Sonntag, 9. Januar 2022

MMK, Kap. 21: Lebensprozesse der Veränderung und Selbststeuerung des Menschen


Kalupahana fasst Kapitel 21 des MMK ähnlich wie Garfield folgendermaßen zusammen: „Dieses Kapitel schließt Nāgārjunas Untersuchung der Natur der menschlichen Persönlichkeit ab, wie sie sich fortlaufend entwickelt und auflöst, und zwar in Abhängigkeit von den eigenen Handlungen (Karma). In dem Diskurs über das Wissen des Anfangs spricht Buddha von der Evolution und dem Auflösen nicht nur der Welt, sondern auch der menschlichen Persönlichkeit. Dieser Diskurs war primär dafür gedacht, die ziemlich statische Konzeption der Welt und der sozialen Ordnung zurückzuweisen, die von den indischen, philosophischen und religiösen Partitionen angeboten wurden.“[i] Buddha hat sich allerdings nicht primär mit Schöpfungstheorien und -mythen der Welt und des Menschen beschäftigt, sondern sehr viel mit pragmatischen und therapeutischen Möglichkeiten der Befreiung und Entwicklung gearbeitet.

In diesem Kapitel analysiert Nāgārjuna, wie sich der Mensch überhaupt entwickelt, was sich bei ihm ereignet und was die Entwicklung fördert. Vor allem wird die Beziehung zum Handeln untersucht, das heißt, wie ein Mensch durch sein Handeln, Denken und Reden zu seiner eigenen guten Entwicklung und Emanzipation beiträgt und welche kausalen Prozesse der Veränderung er steuert und steuern kann. Dabei zieht Nāgārjuna die Grundlagen heran, die er in den vorherigen Kapiteln für die Dharmas und den Menschen erarbeitet hat. Hier wird nun der ganze Mensch behandelt, zum Beispiel beim Zusammenwirken und Funktionieren der fünf Komponenten des Menschen, der Skandhas. Der Prozess der gemeinsamen Entwicklung (sambhava) kann wörtlich mit „Zusammen-Werden“ übersetzt werden. Die Vorsilbe sam steckt auch im Begriff pratitya samutpada, der das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung bezeichnet. Er ist die zentrale Aussage in der Präambel des MMK. Beim Menschen gibt es neben der körperlichen und geistigen Entwicklung auch fundamentale Auflösungs- und Zerfallsprozesse. Am deutlichsten wird dies beim Tod, bei dem die Körperlichkeit verschwindet, sich auflöst und auch die erkennbaren geistigen und psychischen Bereiche des Menschen zu Ende gehen.

Die Veränderungsprozesse des Menschen in seinem Leben lassen sich mit einem statischen Modell wie dem vorbuddhistischen ātman philosophisch und auch psychologisch nur ungenau oder überhaupt nicht beschreiben. Wer an eine fiktive substantiale Doktrin glaubt, kann Veränderungen, Entwicklungen oder Auflösungen nicht angemessen erkennen, analysieren und darstellen. Dazu sagt Nāgārjuna:

 

Vers 21.4

Wie könnte nämlich ein gemeinsames Werden ohne Auflösung und Entwerden verlaufen?

Denn niemals wird Nicht-Ewigkeit, also Veränderung und Werden, in dem wahren Seienden nicht gefunden.

 

Die dauerhafte Substanz und Entität verändern sich grundsätzlich überhaupt nicht. Das Gleiche gilt für die angeblich ewige menschliche Existenz, den ātman, den Buddha und Nāgārjuna radikal abgelehnt haben. Damit wenden sie sich auch gegen die Weltanschauung oder den Glauben von einer absoluten Substanz und Entität. Für diese kann es überhaupt keine Veränderungen geben, sie stehen daher nicht im Einklang mit der buddhistischen Lehre, vor allem dem wechselwirkenden Entstehen (pratitya samutpada), der Leerheit und den Vier Edlen Wahrheiten mit dem Achtfachen Pfad. Aber es gibt in lebenden Prozessen auch keinen abrupten Neubeginn aus dem Nichts heraus, auch und gerade nicht beim Menschen. Solche Prozesse und Funktionen verlaufen nach gesicherten Erkenntnissen der aktuellen Neurowissenschaft selbst-ähnlich, aber nicht selbst-identisch. Bei totaler Selbstidentität könnte es keine Veränderungen, Entwicklungen, kein Werden und überhaupt kein Lernen geben. Die zweite Verszeile besagt also, dass das wahre Seiende, das gerade durch Werden und Entstehen gekennzeichnet ist, in der Wirklichkeit immer veränderlich und dynamisch ist. Daher stimmen die Aussagen Nāgārjunas mit der modernen Neurobiologie weitgehend überein.

Nishijima Roshi ergänzt: „Namen und Bezeichnungen selbst können keine Wirklichkeit sein. Wenn es um den Namen der Co-Existenz geht, kann die doktrinäre Universalexistenz nicht wirklich sein, weil wir auf der Ebene der Worte und Vorstellungen operieren. Lediglich der isolierte Name kann scheinbar existieren, der also wie eine Entität gedacht wird. Durch solches Vorgehen wird aber der Zugang zur Wirklichkeit verstellt.“ Die geistigen Vorstellungen von Co-Existenz und Universalexistenz seien keine Wirklichkeit im Augenblick. „Gleiches gilt für Geburt und Tod, da sie nur Bezeichnungen für wirkliche Lebensprozesse sind“, erklärt Nishijima Roshi. „Co-Existenz und universale Existenz können nicht erkannt werden, wenn es nicht eine wahre Wirklichkeit gibt. Sie sind fiktive Sichtweisen und Perspektiven.“

Soweit also Doktrinen im Rahmen des Buddhismus entstanden sind, die dem fiktiven Substantialismus zuzuordnen sind, haben sie große Ähnlichkeiten mit den von Buddha abgelehnten Doktrinen des unveränderlichen ātman. An diesem Punkt setzt die De-Konstruktion Nāgārjunas an.

 

Vers 21.8

Gemeinsames Werden und Entwerden sind eben ohne etwas existentes Seiendes nicht zu finden.

Aber auch ohne gemeinsames Werden und Entwerden wird existentes Seiendes nicht gefunden.

 

Hier stellt Nāgārjuna fest, dass etwas dauerhaftes Existentes überhaupt nicht gefunden wird. Das ist unabhängig davon, ob es Werden und Entwerden gibt oder nicht. Buddha hat mit dem Sūtra für Kaccāna klar gemacht, dass es unsinnig ist zu sagen, irgendetwas existiert absolut oder existiert absolut nicht. Dies gilt, wenn man Existenz als etwas Dauerhaftes und Unveränderliches definiert. Genau dies behauptete jedoch die Augenblickstheorie der Sautrantikas: Das augenblickliche Entstehen und Vergehen gäbe es für den sehr kurzen Moment der Existenz. Nāgārjuna lehnt diese Doktrin ab und geht im Folgenden genauer darauf ein.

 

Vers 21.14

Wer dem isolierten dauerhaften Seienden zustimmt, ist gefesselt von der Ansicht der dauerhaften Beständigkeit oder des totalen plötzlichen Abschneidens und Beendens. Denn dieses so verstandene Seiende, eine fiktive dauerhafte Entität, würde ewig sein oder aber total beendet werden.

 

Beide Doktrinen hat Buddha als falsch und unheilsam abgelehnt, weil sie in der Wirklichkeit nicht zu beobachten sind, also phänomenologisch nicht erkennbar sind.

Nishijima Roshi erläutert: „Die Frage des ewigen Dauerhaften und des Augenblicklichen hat im Buddhismus große Bedeutung. Das gilt für Ideen und das Denken, aber auch für die Wirklichkeit, die wir direkt sehen können. Die Wirklichkeit sollte genau beobachtet werden, besonders wie wirkliche Phänomene entstehen und vergehen. Daraus ergeben sich Rückschlüsse, was nicht gesehen und beobachtet werden kann.“

Die erstarrte statische Gesellschafts- und Religionsordnung der Kasten des Brahmanismus war laut Buddha damals eine wesentliche Ursache für das Leiden der Menschen. Er hatte gravierende ethische Vorbehalte gegenüber dieser Gesellschaftsstruktur. Es ist bekannt, dass demgegenüber in seiner Sangha keine Unterschiede von Kasten anerkannt wurden oder wirksam waren. Auch Nāgārjuna richtet sich in diesem Kapitel gegen eine zutiefst ungerechte starre Schichtung der Gesellschaft durch Kasten. Man kann es durchaus als fundamentale Absage an eine derartige Gesellschaftsentwicklung in der Welt verstehen. Dadurch werden zudem Fragen des sozialen Karmas ganzer Gruppen und Völker einbezogen, also auch die Wirkungen der Menschen, Gruppen und Gesellschaften auf die gesamte kulturelle Entwicklung eines Landes.

Aus der aktuellen Gehirnforschung wissen wir, dass nur ein verhältnismäßig kleiner Bereich des Menschen durch genetische Informationen bestimmt ist, aber ein sehr viel größerer Bereich durch Lernen, soziales Handeln und Kommunikation geprägt wird. Wie auch immer dieses Verhältnis eingeschätzt wird, so ist sicher, dass physisches, psychisches und geistiges Handeln maßgebliche verursachende Impulse für die individuelle und soziale Entwicklung setzt. Dies gilt für das Überwinden des eigenen individuellen Leidens und für die weitergehende Befreiung, die Buddha als Erwachen bezeichnet.

Die Prozesse des Werdens und der Auflösung im menschlichen Leben werden Samsāra genannt, sind also Lern- und Veränderungsprozesse des Menschen. Dieses Werden hat im Buddhismus eine sehr große Bedeutung für die Welt und das menschliche Leben. Es ist zudem für die Erfahrung und Beschreibung unserer Lebensprozesse, Entwicklungen, Lernchancen und Befreiungswege unabdingbar. Ich verwende dafür auch den Begriff der Kreativität. Bei seiner Analyse schließt Nāgārjuna statische und spekulativ-metaphysische Denkmuster aus. Er geht nach meiner Einschätzung dabei konsequent phänomenologisch vor. Das heißt, er beobachtet und untersucht das genau, was sich in der Struktur und Dynamik der Wirklichkeit ereignet, ohne Verzerrungen durch Doktrinen und Ideologien. Das wahre, reale Werden wird mit dem Sanskrit-Wort bhava (mit kurzem a) bezeichnet. Ich möchte dafür auch den Begriff des Entwickelns benutzen. Nāgārjuna unterscheidet es streng von dem fiktiven substantialistischen Seienden bhāva (mit langem a). Die Semantik des Werdens in den authentischen Schriften Buddhas und im MMK unterscheidet sich somit fundamental vom doktrinären Substantialismus und Momentanismus. Kalupahana deutet dieses Kapitel vor allem als Kritik an der Doktrin der Sarvastivadins (Substantialismus) und der Sautrantikas (Momentanismus) sowie als Destruktion der entsprechenden metaphysischen Grundlagen.[ii]

Die wirklichkeitsnahe Lehre Buddhas und Nāgārjunas stellt die Verantwortung für das eigene Handeln in den Mittelpunkt. Dadurch wird die weitere Entwicklung des Menschen maßgeblich beeinflusst. Auf keinen Fall handelt es sich bei dieser Lehre um einen strikten Determinismus, in dem der Wille des Menschen keine Rolle spielt und der zu einem fatalistischen Weltbild führen muss. Damit ist allerdings keinesfalls der absoluten Freiheit des Menschen das Wort geredet. Denn es geht immer um die konkreten speziellen Situationen und den bestmöglichen Freiheitsgrad des menschlichen Handelns. Hier gibt es übrigens interessante Verbindungen zum Schlusskapitel von Hegels Phänomenologie des Geistes, die Georg W. Bertram in seinem systematischen Kommentar besonders hervorhebt.[iii]

Das Thema der Freiheit durch Überwindung einer Doktrin der Substantialität wird im vorliegenden MMK-Kapitel sehr genau untersucht. Wir müssen also einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel von konstanten unveränderlichen Dingen, Phänomenen, Entitäten oder gar Substanzen hin zu vernetzten wechselwirkenden Prozessen vornehmen. Das gilt für die Dharmas, aber in besonderem Maße für den ganzen Menschen mit seinen fünf Skandhas.

Bei dauerhaften statischen Entitäten kann es kein Entstehen und Vergehen der Dharmas geben. In der westlichen Philosophie dominierte das Paradigma des Seienden und des Seins, dessen Zeitlichkeit über viele Jahrhunderte immer mehr an die Peripherie des philosophischen Denkens geriet.[iv] Jede Verdinglichung, Trennung und fehlende Temporalität von fiktiven isolierten und dauerhaften Entitäten führt jedoch in die Irre und verdeckt die Wirklichkeit, anstatt sie zu beschreiben. Etwas total Dauerhaftes und Statisches des Menschen kann nach Nāgārjuna in unserem Leben und in der Welt nicht gefunden werden. Mit einem solchen Ansatz der Statik-Metaphorik kann man Befreiungs- und Lernprozesse nicht sinnvoll erklären. Aber genau um diese Prozesse der Befreiung vom Leiden und der Weiterentwicklung zum Erwachen und zur Erleuchtung des Menschen geht es in diesem Kapitel und grundsätzlich im Buddhismus. Nāgārjuna fasst in Bezug auf die fiktive Substanz-Ideologie zusammen:

 

Vers 21.21

Auf diese Weise sind der Zusammenhang und die Folge der drei Zeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht möglich.

Wie ist etwas als Fortsetzung und Folge des Werdens eigentlich beschaffen, das sich nicht in den drei Zeiten verwirklicht?

 

Nāgārjuna hat im zweiten Kapitel des MMK bei der Analyse der Zeit deren Kontinuität für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herausgearbeitet und die Trennung in Entitäten und Zeitstrecken widerlegt. Bei der totalen Trennung der einzelnen Momente gäbe es keine prozessuale Verbindung dieser drei Zeiten. Diese Doktrin könne also nicht stimmen, folgerte er.

In diesem letzten Vers des Kapitels fragt uns Nāgārjuna schließlich, wie etwas überhaupt beschaffen sein könnte, das sich nicht in den drei Zeiten verändert und sich nicht in der Wirklichkeit als Werden fortsetzt. Er lässt die Frage an dieser Stelle offen.

Nishijima Roshi resümiert: „Es ist nicht zwingend, dass in den drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Kreislaufprozesse unseres Lebens immer wieder von Neuem beginnen und sich auf diese Weise (ohne Weiterentwicklung) fortsetzen. Ein solcher Beginn des endlosen Wanderns im Kreislauf (der Wiedergeburten) ist nicht zwingende (Realität) und oft nur Gerede. Die drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht solchen (unproduktiven) Kreisläufen unterworfen, aus denen wir in Wirklichkeit ‚aussteigen‘ können.“



[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 61f.

[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way (Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 62 und S. 292ff.

[iii] Bertram, Georg W.: Hegels „Phänomenologie des Geistes“, S. 282ff.

[iv] Elberfeld, Rolf: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, S. 350