Kalupahana fasst Kapitel 21 des MMK ähnlich wie Garfield folgendermaßen zusammen: „Dieses
Kapitel schließt Nāgārjunas Untersuchung der Natur der menschlichen
Persönlichkeit ab, wie sie sich fortlaufend entwickelt und auflöst, und zwar in
Abhängigkeit von den eigenen Handlungen (Karma). In dem Diskurs über das Wissen
des Anfangs spricht Buddha von der Evolution und dem Auflösen nicht nur der
Welt, sondern auch der menschlichen Persönlichkeit. Dieser Diskurs war primär
dafür gedacht, die ziemlich statische Konzeption der Welt und der sozialen
Ordnung zurückzuweisen, die von den indischen, philosophischen und religiösen
Partitionen angeboten wurden.“[i]
Buddha hat sich allerdings nicht primär mit Schöpfungstheorien und -mythen der
Welt und des Menschen beschäftigt, sondern sehr viel mit pragmatischen und
therapeutischen Möglichkeiten der Befreiung und Entwicklung gearbeitet.
In diesem Kapitel analysiert Nāgārjuna, wie sich der Mensch überhaupt entwickelt,
was sich bei ihm ereignet und was die Entwicklung fördert. Vor allem wird die
Beziehung zum Handeln untersucht, das heißt, wie ein Mensch durch sein Handeln,
Denken und Reden zu seiner eigenen guten Entwicklung und Emanzipation beiträgt
und welche kausalen Prozesse der Veränderung er steuert und steuern kann. Dabei
zieht Nāgārjuna die Grundlagen heran, die er in den vorherigen Kapiteln für die
Dharmas und den Menschen erarbeitet hat. Hier wird nun der ganze Mensch
behandelt, zum Beispiel beim Zusammenwirken und Funktionieren der fünf
Komponenten des Menschen, der Skandhas. Der Prozess der gemeinsamen Entwicklung
(sambhava) kann wörtlich mit „Zusammen-Werden“
übersetzt werden. Die Vorsilbe sam
steckt auch im Begriff pratitya
samutpada, der das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung
bezeichnet. Er ist die zentrale Aussage in der Präambel des MMK. Beim Menschen
gibt es neben der körperlichen und geistigen Entwicklung auch fundamentale
Auflösungs- und Zerfallsprozesse. Am deutlichsten wird dies beim Tod, bei dem
die Körperlichkeit verschwindet, sich auflöst und auch die erkennbaren
geistigen und psychischen Bereiche des Menschen zu Ende gehen.
Die Veränderungsprozesse des Menschen in seinem Leben lassen sich mit
einem statischen Modell wie dem vorbuddhistischen ātman philosophisch
und auch psychologisch nur ungenau oder überhaupt nicht beschreiben. Wer an
eine fiktive substantiale Doktrin glaubt, kann Veränderungen, Entwicklungen
oder Auflösungen nicht angemessen erkennen, analysieren und darstellen. Dazu
sagt Nāgārjuna:
Vers 21.4
Wie könnte nämlich ein gemeinsames Werden ohne Auflösung
und Entwerden verlaufen?
Denn niemals wird Nicht-Ewigkeit, also Veränderung
und Werden, in dem wahren Seienden nicht gefunden.
Die dauerhafte Substanz und Entität
verändern sich grundsätzlich überhaupt nicht. Das Gleiche gilt für die
angeblich ewige menschliche Existenz, den ātman, den Buddha und Nāgārjuna
radikal abgelehnt haben. Damit wenden sie sich auch gegen die Weltanschauung
oder den Glauben von einer absoluten Substanz und Entität. Für diese kann es überhaupt keine Veränderungen geben,
sie stehen daher nicht im Einklang mit der buddhistischen Lehre, vor allem dem
wechselwirkenden Entstehen (pratitya samutpada), der Leerheit und den
Vier Edlen Wahrheiten mit dem Achtfachen Pfad. Aber es gibt in lebenden
Prozessen auch keinen abrupten Neubeginn aus dem Nichts heraus, auch und gerade
nicht beim Menschen. Solche Prozesse und Funktionen verlaufen nach gesicherten
Erkenntnissen der aktuellen Neurowissenschaft selbst-ähnlich, aber
nicht selbst-identisch. Bei totaler
Selbstidentität könnte es keine Veränderungen, Entwicklungen, kein Werden und
überhaupt kein Lernen geben. Die zweite Verszeile besagt also, dass das wahre
Seiende, das gerade durch Werden und Entstehen gekennzeichnet ist, in der
Wirklichkeit immer veränderlich und dynamisch ist. Daher stimmen die Aussagen Nāgārjunas
mit der modernen Neurobiologie weitgehend überein.
Nishijima Roshi ergänzt: „Namen und Bezeichnungen
selbst können keine Wirklichkeit sein. Wenn es um den Namen der Co-Existenz
geht, kann die doktrinäre Universalexistenz nicht wirklich sein, weil wir auf
der Ebene der Worte und Vorstellungen operieren. Lediglich der isolierte Name
kann scheinbar existieren, der also wie eine Entität gedacht wird. Durch
solches Vorgehen wird aber der Zugang zur Wirklichkeit verstellt.“ Die
geistigen Vorstellungen von Co-Existenz und Universalexistenz seien keine
Wirklichkeit im Augenblick. „Gleiches gilt für Geburt und Tod, da sie nur
Bezeichnungen für wirkliche Lebensprozesse sind“, erklärt Nishijima Roshi.
„Co-Existenz und universale Existenz können nicht erkannt werden, wenn es nicht
eine wahre Wirklichkeit gibt. Sie sind fiktive Sichtweisen und Perspektiven.“
Soweit also Doktrinen im Rahmen des Buddhismus entstanden sind, die dem fiktiven
Substantialismus zuzuordnen sind, haben sie große Ähnlichkeiten mit den von
Buddha abgelehnten Doktrinen des unveränderlichen ātman. An diesem Punkt setzt
die De-Konstruktion Nāgārjunas an.
Vers 21.8
Gemeinsames Werden und Entwerden sind eben ohne etwas
existentes Seiendes nicht zu finden.
Aber auch ohne
gemeinsames Werden und Entwerden wird existentes Seiendes nicht gefunden.
Hier stellt
Nāgārjuna fest, dass etwas dauerhaftes Existentes überhaupt nicht gefunden wird. Das ist unabhängig davon, ob es
Werden und Entwerden gibt oder nicht. Buddha hat mit dem Sūtra für Kaccāna klar
gemacht, dass es unsinnig ist zu sagen, irgendetwas existiert absolut oder
existiert absolut nicht. Dies gilt, wenn man Existenz als etwas Dauerhaftes und
Unveränderliches definiert. Genau dies
behauptete jedoch die Augenblickstheorie der Sautrantikas: Das augenblickliche
Entstehen und Vergehen gäbe es
für den sehr kurzen Moment der Existenz. Nāgārjuna lehnt diese Doktrin ab und
geht im Folgenden genauer darauf ein.
Vers 21.14
Wer dem isolierten dauerhaften Seienden zustimmt, ist
gefesselt von der Ansicht der dauerhaften Beständigkeit oder des totalen
plötzlichen Abschneidens und Beendens. Denn dieses so verstandene Seiende, eine
fiktive dauerhafte Entität, würde ewig sein oder aber total beendet werden.
Beide
Doktrinen hat Buddha als falsch und unheilsam abgelehnt, weil sie in der
Wirklichkeit nicht zu beobachten sind, also phänomenologisch nicht erkennbar
sind.
Nishijima Roshi erläutert: „Die Frage des ewigen
Dauerhaften und des Augenblicklichen hat im Buddhismus große Bedeutung. Das
gilt für Ideen und das Denken, aber auch für die Wirklichkeit, die wir direkt
sehen können. Die Wirklichkeit sollte genau beobachtet werden, besonders wie
wirkliche Phänomene entstehen und vergehen. Daraus ergeben sich Rückschlüsse,
was nicht gesehen und beobachtet werden kann.“
Die erstarrte statische Gesellschafts- und Religionsordnung der Kasten
des Brahmanismus war laut Buddha damals eine wesentliche Ursache für das Leiden
der Menschen. Er hatte gravierende ethische Vorbehalte gegenüber dieser
Gesellschaftsstruktur. Es ist bekannt, dass demgegenüber in seiner Sangha keine
Unterschiede von Kasten anerkannt wurden oder wirksam waren. Auch Nāgārjuna
richtet sich in diesem Kapitel gegen eine zutiefst ungerechte starre Schichtung
der Gesellschaft durch Kasten. Man kann es durchaus als fundamentale Absage an
eine derartige Gesellschaftsentwicklung in der Welt verstehen. Dadurch werden
zudem Fragen des sozialen Karmas ganzer Gruppen und Völker einbezogen, also auch
die Wirkungen der Menschen, Gruppen und Gesellschaften auf die gesamte
kulturelle Entwicklung eines Landes.
Aus der aktuellen Gehirnforschung wissen wir, dass nur ein
verhältnismäßig kleiner Bereich des Menschen durch genetische Informationen
bestimmt ist, aber ein sehr viel größerer Bereich durch Lernen, soziales
Handeln und Kommunikation geprägt wird. Wie auch immer dieses Verhältnis
eingeschätzt wird, so ist sicher, dass physisches, psychisches und geistiges
Handeln maßgebliche verursachende Impulse für die individuelle und soziale
Entwicklung setzt. Dies gilt für das Überwinden des eigenen individuellen
Leidens und für die weitergehende Befreiung, die Buddha als Erwachen
bezeichnet.
Die Prozesse des Werdens und der Auflösung im menschlichen Leben werden Samsāra genannt, sind also Lern- und
Veränderungsprozesse des Menschen. Dieses Werden hat im Buddhismus eine sehr
große Bedeutung für die Welt und das menschliche Leben. Es ist zudem für die
Erfahrung und Beschreibung unserer Lebensprozesse, Entwicklungen, Lernchancen
und Befreiungswege unabdingbar. Ich verwende dafür auch den Begriff der
Kreativität. Bei seiner Analyse schließt Nāgārjuna statische und spekulativ-metaphysische
Denkmuster aus. Er geht nach meiner Einschätzung dabei konsequent
phänomenologisch vor. Das heißt, er beobachtet und untersucht das genau, was
sich in der Struktur und Dynamik der Wirklichkeit ereignet, ohne Verzerrungen
durch Doktrinen und Ideologien. Das wahre, reale Werden wird mit dem Sanskrit-Wort
bhava (mit kurzem a) bezeichnet. Ich möchte
dafür auch den Begriff des Entwickelns
benutzen. Nāgārjuna unterscheidet es streng von dem fiktiven substantialistischen
Seienden bhāva (mit langem a). Die Semantik des Werdens in den
authentischen Schriften Buddhas und im MMK unterscheidet sich somit fundamental
vom doktrinären Substantialismus und Momentanismus. Kalupahana deutet dieses
Kapitel vor allem als Kritik an der Doktrin der Sarvastivadins
(Substantialismus) und der Sautrantikas (Momentanismus) sowie als Destruktion
der entsprechenden metaphysischen Grundlagen.[ii]
Die wirklichkeitsnahe Lehre Buddhas und Nāgārjunas stellt die
Verantwortung für das eigene Handeln in den Mittelpunkt. Dadurch wird die
weitere Entwicklung des Menschen maßgeblich beeinflusst. Auf keinen Fall
handelt es sich bei dieser Lehre um einen strikten Determinismus, in dem der
Wille des Menschen keine Rolle spielt und der zu einem fatalistischen Weltbild
führen muss. Damit ist allerdings keinesfalls der absoluten Freiheit des Menschen das Wort geredet. Denn es geht
immer um die konkreten speziellen Situationen und den bestmöglichen Freiheitsgrad
des menschlichen Handelns. Hier gibt es übrigens interessante Verbindungen zum
Schlusskapitel von Hegels Phänomenologie des Geistes, die Georg W.
Bertram in seinem systematischen Kommentar besonders hervorhebt.[iii]
Das Thema der Freiheit durch Überwindung einer Doktrin der
Substantialität wird im vorliegenden MMK-Kapitel sehr genau untersucht. Wir
müssen also einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel von konstanten
unveränderlichen Dingen, Phänomenen, Entitäten oder gar Substanzen hin zu
vernetzten wechselwirkenden Prozessen vornehmen. Das gilt für die Dharmas, aber
in besonderem Maße für den ganzen Menschen mit seinen fünf Skandhas.
Bei dauerhaften statischen Entitäten kann es kein Entstehen und Vergehen
der Dharmas geben. In der westlichen Philosophie dominierte das Paradigma des
Seienden und des Seins, dessen Zeitlichkeit über viele Jahrhunderte immer mehr
an die Peripherie des philosophischen Denkens geriet.[iv]
Jede Verdinglichung, Trennung und fehlende Temporalität von fiktiven isolierten
und dauerhaften Entitäten führt jedoch in die Irre und verdeckt die
Wirklichkeit, anstatt sie zu beschreiben. Etwas total Dauerhaftes und
Statisches des Menschen kann nach Nāgārjuna in unserem Leben und in der Welt
nicht gefunden werden. Mit einem solchen Ansatz der Statik-Metaphorik kann man Befreiungs- und Lernprozesse
nicht sinnvoll erklären.
Aber genau um diese Prozesse der Befreiung vom Leiden und der Weiterentwicklung
zum Erwachen und zur Erleuchtung des Menschen geht es in diesem Kapitel und
grundsätzlich im Buddhismus. Nāgārjuna fasst in Bezug auf die fiktive
Substanz-Ideologie zusammen:
Vers 21.21
Auf diese Weise sind der Zusammenhang und die Folge
der drei Zeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht möglich.
Wie ist etwas als Fortsetzung und Folge des Werdens
eigentlich beschaffen, das sich nicht in den drei Zeiten verwirklicht?
Nāgārjuna hat im zweiten Kapitel des MMK bei der
Analyse der Zeit deren Kontinuität für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
herausgearbeitet und die Trennung in Entitäten und Zeitstrecken widerlegt. Bei
der totalen Trennung der einzelnen Momente gäbe es keine prozessuale Verbindung
dieser drei Zeiten. Diese Doktrin könne also nicht stimmen, folgerte er.
In diesem letzten Vers des Kapitels fragt uns Nāgārjuna
schließlich, wie etwas überhaupt beschaffen sein könnte, das sich nicht in den
drei Zeiten verändert und sich nicht in der Wirklichkeit als Werden fortsetzt.
Er lässt die Frage an dieser Stelle offen.
Nishijima Roshi resümiert: „Es ist nicht zwingend, dass in den drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Kreislaufprozesse unseres Lebens immer wieder von Neuem beginnen und sich auf diese Weise (ohne Weiterentwicklung) fortsetzen. Ein solcher Beginn des endlosen Wanderns im Kreislauf (der Wiedergeburten) ist nicht zwingende (Realität) und oft nur Gerede. Die drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht solchen (unproduktiven) Kreisläufen unterworfen, aus denen wir in Wirklichkeit ‚aussteigen‘ können.“
[i] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 61f.
[ii] Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 62 und S. 292ff.
[iii]
Bertram, Georg W.: Hegels „Phänomenologie des
Geistes“, S. 282ff.
[iv] Elberfeld, Rolf: Phänomenologie der Zeit im
Buddhismus, S. 350