Samstag, 8. Januar 2022

MMK Kap. 26. Die Zwölf Faktoren des Lebens: Große Befreiung oder langes Leiden?

 


Dieses Kapitel ist ein Höhepunkt von Nāgārjunas MMK. Es fasst die zentralen Aussagen des fundamentalen Stromes von Natur und Menschen zur Bereinigung und weiteren Entwicklung im wahren Buddhismus zusammen. Nāgārjuna beschreibt zwölf Faktoren für die menschliche Entwicklung, die Buddha im Sūtta für Kaccāna ausführlich behandelt. Diese Entwicklung kann zur großen Befreiung führen oder in der ganzen Masse des Leidens und des Elends beim Menschen enden. Nach meinem Verständnis sind die zwölf Faktoren in Wechselwirkung und charakterisieren den zeitlichen Gang und Strom des Lebens. Wenn Egoismus, Materialismus und Ich-Zentrierung zur Ruhe gekommen sind, bedeutet das die Überwindung des Leidens.

Buddha beschreibt den ganzen Menschen häufig als das Zusammenwirken der fünf Skandhas, also der Komponenten des Menschen. Wenn ein Mensch im Leiden versunken ist, leiden alle diese fünf Skandhas. Wenn er vom Leiden befreit ist, sind diese Skandhas befreit, und das ist die Verwirklichung des Erwachens und der Erleuchtung. Dann gibt es nach Nāgārjuna keinen Unterschied zwischen der normalen Welt, Samsāra, und dem Nirvāna.

Von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung sind Prägungen oder die formenden Kräfte, die als spirituelle und psychisch-geistige Blockaden wirken können. Ein solcher von Unwissen „umhüllter“ und gefesselter Mensch kann sich wegen der unheilsamen und doktrinären formenden Kräfte und Prägungen nicht heilsam entwickeln. Er ist kein Wissender der Lehre Buddhas, und er ist seiner wahren befreienden Lebensdynamik beraubt. Seine Buddha-Natur ist von Unwissen umhüllt und hat keinen Flow und keinen Strom des Glücks und der Kreativität.[i] Ein verblendeter Mensch geht einen zwangsläufigen und doktrinär fixierten Lebensweg. Dies gilt nach Nāgārjuna gerade für die doktrinären unwahren buddhistischen Schulen der Substantialisten und Momentanisten. Solche Menschen sind in Weltanschauungen, Doktrinen und Ideologien gefangen, sei es unbewusst und unreflektiert oder sei es bewusst, aber intellektuell verworren. Häufig sind diese unheilsamen Doktrinen von den drei Giften Gier, Hass und Verblendung determiniert. Nāgārjuna sagt dazu:

 

Vers 26.1

Ein Mensch, der vom Nicht-Wissen umhüllt und gefesselt ist, handelt durch seine formenden Kräfte und Prägungen. Mit diesen Handlungen geht er den Gang des Lebens, zum Wieder-Werden. Die formenden Kräfte sind dreifach zusammengesetzt.

 

Nāgārjuna erwähnt am Anfang die zentrale Bedeutung von Unwissen und Unklarheit. Dabei verwendet er die besondere Formulierung „ein von Unwissen eingeschlossener Mensch“, wörtlich: „umhüllter Mensch“. Das heißt, dass ein Mensch aufgrund von Unwissen wenig von der Wahrheit seines Lebens und davon erkennen kann, was für ihn heilsam oder unheilsam ist.[ii] Mit dem fehlenden heilsamen Wissen ist sicher hauptsächlich die fehlende Kenntnis der buddhistischen Lehre gemeint, also der Vier Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades zur Überwindung des Leidens und zur Befreiung.

Nach Buddha wird eine der fünf Komponenten des Menschen, der Skandhas, als „formende Kräfte“ bezeichnet. Diese sind für die lebende Dynamik und das Werden des Menschen maßgebend und können sowohl Freiheit als auch Blockaden bewirken. Diese formenden Kräfte sind aus meiner Sicht ethisch zu verstehen: ethisch gut, neutral oder ethisch nicht gut. Abhängigkeiten und Fixierungen führen durch negative Prägungen, Vorurteile, unheilsame Doktrinen und Dogmen zwangsläufig zu Schmerzen und Leiden. In diesem Fall handelt es sich um verzerrende und verzerrte formende Kräfte.

Das Wieder-Werden wird in den meisten buddhistischen Linien als Wiedergeburt in einem folgenden Leben interpretiert, und dies entspricht dem Glauben vieler Buddhisten.[iii] Ein unheilsames Wieder-Werden kann sich aber auch auf dieses jetzige Leben beziehen. Darin sehe ich die Hauptbedeutung dieses Kapitels, denn beim Leiden geht es vor allem darum, sich wiederholende Teufelskreise zur Ruhe kommen zu lassen. Verblendung und Unwissen gibt es in jeder Phase des Menschen und in jedem Alter. Wer also in seinem Leben unklar und vom „Unwissen eingeschlossen ist“, setzt seine formenden Kräfte und seine Dynamik falsch ein, er entwickelt sich in eine unheilsame Richtung, ohne dass er sich dessen vermutlich immer bewusst ist. Es kommt also ganz wesentlich auf den „Schub“ in einem bestimmten Zustand des Lebens an: In welche Richtung und mit welchen formenden Kräften geht der Strom spirituell, psychisch und geistig?

Nishijima Roshi betont die große Bedeutung des Handelns und der konkreten einzelnen Handlungen: „Mit anderen Worten ist die menschliche Entwicklung nicht irgendetwas Abstraktes. Stattdessen ist es ein konkreter Prozess, der auf wirklichem Handeln basiert.“ Ein Baby würde nach der Geburt Arme und Beine bewegen, und durch diese Handlungen beginne die Entwicklung des Menschen, erklärt Nishijima.

Nāgārjuna hebt besonders die Wechselwirkung der Komponenten des Menschen (Skandhas) mit der Dynamik der formenden Kräfte und Prägungen des Menschen (samskāra) hervor. Wissen und formende Kräfte sind keine isolierten Entitäten oder Substanzen, sondern interagieren miteinander. Ein Wissen in unserem Geist und Gehirn kann keine wirklich weiterführenden Entwicklungen zur Befreiung in Gang bringen, wenn es vom Handeln losgelöst gedacht wird. Ein solches substanzhaft gedachtes Wissen bleibt weitgehend wirkungslos und folgenlos, da es isoliert ist.

Nāgārjunas Aussagen in den Versen zwei bis sechs dieses Kapitels lassen sich wie folgt zusammenfassen: Mit den formenden Kräften des Menschen ergibt sich intensive Wechselwirkung mit zunehmendem Erkennen und zunehmender Klarheit. Das ist das Erkennen der Formen dieser Welt und dieses Lebens. Gleichzeitig werden wichtige Zusammenhänge mit den formenden Kräften selbst erkannt. Dann kommen die Fähigkeiten der Sprache und die Möglichkeiten der Kommunikation hinzu. Die Leistungen der Sinnesorgane entwickeln sich, sodass eine enge Wechselwirkung mit der Umwelt und anderen Menschen eintritt. Dadurch sind die Kontakte mit der äußeren Umwelt in Wechselwirkung mit dem Inneren möglich. Eine wichtige Fähigkeit ist die Konzentration auf äußere und innere Sachverhalte, die Buddha Achtsamkeit nennt. Es ergibt sich eine intensive Beziehung und Berührung der Dreiheit von Form, Erkennen und Auge. Damit entstehen im Menschen entsprechende Gefühle und Empfindungen.

Mit diesen eventuell starken und sogar überstarken Empfindungen entwickeln sich in Wechselwirkung Durst und Sucht nach immer stärkeren Empfindungen und Genüssen. Dabei wird das dürstende Ich immer dominater. Das Ich will sich alles aneignen und ergreifen, was den Durst befriedigen kann und den überstarken Genuss sichern soll. Damit entwickelt sich im Menschen das Ego – „ich, mein, mich“, wie Buddha sagt. Nāgārjuna präzisiert dazu:

 

Vers 26.7

Wenn Ergreifen und Aneignen (substanzhaft) existieren, entwickelt sich das Werden als (substanzhaftes) Ergreifen.

Denn falls ein Mensch ohne solches Ergreifen existieren würde, würde er befreit werden. Dann würde sich gerade kein (unfreies und leidvolles) Werden entwickeln.

 

Der Mensch ist also befreit, wenn er nicht durch Durst und Gier ergriffen wird und selbst ergreift. Dann würde sich ein beherrschendes künstliches Ego überhaupt nicht entwickeln. Die Fesselung durch Gier, Hass und Verblendung ist überwunden, und der Mensch ist emanzipiert und kann sich ungehindert entwickeln.

Dieser Vers enthält die zentrale Botschaft Buddhas und Nāgārjunas: Wir sind befreit, wenn wir die Abhängigkeit von Sucht, Gier, Neid, Hass und Verblendung loslassen, überwinden und vermeiden. Aber das ist sicher nicht allein mit dem Verstand zu schaffen: Welcher Drogen- oder Alkoholsüchtige zum Beispiel weiß nicht genau, dass er von einer tödlichen Sucht abhängig ist und dem Tod entgegeneilt. Aber der „Ergreifer“ kann die Sucht nicht steuern und zur Ruhe kommen lassen. Er ist der Sucht und Gier verfallen und kann sich nicht mehr selbst steuern. Buddhas Achtfacher Pfad der Befreiung kann jedoch von allen Menschen begangen werden. Wer vom Ergreifer zum Boddhisattva-Handelnden wird, gelangt zur Freiheit und Unabhängigkeit von der scheinbar nicht zu beherrschenden Sucht und Gier. Es heißt im Sūtra von den Grundlagen der Achtsamkeit von einem solchen freien Menschen: „Unabhängig lebt er und haftet an Nichts in der Welt.“[iv]

Dieser Vers beschreibt den fundamentalen Wendepunkt im Leben eines Menschen, der gelernt hat, seine Gier und seinen Durst zu steuern. Dann gibt es keine Blockaden durch die Statik und Starrheit des Glaubens an eine fiktive Substanz im Menschen. Wenn das überwunden ist, befreit man sich von determinierenden Abhängigkeiten. Deshalb hebt die buddhistische Lehre die große Bedeutung der Selbststeuerung hervor.

Auch bei manchen recht intelligenten Menschen kann es zur Steuerung durch Ideologien kommen, ohne dass sie sich dessen bewusst seien, erklärt Nishijima Roshi. Sie seien dann nicht im Gleichgewicht. Dabei entwickelt sich eine eindimensionale, oft übermächtige Dynamik, die zu Leiden und Unglück führen muss. Wenn dann die soziale Umgebung zudem Verstärkung und Gratifikation zurückkoppelt, wird die gefährliche doktrinäre Verengung solchen Menschen kaum bewusst werden. Sie wollen den Gang und die Philosophie ihres Lebens gerade nicht ändern. Psychologisch trifft man auf diese Zusammenhänge zum Beispiel bei narzisstisch gestörten Persönlichkeiten, die etwa durch soziale Erfolge im Beruf gestützt werden und sich ihren Problemen und ihrer psychischen Krankheit nicht stellen.

Nishijima Roshi betont die Bedeutung der klaren Wahrnehmung, um die Realität der Welt zu erkennen und nicht von Doktrinen ergriffen zu werden. Er fragt, wie es überhaupt möglich sei, Wirklichkeit zu erfahren ohne eine geschulte und klare Wahrnehmung. Der Geist könne nämlich fast beliebig manipuliert werden, während die Wahrnehmung einen direkten Kontakt zur Wirklichkeit ermögliche und insofern als Korrektiv zu abstrakten, weltfremden Theorien nützlich und sogar notwendig sei. Wenn also der Mensch ideologisch verzerrt von bestimmten Objekten ergriffen werde, könne die Wirklichkeit durch eine klare, direkte Wahrnehmung zurückgeholt werden.

Buddhas Befreiungslehre setzt genau bei diesen Problemen an, um solche Teufelskreise zu durchbrechen. Er lehrte, dass es in jeder Phase und sogar in jedem Augenblick unseres Lebens die Chance der Emanzipation und Befreiung von einer solchen Zwangsläufigkeit gibt, sodass Leiden und Elend weitgehend überwunden werden und aus unserem Leben verschwinden. Lebensfreude und Kreativität eröffnen dann für uns neue Horizonte.

Für die Möglichkeit, aus dem fatalen deterministischen Ablauf herauszukommen, verwendet Nāgārjuna den wichtigen Ausdruck „zur Ruhe kommen“. Dieser hat auch in der Präambel eine zentrale Bedeutung für die Beschreibung des Befreiungsweges. Demnach führen die formenden Kräfte und die Dynamik des Lebens gerade nicht deterministisch und mit mechanistischer Zwangsläufigkeit zum Leiden, Elend und zu Schmerzen, sondern der Mensch befreit sich selbst von negativen Entwicklungen. Dadurch kann er den großen Frieden bei gleichzeitigem klarem Handeln verwirklichen.

Aber wie kann sich jemand zu Weisheit, Freiheit und Lebensglück weiterentwickeln, wenn er ein „Aneigner“ und Egoist geworden ist? Nāgārjuna behandelt ein solches Leiden und das heilsame Werden in den folgenden Versen. Er nennt zunächst die Formen des Leidens wie Geburt, Alter, Krankheit und Tod sowie Schmerzen, Sorgen, Wehklage, Niedergeschlagenheit und Beunruhigung. Diese Leiden setzen bei den fünf Komponenten des Menschen, den Skandhas, an. Genau dort können auch wir ansetzen und das Leiden zur Ruhe kommen lassen. Wir können bestimmte Probleme, Krisen und äußere Katastrophen nicht ganz vermeiden – das ist die Wahrheit vom Leiden. Aber es geht darum, wie wir damit fertigwerden und vor allem zusätzliches oder grundloses Leiden vermeiden können. Es kommt darauf an, dass wir unsere Probleme so verarbeiten, dass unser Leiden zur Ruhe kommt und wir unserem Leben eine neue heilsame Richtung geben und auf dem neuen sinnvollen Weg vorankommen.

Nāgārjuna fasst zusammen, dass ein Nichtwissender die „Wurzeln“ seines Leidens und deren Kräfte selbst formt. Dadurch geht er den Weg in die Teufelskreise seines Lebens in dieser Welt, dem Samsāra. Ein Unwissender ist nur ein „Ausführer“, aber kein Gestalter seines Lebens. Dagegen sieht ein „Wissender“ die konkrete Diesheit von sich selbst und der Welt. Buddha beschreibt dieses Befreien vor allem im Achtfachen Pfad der Befreiung, der die rechte Sichtweise, das rechte Handeln, die rechte Achtsamkeit, den rechten Lebenserwerb, die rechte Ausdauer und Energie sowie die rechte Meditation und Sammlung umfasst. Dabei schildert Buddha die Meditation sehr praktisch und detailliert und gibt den Menschen damit ein wirksames Mittel an die Hand, um zu Reflexion, Selbstreflexion und größtmöglicher Selbstbeobachtung sowie Freiheit für Entscheidungen zu gelangen.

Mit den Begriffen „Wissen und Erkenntnis“ spricht Nāgārjuna die wahre buddhistische Lehre an, die ohne Zutun göttlicher Kräfte oder überirdischer Energien den Menschen in die Lage versetzt, sich selbst zu befreien und neue bessere Lebenschancen wahrzunehmen. Allein dieser Ansatz muss meines Erachtens in Anbetracht der Zeit um 500 vor der Zeitenwende geradezu als Revolution für die menschliche Befreiung und Therapie eingeschätzt werden. In allen mythischen Gesellschaften geht es dagegen überwiegend um außermenschliche, meist gute oder gefährliche göttliche Kräfte, die auf das Leben der Menschen, Familien und Volksstämme einwirken würden und nur durch religiöse Praktiken zu beeinflussen seien. In der vorbuddhistischen Zeit hatte sich eine derartige determinierende und ritualisierte Religion (Brahmanismus) gesellschaftswirksam entwickelt. Die Brahmanen, also die Priester der damaligen Religion, behaupteten von sich, dass sie sogar die Götter mit ihren Ritualen und Fähigkeiten steuern und somit selbstverständlich auch die lebenden Menschen determinieren könnten.

Wenn das „Nichtwissen zur Ruhe gekommen ist“, verlieren die negativen formenden Kräfte jedoch ihre Wirksamkeit, und wir werden unabhängig. Diese Entwicklung und dieses gute Werden können wir selbst durch heilsames Handeln fördern und unterstützen.

Nāgārjuna hat in den vorherigen 25 Kapiteln doktrinäre Fehlentwicklungen mit großer philosophischer Präzision destruiert und dabei nur in kurzen Anmerkungen auf den Buddhismus der wahren Befreiung vom Leiden und der Bewältigung menschlicher Probleme verwiesen. In diesem Kapitel fasst er nun die beiden grundsätzlich möglichen Wege menschlichen Lebens zusammen und schildert einerseits den Ausweg und die Befreiung aus einer determinierten negativen Entwicklung. Das ist seine klare, positive Interpretation der buddhistischen Lehre. Andererseits umreißt er eine zwangsläufige Abhängigkeit von Gier, Hass und Verblendung, die zum Leiden führen muss. Diese leidhafte Entwicklung nimmt nach Nāgārjuna ihren fatalen Gang, wenn die Lehre Buddhas unbekannt ist oder durch falsche Doktrinen verzerrt wird.

Er beschreibt die zwölf Faktoren, die maßgeblich dafür sind, ob ein Leben in doktrinärer Unwissenheit, Unfreiheit und im Leiden verläuft oder ob es zur Befreiung und Emanzipation als Aufbruch in eine neue offene Zukunft und Lebensform führt. Diese Faktoren sind zumindest teilweise zeitlich gegliedert und werden daher in der Literatur als schrittweise Abfolge des Befreiungsweges interpretiert. Aber dieser zeitliche Ablauf ist meines Erachtens zumindest variabel und kann je nach der Individualität des Menschen, der den Weg geht, abgewandelt werden.

Grundsätzlich gibt es für dieses Kapitel zwei unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Erstens können die zwölf Phasen der menschlichen Entwicklung auf drei aufeinanderfolgende Leben und die jeweiligen Wiedergeburten verteilt werden. Das ist die Standard-Interpretation, wie sie auch bei Kalupahana und Garfield vorliegt. Zweitens können die zwölf Faktoren oder Phasen einem bestimmten Leben von der Geburt bis zum Tod zugeordnet werden. Aus meiner Sicht ist eine solche Unterscheidung allerdings nicht erforderlich, und ich gehe davon aus, dass Nāgārjunas stark empirisch und phänomenologisch orientierte Arbeitsweise für verschiedene Alternativen anwendbar ist. Sicher verfügt die überwiegende Mehrzahl der heutigen Menschen über keine realen und belastbaren Erfahrungen der Wiedergeburt, daher habe ich meine Interpretation vor allem auf dieses eine Leben bezogen. Für die Deutung, die drei Wiedergeburten einbezieht, verweise ich besonders auf die MMK-Interpretationen von Kalupahana und Garfield.[v]

Die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas beschreiben den therapeutischen Weg der Emanzipation und Befreiung aus Leiden und Elend unabhängig vom Glauben an die Wiedergeburt. Gleiches gilt für die Fünf Hemmnisse und die Sieben Faktoren der Erleuchtung. Da Nāgārjuna sich in der Präambel des MMK explizit auf die Lehren Buddhas bezieht und die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad in den Mittelpunkt seiner eigenen Lehre stellt, sollte meines Erachtens auch Kapitel 26 vor allem als präzise Beschreibung des therapeutischen Emanzipationsweges verstanden werden. Dabei ist es weniger wichtig, ob sich die Befreiung in diesem Leben oder im Verlauf von mehreren Wiedergeburten ereignet. Zudem warnt Nāgārjuna im letzten Kapitel des MMK eindringlich vor irreführenden Doktrinen und illusionären menschlichen Sehnsüchten im Hinblick auf die Wiedergeburt.

Wie in der Präambel und in verschiedenen Kapiteln ausgeführt, verwendet Nāgārjuna für die Freiheit und Unabhängigkeit von falschen Doktrinen den Begriff „Leerheit“. Leerheit ist eine Sichtweise und Bezeichnung des gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens, frei von Verzerrungen durch extreme und falsche Ansichten.[vi] Die zunehmende Unabhängigkeit und Befreiung von einengenden und unsinnigen Doktrinen erfordern die klare fortlaufende Beobachtung von uns selbst, die Buddha mit Achtsamkeit[vii] bezeichnet. Dabei möchte ich auch auf Kants zentrale Aussage der Aufklärung hinweisen: „Habe den Mut, selbst zu denken!“

Nāgārjuna untersucht die verschiedenen Faktoren der Unfreiheit sowie der Befreiung in unserem Leben daraufhin, ob sie von falschen doktrinären Ansichten und Extremen abhängig sind bzw. ob sie im Gegenteil durch eigenes „Wissen“ zur Freiheit führen und unser Leiden so zur Ruhe kommt. Mit diesen zwölf Faktoren wird eine zusammenhängende Deutung der Problembewältigung und Emanzipation des Menschen gegeben, die nicht durch den religiösen Glauben an ein ewiges Ātman-Selbst oder unveränderliche Dharmas dominiert wird. Wir werden zwar immer wieder mit Problemen konfrontiert – Leiden durch Einsamkeit, Angst und Stress wegen Überforderung und Schicksalsschlägen, Angst vor Arbeitslosigkeit, Krankheiten und dem Verlust geliebter Menschen –, aber bei der Bewältigung kann der wahre Buddhismus wirkungsvoll helfen. Kurz gesagt: Es geht um die Wirklichkeit selbst. Doris Zölls schreibt dazu: „Die Wirklichkeit jedoch zu erkennen, dazu braucht es ein ganz neues Erleben. Dieses Erkennen wird im Zen als das große Erwachen beschrieben. Wir erwachen aus den Träumen, lassen die Bilder hinter uns, die wir uns über das Leben machen.“[viii]

Auch die heutige Gehirnforschung, Biologie und Psychologie gehen von der Wechselwirkung unseres Wissens, Könnens, Planens, Handelns und unserer ethischen Werte mit den anderen Bereichen des Menschen aus. Geist und Handeln müssen Hand in Hand gehen, um Selbstwirksamkeit zu erreichen. Eine Lehre der substanzhaften oder essenzhaften Isolation ist eine unsinnige und einseitige metaphysische Doktrin.



[i] Dogen: Shobogenzo, Band 2, S. 27ff.

[ii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 75ff.

[iii] Näheres hierzu in den Interpretationen von Kalupahana und Garfield

[iv] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I

[v] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 370ff.; Nāgārjuna: The Fundamental Wisdom of the Middle Way (übersetzt und kommentiert von Jay L. Garfield), S. 335ff.

[vi] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), Kapitel 24.18, S. 418f.

[vii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S.16ff.

[viii] Zölls, Doris: Mumonkan. Sich selbst finden in den Weisheiten alter Zen-Koans, S. 13