Dieses Kapitel ist ein Höhepunkt von Nāgārjunas MMK. Es fasst die
zentralen Aussagen des fundamentalen Stromes von Natur und Menschen zur
Bereinigung und weiteren Entwicklung im wahren Buddhismus zusammen. Nāgārjuna
beschreibt zwölf Faktoren für die menschliche Entwicklung, die Buddha im Sūtta
für Kaccāna ausführlich behandelt. Diese Entwicklung kann zur großen Befreiung
führen oder in der ganzen Masse des Leidens und des Elends beim Menschen enden.
Nach meinem Verständnis sind die zwölf Faktoren in Wechselwirkung und
charakterisieren den zeitlichen Gang und Strom des Lebens. Wenn Egoismus,
Materialismus und Ich-Zentrierung zur Ruhe gekommen sind, bedeutet das die
Überwindung des Leidens.
Buddha beschreibt den ganzen Menschen häufig als das Zusammenwirken der
fünf Skandhas, also der Komponenten des Menschen. Wenn ein Mensch im Leiden
versunken ist, leiden alle diese fünf Skandhas. Wenn er vom Leiden befreit ist,
sind diese Skandhas befreit, und das ist die Verwirklichung des Erwachens und
der Erleuchtung. Dann gibt es nach Nāgārjuna keinen Unterschied zwischen der
normalen Welt, Samsāra, und dem Nirvāna.
Von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung sind Prägungen oder die
formenden Kräfte, die als spirituelle und psychisch-geistige Blockaden wirken
können. Ein solcher von Unwissen „umhüllter“ und gefesselter Mensch kann sich
wegen der unheilsamen und doktrinären formenden Kräfte und Prägungen nicht
heilsam entwickeln. Er ist kein Wissender der Lehre Buddhas, und er ist seiner
wahren befreienden Lebensdynamik beraubt. Seine Buddha-Natur ist von Unwissen
umhüllt und hat keinen Flow und keinen Strom des Glücks und der Kreativität.[i]
Ein verblendeter Mensch geht einen zwangsläufigen und doktrinär fixierten
Lebensweg. Dies gilt nach Nāgārjuna gerade für die doktrinären unwahren
buddhistischen Schulen der Substantialisten und Momentanisten. Solche Menschen
sind in Weltanschauungen, Doktrinen und Ideologien gefangen, sei es unbewusst
und unreflektiert oder sei es bewusst, aber intellektuell verworren. Häufig
sind diese unheilsamen Doktrinen von den drei Giften Gier, Hass und Verblendung
determiniert. Nāgārjuna sagt dazu:
Vers 26.1
Ein
Mensch, der vom Nicht-Wissen umhüllt und gefesselt ist, handelt durch seine
formenden Kräfte und Prägungen. Mit diesen Handlungen geht er den Gang des
Lebens, zum Wieder-Werden. Die formenden Kräfte sind dreifach zusammengesetzt.
Nāgārjuna erwähnt am Anfang die zentrale Bedeutung
von Unwissen und Unklarheit. Dabei verwendet er die besondere Formulierung „ein
von Unwissen eingeschlossener Mensch“, wörtlich: „umhüllter Mensch“. Das heißt,
dass ein Mensch aufgrund von Unwissen wenig von der Wahrheit seines Lebens und
davon erkennen kann, was für ihn heilsam oder unheilsam ist.[ii]
Mit dem fehlenden heilsamen Wissen ist sicher hauptsächlich die fehlende
Kenntnis der buddhistischen Lehre gemeint, also der Vier Edlen Wahrheiten und
des Achtfachen Pfades zur Überwindung des Leidens und zur Befreiung.
Nach Buddha wird eine der fünf
Komponenten des Menschen, der Skandhas, als „formende Kräfte“ bezeichnet. Diese
sind für die lebende Dynamik und das Werden des Menschen maßgebend und können sowohl
Freiheit als auch Blockaden bewirken. Diese formenden Kräfte sind aus meiner Sicht
ethisch zu verstehen: ethisch gut, neutral oder ethisch nicht gut.
Abhängigkeiten und Fixierungen führen durch negative Prägungen, Vorurteile,
unheilsame Doktrinen und Dogmen zwangsläufig zu Schmerzen und Leiden. In diesem
Fall handelt es sich um verzerrende und verzerrte formende Kräfte.
Das
Wieder-Werden wird in den meisten buddhistischen Linien als Wiedergeburt in
einem folgenden Leben interpretiert, und dies entspricht dem Glauben vieler
Buddhisten.[iii]
Ein unheilsames Wieder-Werden kann sich aber auch auf dieses jetzige Leben
beziehen. Darin sehe ich die Hauptbedeutung dieses Kapitels, denn beim Leiden
geht es vor allem darum, sich wiederholende Teufelskreise zur Ruhe kommen zu
lassen. Verblendung und Unwissen gibt es in jeder Phase des Menschen und in
jedem Alter. Wer also in seinem Leben unklar und vom „Unwissen eingeschlossen
ist“, setzt seine formenden Kräfte und seine Dynamik falsch ein, er entwickelt
sich in eine unheilsame Richtung, ohne dass er sich dessen vermutlich immer
bewusst ist. Es kommt also ganz wesentlich auf den „Schub“ in einem bestimmten
Zustand des Lebens an: In welche Richtung und mit welchen formenden Kräften
geht der Strom spirituell, psychisch und geistig?
Nishijima Roshi betont die große Bedeutung des
Handelns und der konkreten einzelnen Handlungen: „Mit anderen Worten ist die
menschliche Entwicklung nicht irgendetwas Abstraktes. Stattdessen ist es ein
konkreter Prozess, der auf wirklichem Handeln basiert.“ Ein Baby würde nach der
Geburt Arme und Beine bewegen, und durch diese Handlungen beginne die
Entwicklung des Menschen, erklärt Nishijima.
Nāgārjuna hebt besonders die Wechselwirkung der Komponenten des Menschen
(Skandhas) mit der Dynamik der formenden
Kräfte und Prägungen des Menschen (samskāra) hervor. Wissen und
formende Kräfte sind keine isolierten Entitäten oder Substanzen, sondern interagieren
miteinander. Ein Wissen in unserem Geist und Gehirn kann keine wirklich weiterführenden
Entwicklungen zur Befreiung in Gang bringen, wenn es vom Handeln losgelöst
gedacht wird. Ein solches substanzhaft gedachtes Wissen bleibt weitgehend
wirkungslos und folgenlos, da es isoliert ist.
Nāgārjunas Aussagen in den Versen zwei bis sechs dieses Kapitels lassen
sich wie folgt zusammenfassen: Mit den formenden Kräften des Menschen ergibt
sich intensive Wechselwirkung mit zunehmendem Erkennen und zunehmender
Klarheit. Das ist das Erkennen der Formen dieser Welt und dieses Lebens.
Gleichzeitig werden wichtige Zusammenhänge mit den formenden Kräften selbst
erkannt. Dann kommen die Fähigkeiten der Sprache und die Möglichkeiten der
Kommunikation hinzu. Die Leistungen der Sinnesorgane entwickeln sich, sodass
eine enge Wechselwirkung mit der Umwelt und anderen Menschen eintritt. Dadurch
sind die Kontakte mit der äußeren Umwelt in Wechselwirkung mit dem Inneren
möglich. Eine wichtige Fähigkeit ist die Konzentration auf äußere und innere
Sachverhalte, die Buddha Achtsamkeit nennt. Es ergibt sich eine intensive
Beziehung und Berührung der Dreiheit von Form, Erkennen und Auge. Damit
entstehen im Menschen entsprechende Gefühle und Empfindungen.
Mit diesen eventuell starken und sogar überstarken Empfindungen entwickeln
sich in Wechselwirkung Durst und Sucht nach immer stärkeren Empfindungen und
Genüssen. Dabei wird das dürstende Ich immer dominater. Das Ich will sich alles
aneignen und ergreifen, was den Durst befriedigen kann und den überstarken
Genuss sichern soll. Damit entwickelt sich im Menschen das Ego – „ich, mein,
mich“, wie Buddha sagt. Nāgārjuna präzisiert dazu:
Vers 26.7
Wenn Ergreifen und Aneignen (substanzhaft)
existieren, entwickelt sich das Werden als (substanzhaftes) Ergreifen.
Denn falls ein Mensch ohne solches Ergreifen
existieren würde, würde er befreit werden.
Dann würde sich gerade kein (unfreies und leidvolles) Werden entwickeln.
Der Mensch ist also befreit, wenn er nicht durch Durst und
Gier ergriffen wird und selbst ergreift. Dann würde sich ein beherrschendes
künstliches Ego überhaupt nicht entwickeln. Die Fesselung durch Gier, Hass und
Verblendung ist überwunden, und der Mensch ist emanzipiert und kann sich
ungehindert entwickeln.
Dieser Vers enthält die zentrale Botschaft Buddhas und Nāgārjunas:
Wir sind befreit, wenn wir die Abhängigkeit von Sucht, Gier, Neid, Hass und
Verblendung loslassen, überwinden und vermeiden. Aber das ist sicher nicht
allein mit dem Verstand zu schaffen: Welcher Drogen- oder Alkoholsüchtige zum
Beispiel weiß nicht genau, dass er von einer tödlichen Sucht abhängig ist und
dem Tod entgegeneilt. Aber der „Ergreifer“ kann die Sucht nicht steuern und zur
Ruhe kommen lassen. Er ist der Sucht und Gier verfallen und kann sich nicht
mehr selbst steuern. Buddhas Achtfacher Pfad der Befreiung kann jedoch von
allen Menschen begangen werden. Wer vom Ergreifer zum Boddhisattva-Handelnden
wird, gelangt zur Freiheit und Unabhängigkeit von der scheinbar nicht zu
beherrschenden Sucht und Gier. Es heißt im Sūtra von den Grundlagen der
Achtsamkeit von einem solchen freien Menschen: „Unabhängig lebt er und haftet
an Nichts in der Welt.“[iv]
Dieser Vers beschreibt
den fundamentalen Wendepunkt im Leben eines Menschen, der gelernt hat, seine
Gier und seinen Durst zu steuern. Dann gibt es keine Blockaden durch die Statik
und Starrheit des Glaubens an eine fiktive Substanz im Menschen. Wenn das
überwunden ist, befreit man sich von determinierenden Abhängigkeiten. Deshalb
hebt die buddhistische Lehre die große Bedeutung der Selbststeuerung hervor.
Auch bei manchen recht
intelligenten Menschen kann es zur Steuerung durch Ideologien kommen, ohne dass
sie sich dessen bewusst seien, erklärt Nishijima Roshi. Sie seien dann nicht im
Gleichgewicht. Dabei entwickelt sich eine eindimensionale, oft übermächtige
Dynamik, die zu Leiden und Unglück führen muss. Wenn dann die soziale Umgebung
zudem Verstärkung und Gratifikation zurückkoppelt, wird die gefährliche
doktrinäre Verengung solchen Menschen kaum bewusst werden. Sie wollen den Gang
und die Philosophie ihres Lebens gerade nicht ändern. Psychologisch trifft man
auf diese Zusammenhänge zum Beispiel bei narzisstisch gestörten
Persönlichkeiten, die etwa durch soziale Erfolge im Beruf gestützt werden und
sich ihren Problemen und ihrer psychischen Krankheit nicht stellen.
Nishijima Roshi betont die Bedeutung der
klaren Wahrnehmung, um die Realität der Welt zu erkennen und nicht von
Doktrinen ergriffen zu werden. Er fragt, wie es überhaupt möglich sei,
Wirklichkeit zu erfahren ohne eine geschulte und klare Wahrnehmung. Der Geist
könne nämlich fast beliebig manipuliert werden, während die Wahrnehmung einen
direkten Kontakt zur Wirklichkeit ermögliche und insofern als Korrektiv zu
abstrakten, weltfremden Theorien nützlich und sogar notwendig sei. Wenn also
der Mensch ideologisch verzerrt von bestimmten Objekten ergriffen werde, könne
die Wirklichkeit durch eine klare, direkte Wahrnehmung zurückgeholt werden.
Buddhas Befreiungslehre setzt genau bei diesen Problemen an, um solche
Teufelskreise zu durchbrechen. Er lehrte, dass es in jeder Phase und sogar in
jedem Augenblick unseres Lebens die Chance der Emanzipation und Befreiung von
einer solchen Zwangsläufigkeit gibt, sodass Leiden und Elend weitgehend
überwunden werden und aus unserem Leben verschwinden. Lebensfreude und
Kreativität eröffnen dann für uns neue Horizonte.
Für die Möglichkeit, aus dem fatalen deterministischen Ablauf
herauszukommen, verwendet Nāgārjuna den wichtigen Ausdruck „zur Ruhe kommen“.
Dieser hat auch in der Präambel eine zentrale Bedeutung für die Beschreibung
des Befreiungsweges. Demnach führen die formenden Kräfte und die Dynamik des
Lebens gerade nicht deterministisch und mit mechanistischer Zwangsläufigkeit
zum Leiden, Elend und zu Schmerzen, sondern der Mensch befreit sich selbst von
negativen Entwicklungen. Dadurch kann er den großen Frieden bei gleichzeitigem
klarem Handeln verwirklichen.
Aber wie kann sich jemand zu Weisheit, Freiheit und Lebensglück
weiterentwickeln, wenn er ein „Aneigner“ und Egoist geworden ist? Nāgārjuna
behandelt ein solches Leiden und das heilsame
Werden in den folgenden Versen. Er nennt zunächst die Formen des Leidens
wie Geburt, Alter, Krankheit und Tod sowie Schmerzen, Sorgen, Wehklage,
Niedergeschlagenheit und Beunruhigung. Diese Leiden setzen bei den fünf
Komponenten des Menschen, den Skandhas, an. Genau dort können auch wir ansetzen
und das Leiden zur Ruhe kommen lassen. Wir können bestimmte Probleme, Krisen
und äußere Katastrophen nicht ganz vermeiden – das ist die Wahrheit vom Leiden.
Aber es geht darum, wie wir damit fertigwerden und vor allem zusätzliches oder
grundloses Leiden vermeiden können. Es kommt darauf an, dass wir unsere
Probleme so verarbeiten, dass unser Leiden zur Ruhe kommt und wir unserem Leben
eine neue heilsame Richtung geben und auf dem neuen sinnvollen Weg vorankommen.
Nāgārjuna fasst zusammen, dass ein Nichtwissender die „Wurzeln“ seines
Leidens und deren Kräfte selbst formt. Dadurch geht er den Weg in die
Teufelskreise seines Lebens in dieser Welt, dem Samsāra. Ein Unwissender ist
nur ein „Ausführer“, aber kein Gestalter seines Lebens. Dagegen sieht ein
„Wissender“ die konkrete Diesheit von sich selbst und der Welt. Buddha
beschreibt dieses Befreien vor allem im Achtfachen Pfad der Befreiung, der die
rechte Sichtweise, das rechte Handeln, die rechte Achtsamkeit, den rechten
Lebenserwerb, die rechte Ausdauer und Energie sowie die rechte Meditation und
Sammlung umfasst. Dabei schildert Buddha die Meditation sehr praktisch und
detailliert und gibt den Menschen damit ein wirksames Mittel an die Hand, um zu
Reflexion, Selbstreflexion und größtmöglicher Selbstbeobachtung sowie Freiheit
für Entscheidungen zu gelangen.
Mit den Begriffen „Wissen und Erkenntnis“ spricht Nāgārjuna die wahre
buddhistische Lehre an, die ohne Zutun göttlicher Kräfte oder überirdischer
Energien den Menschen in die Lage versetzt, sich selbst zu befreien und neue
bessere Lebenschancen wahrzunehmen. Allein dieser Ansatz muss meines Erachtens
in Anbetracht der Zeit um 500 vor der Zeitenwende geradezu als Revolution für
die menschliche Befreiung und Therapie eingeschätzt werden. In allen mythischen
Gesellschaften geht es dagegen überwiegend um außermenschliche, meist gute oder
gefährliche göttliche Kräfte, die auf das Leben der Menschen, Familien und Volksstämme
einwirken würden und nur durch religiöse Praktiken zu beeinflussen seien. In
der vorbuddhistischen Zeit hatte sich eine derartige determinierende und
ritualisierte Religion (Brahmanismus) gesellschaftswirksam entwickelt. Die
Brahmanen, also die Priester der damaligen Religion, behaupteten von sich, dass
sie sogar die Götter mit ihren Ritualen und Fähigkeiten steuern und somit
selbstverständlich auch die lebenden Menschen determinieren könnten.
Wenn das „Nichtwissen zur Ruhe gekommen ist“, verlieren die negativen
formenden Kräfte jedoch ihre Wirksamkeit, und wir werden unabhängig. Diese
Entwicklung und dieses gute Werden können wir selbst durch heilsames Handeln
fördern und unterstützen.
Nāgārjuna hat in den vorherigen 25 Kapiteln doktrinäre Fehlentwicklungen
mit großer philosophischer Präzision destruiert und dabei nur in kurzen
Anmerkungen auf den Buddhismus der wahren Befreiung vom Leiden und der
Bewältigung menschlicher Probleme verwiesen. In diesem Kapitel fasst er nun die
beiden grundsätzlich möglichen Wege menschlichen Lebens zusammen und schildert
einerseits den Ausweg und die Befreiung aus einer determinierten negativen
Entwicklung. Das ist seine klare, positive Interpretation der buddhistischen
Lehre. Andererseits umreißt er eine zwangsläufige Abhängigkeit von Gier, Hass
und Verblendung, die zum Leiden führen muss. Diese leidhafte Entwicklung nimmt
nach Nāgārjuna ihren fatalen Gang, wenn die Lehre Buddhas unbekannt ist oder
durch falsche Doktrinen verzerrt wird.
Er beschreibt die zwölf Faktoren, die maßgeblich dafür sind, ob ein
Leben in doktrinärer Unwissenheit, Unfreiheit und im Leiden verläuft oder ob es
zur Befreiung und Emanzipation als Aufbruch in eine neue offene Zukunft und
Lebensform führt. Diese Faktoren sind zumindest teilweise zeitlich gegliedert
und werden daher in der Literatur als schrittweise Abfolge des Befreiungsweges
interpretiert. Aber dieser zeitliche Ablauf ist meines Erachtens zumindest
variabel und kann je nach der Individualität des Menschen, der den Weg geht,
abgewandelt werden.
Grundsätzlich gibt es für dieses Kapitel zwei unterschiedliche
Interpretationsmöglichkeiten. Erstens können die zwölf Phasen der menschlichen
Entwicklung auf drei aufeinanderfolgende Leben und die jeweiligen
Wiedergeburten verteilt werden. Das ist die Standard-Interpretation, wie sie
auch bei Kalupahana und Garfield vorliegt. Zweitens können die zwölf Faktoren
oder Phasen einem bestimmten Leben von der Geburt bis zum Tod zugeordnet
werden. Aus meiner Sicht ist eine solche Unterscheidung allerdings nicht
erforderlich, und ich gehe davon aus, dass Nāgārjunas stark empirisch und
phänomenologisch orientierte Arbeitsweise für verschiedene Alternativen
anwendbar ist. Sicher verfügt die überwiegende Mehrzahl der heutigen Menschen
über keine realen und belastbaren Erfahrungen der Wiedergeburt, daher habe ich
meine Interpretation vor allem auf dieses eine Leben bezogen. Für die Deutung,
die drei Wiedergeburten einbezieht, verweise ich besonders auf die
MMK-Interpretationen von Kalupahana und Garfield.[v]
Die Vier Edlen Wahrheiten Buddhas beschreiben den therapeutischen Weg
der Emanzipation und Befreiung aus Leiden und Elend unabhängig vom Glauben an
die Wiedergeburt. Gleiches gilt für die Fünf Hemmnisse und die Sieben Faktoren
der Erleuchtung. Da Nāgārjuna sich in der Präambel des MMK explizit auf die
Lehren Buddhas bezieht und die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad in
den Mittelpunkt seiner eigenen Lehre stellt, sollte meines Erachtens auch
Kapitel 26 vor allem als präzise Beschreibung des therapeutischen
Emanzipationsweges verstanden werden. Dabei ist es weniger wichtig, ob sich die
Befreiung in diesem Leben oder im Verlauf von mehreren Wiedergeburten ereignet.
Zudem warnt Nāgārjuna im letzten Kapitel des MMK eindringlich vor irreführenden
Doktrinen und illusionären menschlichen Sehnsüchten im Hinblick auf die
Wiedergeburt.
Wie in der Präambel und in verschiedenen Kapiteln ausgeführt, verwendet
Nāgārjuna für die Freiheit und Unabhängigkeit von falschen Doktrinen den
Begriff „Leerheit“. Leerheit ist eine Sichtweise und Bezeichnung des
gemeinsamen wechselwirkenden Entstehens, frei von Verzerrungen durch extreme
und falsche Ansichten.[vi]
Die zunehmende Unabhängigkeit und Befreiung von einengenden und unsinnigen
Doktrinen erfordern die klare fortlaufende Beobachtung von uns selbst, die
Buddha mit Achtsamkeit[vii]
bezeichnet. Dabei möchte ich auch auf Kants zentrale Aussage der Aufklärung
hinweisen: „Habe den Mut, selbst zu denken!“
Nāgārjuna untersucht die
verschiedenen Faktoren der Unfreiheit sowie der Befreiung in unserem Leben
daraufhin, ob sie von falschen doktrinären Ansichten und Extremen abhängig sind
bzw. ob sie im Gegenteil durch eigenes „Wissen“ zur Freiheit führen und unser
Leiden so zur Ruhe kommt. Mit diesen zwölf Faktoren wird eine zusammenhängende
Deutung der Problembewältigung und Emanzipation des Menschen gegeben, die nicht
durch den religiösen Glauben an ein ewiges Ātman-Selbst oder unveränderliche
Dharmas dominiert wird. Wir werden zwar immer wieder mit Problemen konfrontiert
– Leiden durch Einsamkeit, Angst und Stress wegen Überforderung und
Schicksalsschlägen, Angst vor Arbeitslosigkeit, Krankheiten und dem Verlust
geliebter Menschen –, aber bei der Bewältigung kann der wahre Buddhismus
wirkungsvoll helfen. Kurz gesagt: Es geht um die Wirklichkeit selbst. Doris
Zölls schreibt dazu: „Die Wirklichkeit jedoch zu erkennen, dazu braucht es ein
ganz neues Erleben. Dieses Erkennen wird im Zen als das große Erwachen beschrieben.
Wir erwachen aus den Träumen, lassen die Bilder hinter uns, die wir uns über
das Leben machen.“[viii]
Auch die heutige Gehirnforschung, Biologie und Psychologie gehen von der Wechselwirkung unseres Wissens, Könnens, Planens, Handelns und unserer ethischen Werte mit den anderen Bereichen des Menschen aus. Geist und Handeln müssen Hand in Hand gehen, um Selbstwirksamkeit zu erreichen. Eine Lehre der substanzhaften oder essenzhaften Isolation ist eine unsinnige und einseitige metaphysische Doktrin.
[i] Dogen: Shobogenzo, Band 2, S. 27ff.
[ii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 75ff.
[iii] Näheres hierzu in den Interpretationen von Kalupahana
und Garfield
[iv] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I
[v] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 370ff.; Nāgārjuna: The Fundamental Wisdom of the Middle Way
(übersetzt und kommentiert von Jay L. Garfield), S. 335ff.
[vi] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), Kapitel 24.18, S. 418f.
[vii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S.16ff.
[viii] Zölls, Doris: Mumonkan. Sich selbst finden in den
Weisheiten alter Zen-Koans, S. 13