realen erleuchteten Wesenskern herausfinden zu wollen, von dem alles andere abhängen soll. Ähnliches gilt auch für die Buddha-Natur, wie Meister Dōgen betont.[iii] Ein solcher Idealismus hat zweifellos für viele eine gewisse Attraktivität, ist aber leider phänomenologisch nicht zu fassen und muss destruiert werden.

Nishijima Roshi interpretiert diesen Vers ganz kompakt: „Die Situation im Gleichgewicht erzeugt auf diese Weise die wirkliche Situation der Sinneswahrnehmung. Und was wahrgenommen wird, ist das Ganze der Welt.“ Er verwendet also für den Begriff der Leerheit die reale Situation im Gleichgewicht, die erst eine wirklichkeitsgemäße Wahrnehmung realisiert. Im Gleichgewicht würden wir die Welt wahrnehmen „genauso wie sie ist“. In einer solchen Situation wird die Intuition durch den Zustand des Gleichgewichts erfahren, „und dies ist die wahre Bedeutung der Verwirklichung und des Tathāgata“, erklärt Nishijima Roshi.

Nāgārjuna sagt über doktrinäre Verwirrungen Folgendes:

 

Vers 22.15

Wer den Erwachten, dessen Verirrungen vergangen sind und der keine Zersplitterungen mehr hat, weiter (doktrinär) verzerrt (versteht), der sieht den wahren Erwachten nicht.

Solch ein Mensch wird selbst von seinen ausufernden illusionären Verwirrungen geschlagen.

 

Mit diesem Vers knüpft Nāgārjuna an die Präambel an, in der er ähnliche Formulierungen für Verirrungen und wegführende Fehlentwicklungen verwendet. Er warnt hier in Bezug auf den Erwachten vor ausufernden Verirrungen, doktrinären Fixierungen und Spekulationen, starren Gedanken und Begriffen. Außerdem geht es um illusionäre Fantasien, die wie künstliche Blüten in den Himmel wachsen. Menschen mit einem solchen verwirrten Geist leiden selbst am meisten, denn mit derartigen Vorstellungen kann man den wahren Buddha und die Buddha-Natur nicht erkennen und erleben. Solche wegführenden Verwirrungen sind leider durchaus in buddhistischen Gruppen zu beobachten. Besonders der Zen vermeidet jedoch solche idealistischen und doktrinären Wirren, nicht zuletzt durch einfaches direktes Handeln.

Nishijima Roshi erläutert, dass buddhistische Lehrer ihren Schülern schaden können, wenn sie Buddha verzerrende und illusionäre Charaktereigenschaften zusprechen, die aber dem wahren Erwachten nicht entsprechen. Besonders häufig geschieht dies, wenn es um illusionäre, großartige Eigenschaften Buddhas geht, die er angeblich nach seinem physischen Tod haben soll. Der Begriff Tathāgata wird in diesem Fall als „der aus dem Leben Gegangene“ interpretiert. Tatsächlich wird in der buddhistischen Tradition erstaunlich häufig darüber fantasiert, welche übernatürlichen Eigenschaften und Fähigkeiten Buddha hat und an welchem Ort er sich befindet. Nach Nishijimas Verständnis geht es im Buddhismus aber um das wirkliche Leben und Handeln des Menschen und nicht darum, was Buddha vor seiner Geburt und nach seinem Tod sein könnte. Im Übrigen ist die buddhistische Verwirklichung nicht bei allen Erleuchteten gleich, da es jeweils auch um individuelle Merkmale des Menschen geht. Darauf hat Dōgen im Shōbōgenzo an mehreren Stellen hingewiesen.

Für die Abwesenheit der fiktiven Selbst-Substanz verwendet Nāgārjuna also die Begriffe leer und Leerheit. Er sagt weiterhin, dass man die Begriffe Selbst und Ich als Hilfe zwar bei der Kommunikation verwenden könne, aber nicht verabsolutieren dürfe. Das Selbst bezeichnet also keine bestimmte fiktive Substanz oder fiktive Essenz im Menschen, sondern das reale Ganze des Menschen. Außerdem warnt er vor den Extremaussagen, dass der Tathāgata substanzhaft existiere oder nicht existiere. Eine solche Doktrin würde ebenfalls eine fiktive, aber nicht wirklich vorhandene Substanz voraussetzen. Dann sei es unmöglich, den Tathāgata wirklich zu sehen und zu erkennen. Buddhas „Nicht-Ich“ oder „Nicht-Selbst“ bedeutet daher, dass es kein absolutes substantiales Selbst im Sinne des Ātman-Selbst gibt. Ein substantiales Selbst – ich nenne es Schein-Selbst – ist eine metaphysische Erfindung und nicht wirklich. Jeder Mensch ist ein einzigartiges Individuum im Universum, aber der Mensch hat kein Ātman-Selbst im Sinne der altindischen Religion und Philosophie. Das Ātman-Selbst ist für Buddha eine gefährliche Fiktion, Spekulation und Illusion und gerade nicht die wahre Natur des Menschen!

Nishijima Roshi übersetzt den Sanskrit-Begriff Tathāgata mit „Verwirklichung“ und betont, dass Buddha ein Mensch sei – jemand, der sich verwirklicht habe, der also einengende und schädliche Vorurteile, Ideologien, Doktrinen und Unmoral überwunden hat und so in der lebendigen Wirklichkeit lebt, fühlt, denkt und handelt. Dies ist besonders nach dem Zen ein Zustand und Prozess der tiefen inneren Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und Lebensfreude. „So bezieht (sich der Begriff Tathāgata) auf einen besonderen Menschen wie Gautama Buddha, der aus der üblichen Welt fortgegangen und in den Zustand der Verwirklichung eingetreten ist“, erklärt Nishijima Roshi. Er habe die wirkliche Welt erkannt und erfahren.



[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 16ff.

[ii] Luhmann, Niklas: Soziale Systeme

[iii] Dogen: Shobogenzo, Band 2, S. 27ff.