(Aus meinem Buch: Sternstunden des Buddhismus Band 3)
Die Leerheit ist eines der zentralen
Begriffe des Buddhismus und von tiefer Weisheit. Es gibt aber kaum eine andere
buddhistische Formulierung, die so häufig und fundamental missverstanden wurde,
wie die Leerheit. Sie wurde vor allem von dem genialen indischen Meister Nagarjuna formuliert und mit großen
Präzision analysiert. Aber seine Texte sind nicht einfach zu verstehen und
wurden leider häufig falsch oder ungenau übersetzt. Damit wurden sie unpräzise
in den Westen transportiert. Die Indologin Elisabeth Steinbrückner und ich
haben daher eine ganz neue Übersetzung aus dem indischen Urtext erarbeitet und
zur Grundlage unserer Interpretation gemacht. Dabei sind wir auf fast sensationelle
Ähnlichkeiten zur aktuellen Forschung lebender Systeme und der Gehirnforschung
gestoßen, die bisher nicht entdeckt wurden. So klug waren also die alten großen
Meister. Denn sie haben die Menschen und ihre Lebenswege sehr genau beobachtet
und ihre Weisheiten an uns weiter gegeben.
Der folgende Vers des Mittleren Weges,
MMK, ist zweifellos von fundamentaler Bedeutung. Meines Erachtens ist er das Herzstück des MMK und beschreibt in großer Klarheit den Sinn, also die
Bedeutung und Funktion, Sichtweise und Bezeichnung
der Leerheit (shūnyatā). Leerheit ist danach der Begriff für die unverzerrte Realität der Wechselwirkung des gemeinsamen Entstehens.
MMK, Vers 24.18
Was gemeinsames Entstehen
in Wechselwirkung hat, dieses sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben,
ergibt sich eben der mittlere Zugang (zum Buddha-Weg von Frieden und
Freude).
Nāgārjunas Aussage gliedert sich
zunächst in zwei Schritte und eröffnet dann den Weg zum Ziel des Buddhismus,
also dem Zugang zum Mittleren Weg.
Dieser Weg der Mitte führt zur Buddha-Wahrheit und zum Erwachen. Er vermeidet
die Extreme von ideologischen Übertreibungen, die die Wirklichkeit nicht
sachgerecht beschreiben können und damit auch keinen Ausweg aus dem Leiden
eröffnen. Solche Extreme führen nicht zum Erwachen und nicht zur Erleuchtung.
Ein Extrem ist zum Beispiel die Doktrin der absoluten Substanz oder Essenz.
Ausgangspunkt der Argumentation sind
das gemeinsame Entstehen und die
Wechselwirkung, wie es im Vers heißt: „Was gemeinsames Entstehen in
Wechselwirkung hat (pratitya samutpada), dieses sehen wir als Leerheit an.“
Das ist eine bemerkenswerte Formulierung, denn Nāgārjuna sagt hier, dass wir
das Betreffende so ansehen. Es wird also eine phänomenologische
Sichtweise der Wirklichkeit und nicht eine absolute Wahrheit beschrieben. Denn
die Wirklichkeit kann mit dem Denken nicht vollständig erfasst werden. Nāgārjuna
behauptet aber nicht, dass es überhaupt keine Wirklichkeit gäbe, denn das wäre
unsinniger Nihilismus. Durch duales Denken im Sinne des absouten „Entweder-Oder“
ist überhaupt kein Zugang zur Wirklichkeit möglich, und duales Denken
widerspricht grundsätzlich dem Buddha-Weg. Das heißt, dass die Wirklichkeit
ohne Extreme ist. Sie ist, wie sie ist. Die Wirklichkeit ist auch von Natur aus
frei und leer von einer falschen Doktrin, die Buddha nur angeblich gelehrt hat.
Leerheit bedeutet die Leerheit von
Unwahrheiten, Illusionen, Täuschungen und unsinnigen Doktrinen, die das
Leiden gerade nicht überwinden können.
Im nächsten Schritt geht es um die Aneignung
der Bezeichnung und des Begriffs der
Leerheit: „Indem wir uns diese Bezeichnung angeeignet haben, ergibt sich eben
der mittlere Zugang (zum Buddha-Weg
der Wahrheit).“ Mit dieser Bezeichnung können wir gut und wirkungsvoll
kommunizieren und tiefgründiger denken, und wir überwinden damit auch den
Dualismus. Aber die Leerheit ist kein Selbstzweck und nicht das Ziel des
Erlösungsweges, sondern sie eröffnet die ganzheitliche Weiterentwicklung
zum Erwachen, die sich auf dem Fortgang auf dem Mittleren Weg ereignet. Damit
ergeben sich die folgenden Schritte:
– Erkennen der intellektuell
unfassbaren Wirklichkeit, nämlich des gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung,
– Erkennen der Leerheit dieser Wirklichkeit von falschem Buddha-Dharma und
falschen Doktrinen,
– Benutzen der Bezeichnung „Leerheit“
zur effektiven Kommunikation für die weitere umfassende Entwicklung des
Menschen,
– Eröffnung des Mittleren Weges zum
Erwachen und zur Erleuchtung.
Verkürzt gesagt ist die Leerheit nicht das letzte Ziel der
menschlichen Entwicklung, sondern laut Nāgārjuna die Voraussetzung und
Bedingung für die kreative Weiterentwicklung. Er bezeichnet diesen Zugang zur
Buddha-Wahrheit durch die Leerheit als den Weg
der Mitte oder den Mittleren Weg. Dieser Weg über die Leerheit führt
zur Fülle und Lebendigkeit. Das heißt, die Leerheit von hemmenden und falschen
Doktrinen wie dem Substantialismus eröffnet die kreative Entwicklung des
Menschen und die Verwirklichung der Buddha-Natur.
Es ist erstaunlich, dass es so viele
unterschiedliche und verwirrende Kommentare von Wissenschaftlern und Autoren zur
Leerheit gibt. Daher ist die wirklich exakte Übersetzung von größter Bedeutung:
Die Leerheit ist die Sichtweise für das
gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada). Es handelt sich
also nicht wie die bisher üblichen Interpretationen es darlegen um eine
vollständige Identität von Leerheit
und pratitya samutpada, sondern die Leerheit ist unsere Sichtweise des
gemeinsamen Entstehens in Wechselwirkung. Nāgārjuna verwendet den Begriff „Sichtweise“
also, um die Beziehung von Leerheit und Wechselwirkung zu kennzeichnen.
Außerdem hat die Abfolge von Nāgārjunas
Argumentation in den vorherigen Versen große Bedeutung, denn eine davon
isolierte Interpretation der Leerheit kann meines Erachtens nicht valide sein.
Er beschreibt sie als den wahren Zugang der Mitte und des Gleichgewichts zum
Leben, zur Wirklichkeit, zur Befreiung, Lebenskraft und zur Emanzipation. Er
vermeidet also die Extreme der Ewigkeit und des Nichts genauso wie der
Unveränderlichkeit und des chaotischen Wechsels. Bei derartigen dogmatisierten
Verzerrungen und absoluten Negationen sprechen wir gerade nicht von Leerheit.
Obgleich damit die Semantik des Begriffs Leerheit wirklich eindeutig ist, hat
dieser Vers in vielen vergangenen Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein zu
gravierenden Missverständnissen und Verwirrungen geführt. Manche Autoren haben seine
Bedeutung sogar ganz übersehen.
Leerheit ist also unsere Sichtweise
der Wechselwirkung der Wirklichkeit und auf der Wortebene der akzeptierte
Begriff dafür. Und das gilt für die Wirklichkeit, soweit wir sie erkennen und wahrnehmen
können.[i]
Nach meinem Verständnis wird damit auch der Glaube an die mögliche
Allwissenheit und Allmacht ausgeschlossen, der im Brahmanismus von zentraler
Bedeutung war. Diese so bezeichnete Wirklichkeit ist keine absolute
Wirklichkeit und keine absolute Wahrheit, sondern die der praktischen und
kompetenten Erfahrung und eng mit der Sichtweise, also der ganzheitlichen und
genauen Wahrnehmung, verbunden. Zentral ist dabei die Erfahrung der Veränderung
und Bewegung. Deshalb möchte ich für diesen philosophischen Ansatz die
Bezeichnung „differentiale Ontologie“
vorschlagen, denn es geht nicht um ein unveränderliches Sein, sondern vielmehr um
Veränderungen bzw. um Beschleunigung oder Verlangsamung von
Veränderungen. Diese zentrale Aussage ist in der westlichen Philosophie nicht
ausreichend beachtet worden.
Ein wichtiges „Instrument“ dieser
Praxis und Erfahrung ist die von Buddha gelehrte und erprobte Achtsamkeit der
Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Wir sollten daher weniger über den
Begriff der Leerheit meditieren und ihn nicht verabsolutieren, als über dessen
Bedeutung in der Wirklichkeit, nämlich die Freiheit von Verzerrungen, Dogmen
und irrealen Annahmen wie einem substanzhaften ewigen und unveränderlichen
Selbst. Nishijima Roshi verwendet deshalb statt des Begriffs der Leerheit den
des Gleichgewichts in der Mitte von
irrealen gefährlichen Extremen des Idealismus und Materialismus. Damit möchte
er Irrtümer im Zusammenhang mit diesem Begriff vermeiden. Das Gleichgewicht
wird von Buddha als einer der sieben Faktoren des Erwachens und der Erleuchtung
genannt. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass ein solches Gleichgewicht von
zentraler Bedeutung für unser Leben ist, und dies im besonderen Maße, wenn wir
die andauernde Dynamik und Veränderung des Lebens und aller lebenden Systeme in
der Wirklichkeit einbeziehen. Ohne ein solches Gleichgewicht bzw. eine solche
Mitte würde sich zwangsläufig ein permanentes Chaos des Lebens ergeben, das in
desaströse Extreme führt. Wenn wir uns zum Beispiel die dramatischen
Fehlentwicklungen des deutschen Faschismus der Nationalsozialisten vor Augen
führen, wird klar, dass Hitler, Goebbels und Göring keine Mitte und kein Gleichgewicht
hatten. Ihr Handeln, Denken und ihre Ethik waren von Extremen bestimmt, die
ganz Europa in ein furchtbares Chaos stürzten.
Buddha hat die Fünf Hemmnisse der Erleuchtung herausgearbeitet. Sie werden zum
Beispiel durch Extreme von Körper, Gefühlen, Wahrnehmungen, Handlungswillen und
Bewusstsein erzeugt. Dazu zählen beispielsweise die Abhängigkeit von Drogen
oder Sex, dogmatischer Nationalismus, religiöser Fanatismus und Extremismus,
Geld- und Machtgier, egoistische Rücksichtslosigkeit und in neuerer Zeit auch
Internet-Sucht, Spielsucht und Abhängigkeit von sogenannten sozialen
Netzwerken. Durch solche Hemmnisse wird die menschliche Entwicklung zur
Klarheit und Freiheit in dramatischer Weise verhindert.
Ein Weg der Mitte, der Extreme,
Extremismus und Fundamentalismus nachhaltig vermeidet, ist zentral für die von
Gautama Buddha gelehrte Befreiung, Veränderung und die höchste immer weiter
gehende Verwirklichung der Klarheit auch in unserem eigenen Leben
(differentiale Ontologie). Wir werden dann nicht mehr von Ideologien, Dogmen,
verfestigten unheilsamen Vorurteilen und Vorstellungen sowie Täuschungen und
quälenden Abhängigkeiten und vor allem nicht von gefährlichen Extremen
behindert und gehemmt.
Bei
diesem zentralen Vers zur Leerheit ist es meines Erachtens zudem notwendig, auf
die Historie des Sanskrit-Begriffs shūnyatā einzugehen. In der Zeit Nāgārjunas
waren die indischen Mathematiker führend in der Welt, nicht zuletzt weil sie
das dezimale Zahlensystem entwickelt hatten, das aus den zwei Bereichen der
negativen und positiven Zahlen besteht. Die Mitte dieser beiden Zahlenbereiche
wird durch die Null, die keinen Eigenwert hat, gekennzeichnet und ermöglicht
damit die Funktionsweise der gesamten Arithmetik. Diese Null wurde von den
indischen Mathematikern als shūnyatā bezeichnet. Diese Erfindung der
Wissenschaftler erzeugte große Folgewirkungen auch in der Philosophie und im
Buddhismus.
Vor diesem Hintergrund muss man meines Erachtens die späteren Versuche
relativieren, die eine absolute Leerheit
postulieren und in Gefahr sind, die Abgrenzung zum Nichts und zum Nihilismus zu
verwischen. Die schwerwiegendsten Probleme bei der Interpretation dieses
wichtigen Verses entstanden dadurch, dass die Interpreten nicht von einer genauen Übersetzung des Sanskrit-Textes ausgegangen
sind und offensichtlich ihr Vorverständnis zur Leerheit und zum Buddhismus
bewusst oder unbewusst eingebracht haben. Sowohl Kalupahana als auch Garfield
übersetzen pratitya samutpada als
„abhängiges Entstehen“ und sagen zudem, dass dieses Entstehen identisch und synonym mit der Leerheit
sei.[ii]
Eine solche Identität ist aus meiner Sicht nicht überzeugend, weil sie
einerseits nicht die genaue Übersetzung aus dem Sanskrit wiedergibt und
andererseits Nāgārjuna grundsätzlich eine totale Identität im Buddhismus als
Extrem ablehnt. Die empirische und phänomenologische Wirklichkeit hat meines
Erachtens keine totale Identität. Dies würde zum Beispiel eine Korrelation von
100 Prozent bedeuten und ist in der Wirklichkeit nicht zu finden.
Weiterhin
sagen beide Autoren, dass eine dritte Identität mit dem Mittleren Weg besteht,
sodass es sich bei diesem Vers um eine dreifache
Identität handle: pratitya samutpada, Leerheit und Mittlerer Weg. Die
genaue Übersetzung bedeutet aber, dass die Bezeichnung der Leerheit den Zugang zur Realität des Mittleren Weges
als Befreiungsprozess eröffnet. Eine
solche dreifache Identität birgt die Gefahr, dass ungewollt substantialistisch
gedacht wird, denn die totale Identität und Differenz ist ein typisches Merkmal
der substantialistischen Philosophie. Diese destruiert Nāgārjuna aber gerade im
gesamten MMK.
Philosophisch
betrachtet beinhaltet dieser zentrale Vers 24.18 nach meinem Verständnis die
folgenden Aspekte:
– Ontologie: gemeinsames Entstehen in
Wechselwirkung der vernetzten Wirklichkeit,
– Bezeichnung:
Leerheit,
– Funktion: Eröffnung des
Mittleren Weges der Überwindung des Leidens und der Befreiung.