Mein
Lehrer Nishijima Roshi war einer der glücklichsten und klarsten Mensch, den ich
in meinem langen Leben kennen gelernt habe. Das ist für mich der verlässliche
Beweis für das Erwachen; und ich war mehrere Wochen Gast und Schüler in seinem
kleinen Appartement in Tokyo, kannte ihn also recht gut. Im Zusammenleben war
er erstaunlich einfach und bescheiden. Es war ein großen Glück, ihn zu kennen.
Er sprach übrigens kaum von Erleuchtung, sonder von Verwirklichung, um keine
unnötige Verwirrung zu erzeugen.
Die
Erleuchtung (japanisch Satori) oder
das Erwachen hat im Buddhismus zentrale Bedeutung. Gibt es sie wirklich, die
neue Klarheit, lebendige Freude, die Milde und Empathie zu anderen Menschen und
tiefe umwandelnde Verwirklichung in deinem Leben? Jeder Mensch kann sie
erfahren und erleben, das kann ich Dir bestätigen! Ich kenne zwei Menschen, die
ich als verwirklicht und erleuchtet bezeichnen kann. Der eine ist mein eigener
Lehrer, Nishijima Roshi. Buddhistische Verwirklichung ist also keine Illusion
oder Selbst-Täuschung sondern tatsächliches Leben und konkretes Handeln. Darauf
kannst Du vertrauen.
Aber
es ist auch bekannt, dass manche Pseudo-Lehrer und selbst ernannte Meister
andere täuschen, aus welchen Motiven auch immer. Daher ist Vorsicht geboten,
wenn du dich einem Lehrer anvertraust. Erleuchtung ist auch zu einem
marktgängigen Produkt geworden. Und schon Dogen warnte vor falschen Meistern
und Lehrern.
Durch
die Verwirklichung haben wir mehr Lebensenergie, mehr Freude, mehr Klarheit und
ruhen in unserer Mitte. Mit anderen Menschen kommen wir besser aus und lassen
uns nicht von Pessimismus, Fake News und Verschwörungstheorien anstecken. Das
ist in der jetzigen Korona-Krise besonders wichtig. Die Erleuchtung muss nicht
unbedingt der große einmalige Sprung sein, da sagt nicht zuletzt Meister Dogen
überzeugend. Und es ist sicher nicht der geistige Super-Sprung zum All-Wissen,
denn das gibt es für den Menschen nach meinem Wissen nicht. Auch die
Neuro-Wissenschaften können bestätigen, dass es so etwa wie Allwissen in
unserem Gehirn nicht geben kann. Allerdings ist die und Realität des
Unbewussten und die enge Verbindung mit dem Bewussten klar nachgewiesen.
Statt
des Sprungs zur großen Erleuchtung ist es vernünftiger, sich auf eine
schrittweise gute Entwicklung einzustellen und sein Leben kontinuierlich zu
verbessern. In der Psychologie heißt das die Selbst-Wirksamkeit. Sie geht Hand
in Hand mit unserer Übungspraxis und mit menschlich positiven Kontakten und
Wechsel-Wirkungen.
Dôgen
sagt, dass wir vor allem durch die Zazen-Praxis zur Wirklichkeit und Wahrheit
erwachen und damit ein erfülltes und
kreatives Leben führen. Wer an der
Zen-Meditation dran bleibt, wird sein Leben ganz sicher verbessern, je nach
Stetigkeit seiner Praxis, also entsprechen mehr oder weniger. Das kann ich aus
eigener Erfahrung voll bestätigen.
Aber
der Begriff der Erleuchtung wird vielfach missverstanden und auch immer wieder
missbraucht, so dass eine Klärung außerordentlich wichtig ist. In Japan gibt es
einen zweiten wichtigen Begriff, Kenshô, der
etwa „Selbst-Klarheit“ bedeutet. Marianne Wachs bezieht sich auf dabei auf
Daikan Enô (Hui-neng), und fügt hinzu:
„Nach einem kenshô erweist es sich
aber, dass nicht alle Begierden und Leidenschaften für immer verschwunden sind.
Es wird zwar begleitet von der Vernichtung der verblendeten Ansichten und aller
Zweifel an Buddha, Dharma und Sangha und an der eigenen Buddha-Natur."
Aber
die vier Übel Gier, Hass, Unwissenheit und Stolz seien noch wirksam. "Es
braucht noch manche Jahre des Trainings, um sich vollständig freizumachen“
Dōgen
behandelt in diesem Kapitel ausführlich und in die Tiefe gehend eine solche
Verwirklichung des Menschen beim Erwachen. Nishijima Roshi benutzt lieber den
Begriff der Verwirklichung als Erleuchtung, weil das weniger Missverständnisse
hervorruft, während Buddha bekanntlich von Erwachen sprach.
Dôgen
berichtet überzeugend dazu aus seiner ganz eigenen Erfahrung und seiner eigenen
Sicht: Diese große und tiefgreifende Verwirklichung erlebter er erst in China,
nachdem er seinen wahren Lehrer Tendo Nyijo gefunden hatte. In Japan hatte er
trotzt großer theoretischer und praktischer Anstrengung keine Erleuchtung
erlangen können. Dabei war die Praxis des Zazen in China von größter Bedeutung
für ihn. Er macht klar, dass man bei dieser Meditation mit Denken und Theorien
allein nicht zur Befreiung vorstoßen kann, dass also die Lebensphilosophie der
Gedanken und Ideen nur begrenzt dafür geeignet ist.
Aber
auch eine Lebensphilosophie des Materialismus, also der nur sinnlichen Wahrnehmung
bzw. des Genusses, ist ziemlich ungeeignet für die Verwirklichung. Das gilt vor
allem, wenn wir glauben, dass das Glück ohne eigene ausdauernde Praxis und wie
von selbst zu uns kommt. Denn eine solche Ideologie gibt es häufig bei
materialistischen Menschen.
Ich
möchte hier an die Erklärungen von Nishijima Roshi zur ersten und zweiten Erleuchtung im Buddhismus anknüpfen. Die
erste Erleuchtung entsteht durch korrektes Sitzen im Zazen. Diese Meditation
ist ohne vorgestellte Gegenstände und Themen. Nishijima Roshi sagt zudem in
aller Klarheit, dass die plötzliche und die allmähliche Erleuchtung überhaupt
nicht im Widerspruch zueinander stehen, wie dies im Zen-Buddhismus bisweilen
kontrovers diskutiert wird. Sie kennzeichnen nur unterschiedliche zeitliche
Sichtweisen der selben Wirklichkeit. Bei jedem Weg der Befreiung sei fortdauernden
Praxis notwendig, also die Meditation des Zazen.
Für
Meister Dōgen ist die Erleuchtung vor allem durch das Handeln aus der guten Mitte
und im gegenwärtigen Augenblick ausgezeichnet. Wiegesagt, ist es ihm zunächst in
Japan mit der Theorie des damaligen Buddhismus nicht gelungen, so etwas Ähnliches wie Erleuchtung selbst zu
erfahren. Wir können annehmen, dass er sich selbst gegenüber sehr ehrlich war
und dass ihn dies sicher von manchen sogenannten Meistern der damaligen Zeit unterschied.
Bekanntlich
reiste er dann nach China, wo er durch die Zazen-Praxis des Shikantaza („Nichts als Sitzen“) das
erlebte, was wir mit dem Begriff „Erleuchtung“ oder Verwirklichung bezeichnen.
Dies ist im Lehrsystem von Nishijima Roshi die umfassende buddhistische
Lebensphilosophie der Gesamtheit von Lehre und Praxis, also der umfassenden intuitiven
Weisheit und Klarheit im Augenblick und vor allem der klaren Wirkung mit Moral
und Ethik. Das rechte Handeln erläutert Dōgen in einem gesonderten Kapitel mit
dem Thema „Erzeugt kein Unrecht, sondern tut die vielfältigen Arten des
Rechten“.
Er
fragt danach, was passiert, wenn man aus dem Zustand des Erwachens wieder
heraus fällt und sich erneut in Täuschungen und Illusionen verstrickt.
Das
große Erwachen ist der Alltag und das tägliche Handeln der Buddhas und
Vorfahren im Dharma. Das Erwachen wird nicht durch eine Theorie des Erwachens
verwirklicht oder dadurch, dass man scharfsinnig darüber nachdenkt. Die
Verwirklichung ereignet sich schon gar nicht, wenn man anderen etwas vorspielt.
Es ist also von fundamentaler Bedeutung, das Erwachen als Vorstellung, Begriff und
Doktrin zu vergessen, es loszulassen und klar direkt zu handeln. Genauso
sinnvoll wie aktiv zu handeln kann es aber sein, etwas geschehen zu lassen und gerade
nicht einzugreifen, um dadurch zum Wohl des Ganzen zu handeln. Dieses Höchste
der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist nach Dōgen unauflösbar mit der
Zazen-Praxis und dem aktiven Leben im Alltag verbunden. Dieses Höchste sprengt
den Rahmen der Vorstellung und Theorie des großen Erwachens und geht weit
darüber hinaus.
Bei
den Menschen gibt es beim Erwachen nach Dôgen große Unterschiede, aber alle
verwirklichen es durch verdienstvolles Tun jeweils auf ihre eigene Weise und
mit den ihnen eigenen Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten können auf natürliches
Wissen gegründet sein, aber werden immer durch fortdauernde Übung und Anstrengung
entwickelt. Sie verbinden sich in Wechselwirkung mit der körperlichen
Realisierung des Erwachens und befreien sich so aus der Sackgasse von Zwängen und
Dogmen des Lebens.
Dôgen
sagt:
„Es gibt diejenigen, die angeborene
Weisheit haben“,
die
im Leben sich dann befreien. Andere beschreiten den Weg des Buddha-Dharma eher
durch Lernen und Studium, er sagt:
„Dann gibt es diejenigen, die ihre
Weisheit erlernen“.
Auch
dieses muss mit Praxis verbunden werden. Andere verfügen schließlich bereits
über das tiefe Wissen der Buddhas, das die künstliche Trennung des Pdeudo-Ich
von anderen Menschen oder von Subjekt und Objekt überwunden hat. Das wär die
Spaltung durch Dualität. Es gibt auch Menschen, die eine wunderbare und klare
Ausstrahlung haben, ohne dass sie einen Lehrer hatten oder die buddhistischen
Schriften studiert haben. Das heiß nichts anderes, als das Erwachen und die
Erleuchtung im Menschen angelegt sind und durch Übung und Praxis zur Blüte
kommen.
Dōgen
sagt, dass es unsinnig ist, bei der Verwirklichung nach klugen und törichten
Menschen zu unterscheiden, denn es geht vor allem um das Handeln und nicht um
Theorie, Wissen und Bewertung. Es ist missverständlich zu sagen, dass ein
Mensch dauerhaft erwacht ist oder nicht. Denn dies würde bedeuten, dass er die
unveränderliche Substanz des Erwachens besitzt. Diese Eigenschaft wäre aber eine Pseudo-Substanz im Sinne von
Nagarjunas, denn sie ist nur illusionäre Doktrin und massive Täuschung.
Denn
im Buddhismus gilt, dass die erlangte große Wahrheit kein unveränderliches
Eigentum eines Menschen ist, das wäre Substanz-Täuschung. Das wahre
authentische Handeln im Augenblick steht
im Vordergrund. So ist auch die zunächst eigenartige Aussage des großen
Meisters Rinzai zu verstehen, man
solle nicht denken, dass es schwierig sei, in ganz China einen Menschen zu finden,
der nicht erwacht ist. Nach Nishijima
Roshi heißt dies, dass der erwachte Zustand zwar natürlich ist, aber erst durch
Übungspraxis und Studium erarbeitet werden kann und muss. Oder anders
ausgedrückt: Jeder Mensch hat die Möglichkeit und das Potential zu erwachen.
Aber ohne Praxis und Ausdauer kann das Erwachen nicht verwirklicht werden.
Dôgen
sagt im Shobogenzo zu Meister Rinzai, dass man nicht in theoretisches,
abstraktes Denken und vor allem nicht in Dogmen abschweifen solle, um die
natürlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entfalten. Er fragt sogar, ob
Meister Rinzei zu sehr dem Substanz-Denken verhaftet ist und nicht klar
zwischen handelnder Wirklichkeit und theoretischer Doktrin unterscheidet. Es
wird im Übrigen zu Meister Rinzai berichtet, dass für ihn abstraktes Denken
zunächst ein großes Hindernis war, um zum Wirklichen, Konkreten und Natürlichen
vorzustoßen. In dieser Phase soll er eine gewisse intellektuelle Arroganz an den
Tag gelegt haben. Diesem Meister werden im Übrigen viele Koan-Geschichten mit
scheinbar paradoxen Fragestellungen und Aussagen zugeordnet. Dadurch soll gewohntes
doktrinären Denken und Fühlen ausgeschaltet werden, um zum Gleichgewicht, zur
Ruhe und zum eigenen Zentrum zu kommen. Es geht darum, über den dualistisch und
trennend denkenden Verstand hinaus zu kommen und zum Ganzen, zur guten
Wechselwirkung und zur Tiefe zu gelangen.
Dōgen
zitiert einen alten Meister, der die Frage eines Mönches beantwortet, wann
jemand wieder in die Täuschung zurückfällt, nachdem er das große Erwachen
erfahren hatte. Der Meister sagte dazu:
„Ein zerbrochener
Spiegel reflektiert nicht mehr. Heruntergefallene Blüten können nicht auf den
Baum zurückklettern.
Was
ist damit gemeint? In diesem Zitat wird klar gesagt, dass man Erwachen oder
Erleuchtung nicht als dauernde unveränderliche Eigenschaft hat, die man einmal
erlangt und dann sein ganzes Leben lang behält. Das wäre falsches
Substanz-Denken, den Erleuchtung wäre in dieser Ideologie eine Pseudo-Substanz.
Vielmehr kann sich der Zustand Erleuchtung von einem Augenblick zum anderen ändern.
Alles wird durch das jeweilige ganzheitliche Handeln bestimmt. Oder wie Buddha
sagt: Durch das wechselwirkende Entstehen beim Handeln. Genau in dem Augenblick
verwirklicht sich die Erleuchtung und Erwachen oder eben nicht! Wenn der Spiegel
zerbrochen ist, reflektiert er nicht. Es macht wenig Sinn, lange darüber
nachzugrübeln, wie schön er im früheren Zustand reflektiert hat, als er in der
Vergangenheit noch unversehrt und funktional war. Denn jetzt in der Gegenwart
ist er zerbrochen, alles andere sind nur Erinnerungen und Bewertungen, die im dualistischen
Denken auftauchen, aber denen keine wirkliche Qualität der Wirklichkeit im
Jetzt mehr zukommt.
Wenn
die Blüten von einem Baum heruntergefallen sind, wie zum Beispiel die
Kirschblüten, nützt es nach Dōgen nicht viel, sich traurig oder romantisch
vorzustellen, dass sie wieder oben auf den Ästen sitzen. Es ist noch
unsinniger, sie dort wieder anheften zu wollen. Die Natur und das Leben sind
durch dauernde Veränderungen gekennzeichnet. Tiefgreifende Erlebnisse der
Erleuchtung wirken fort, aber sie sind
nicht statisch und unnveränderlich.
Die
Tatsachen und das Handelns sind Realität im Hier und Jetzt. Sie haben so ihren
eigenen Platz in der Welt und im Universum, und zwar genau so, wie sie gegenwärtig
sind; nicht mehr und nicht weniger.
Es
ist wenig sinnvoll zu behaupten, im großen Erwachen gebe es absolut keine
Augenblicke der Unklarheit. Das wäre eine ungenau Idealisierung. Und die Klarheit,
Reife und Reinheit des großen Erwachens können immer noch weiter entwickelt
werden, wie Dôgen in einem folgenden Kapitel beschreibt. Die buddhistische Übungspraxis
sollte daher über das ganze Leben hinweg fortgeführt werden. Gautama Buddha
selbst betonte, dass jeder Mensch die Erleuchtung erlangen und das Leiden überwinden
kann, ganz gleich, wie tief er auch in Täuschungen, Unklarheiten und falsches
Handeln verstrickt ist. Gier, Hass und Verblendung als wichtigste Ursachen des
Leidens können erkannt und überwunden werden. Dann eröffnet sich der Augenblick
der Klarheit und Selbst-Verwirklichung. Es wird dazu berichtet, dass der bösartiger
Massenmörder Angulimala sich nach der direkten Begegnung mit Gautama Buddha
entschloss, sein Leben vollständig zu ändern. Er schloss sich der Sangha an und
verwirklichte das große Erwachen.
Dōgen
fordert uns auf, dass wir uns sehr gründlich mit verschiedenen Fragen,
Möglichkeiten und Grenzen des Erwachens beschäftigen. Dazu gehört auch die
Frage, wann ein Erwachter wieder in die Täuschung zurückfällt und was sich
genau in diesem Augenblick ereignet. Es könnte sogar sein, dass ein solcher Mensch
danach umso klarer erkennen kann, was Täuschung ist. Er kann dann anderen umso
besser als Lehrer und Therapeut helfen, aus Selbstlügen, Verdrängungen, Dogmen
und Illusionen herauszufinden. Und seine wieder verwirklichte Erleuchtung wäre
stabiler als vorher. Denn auch nach dem Rückfall hat jeder Mensch das Potential
zum Erwachen und Verwirklichung.
Wie
häufig verwechseln wir in unserem Alltag den äußeren Anschein mit der Wirklichkeit!
Man kann nach Dôgen sogar sagen, dass wir einen Räuber mit einem unschuldigen
Kind verwechseln und dann bei dem wirklichen Raub völlig überrascht sind. Umgekehrt
können wir in einem Kind einen Räuber sehen, obgleich dies völlig unsinnig ist. Wir sollten daran denken, dass sich
grausame Diktatoren wie Hitler gern mit Kindern in den Medien abbilden lassen,
um dem naiven Betrachter den Eindruck zu vermitteln, dass sie Kinder lieben und
genauso harmlos sind wie diese. Nach buddhistischem Verständnis geht ein Kind
bei umfassender Sichtweise über das weit hinaus, was wir unter dem verengten Begriff
„Kind“ verstehen. Wir vergessen leicht, dass auch ein Kind mit dem
dualistischen Verstand und vorgeprägten Geist nicht vollständig erfasst werden
kann. Wenn wir von einem Kind abwertend reden, kann dies niemals die Lehre des
Buddha-Dharma sein.
Ein
großer alter Meister wurde von einem Schüler gefragt:
„Stützt sich auch ein Mensch des
gegenwärtigen Augenblicks auf das Erwachen oder nicht?“
Dieser
antwortete:
„Das Erwachen ist nicht ohne Wirklichkeit,
aber wie können wir vermeiden, in das (dualistische) zweite Denken zu fallen?“
Wenn
man ganz im Hier und Jetzt lebt, also in der wirklichen lebendigen Sein-Zeit,
lebt man genau in der Wirklichkeit und Wahrheit. Schädliche unheilsame
Denkweisen und Emotionen haben keine Kraft mehr, sie können uns nicht mehr
verwirren und in falsche Richtungen treiben. Dazu ist Zazen eine sehr
wirkungsvolle Methode. Nach Nishijima Roshi ist man dann in der erstzen
Erleuchtung erwacht. Dann sind wir nicht durch das dualistische Denken auf
vergangene Zeiten fixiert und verlieren uns nicht in Spekulationen über die Zukunft.
Der Mensch des wirklichen Jetzt ist unabhängig von solchen Fixierungen. Sein
ganzes Leben, Handeln, Denken, Wahrnehmen und Empfinden ist von Klarheit und
Lebensfreude durchdrungen und baut darauf auf. Das verwirklich sich besonders
durch Empathie zu anderen Menschen. Die Abwertung anderer hat ein Ende. Aber
wie kann man das tatsächlich realisieren?
Die
erste Frage des Schülers in der obigen Zen-Geschichte zum Augenblick kann also mit
einem einfachen Ja beantwortet werden. Der alte Meister bestätigt dies, indem
er sagt, dass das Erwachen zweifellos wirklich ist und dass dies für den
Menschen des klaren Jetzt gilt. Er sieht aber die Gefahr, dass man in das
dualistische und doktrinär bewertende Denken zurückfallen kann und dass sich
damit das Bewusstsein in ein Subjekt und ein Objekt aufspaltet. Oder dass eine rigorose
Trennung in ein Ich und die anderen Menschen auftut oder das Ich vom Universum
getrennt ist. Dies widerspricht Buddhas zentraler Lehre des gemeinsamen
Entstehens in Wechselwirkung, pratitya
samutpada. Dabei gibt es keine Trennung oder Isolation. Heute wissen wir
aus der Wissenschaft, dass die Ökologie und vor Allem unser Gehirn vernetzt
sind und nicht aus getrennten Bausteinen bestehen. Und Leben ist immer Wechselwirkung,
wie der Gehirnforscher Spitzer betont: Hin und Zurück, nicht in eine Richtung,
also uni-direktiional. Im Leben der Menschen ist doktrinäre Trennungen häufige
Ursache für Leiden, Missverständnisse, Empfindlichkeiten, Verletzungen und
Aggressionen. Allzu schnell und oft unbewusst betrachtet man dann den anderen
als Feind und unterstellt ihm böse Absichten. Das ruft wiederum bei dem
betroffenen negative Emotionen und Gegen-Reaktionen hervor. Dann bauen sich
gegenseitige Aggressionen und Vorwürfe auf, und dies steuert das bösartiges
gegenseitige Handeln.
Ein
solches gespaltenes zweites Denken, wie es von Dôgen ausgedrückt wird, bewirkt
also, dass wir aus dem Erwachen und der Erleuchtung wieder herausfallen, es sei
denn, wir erkennen diese ungute Veränderung selbst in aller Klarheit. Dann
können wir durch wahres buddhistisches Handeln gegensteuern und uns befreien.
Wir entlasten so unseren Körper-und-Geist von den Hemmnissen auf dem Weg der
Erleuchtung, die Buddha überzeugend beschrieben hat. Das betrifft vor allem die
Gier nach sinnlichen Genüssen zu Lasten anderer, das Übelwollen anderen
Menschen gegenüber, andauernder Zweifelsucht, aufgeregter Hektik, unruhigem
Leben usw. Diese Verhalten sind die von Buddha beschriebenen Hemmnisse auf dem
Weg der Befreiung.
Wenn
es uns die Überwindung der Hemmnisse und geistigen blockaden nicht gelingt, ist
uns wirklich die intuitive umfassende buddhistische Weisheit verloren gegangen.
Wir können dann nicht mehr unmittelbar moralisch handeln, denken und fühlen.
Wie
Dōgen sagt, sollten wir prüfen, ob wir uns im Handeln und Denken wirklich auf
unser Erwachen stützen, also uns gründlich im Herzen und im Geist prüfen. Dann
kann neue Klarheit wachsen und entstehen. Buddha bezeichnet dieses als
Achtsamkeit. Es geht natürlich nicht ohne eine gewisse Anstrengungen und
besonders Ausdauer und Stetigkeit. Aber dieser Aufwand lohnt sich bestimmt!
Satte
geistige und körperliche Bequemlichkeit in der angeblichen Komfortzone deines
Lebens führen nicht weiter. Wer denkt, das Erwachen käme von allein, der kann
lange warten, denn es wird bestimmt nicht kommen, wenn man nichts tut.
Man
darf sich das Erwachen nicht wie ein Ding, eine Entität oder eine
unveränderliche Substanz vorstellen. Diese Wahrheit hat Meister Nagarjuna mit
hoher philosophischer Präzision herausgearbeitet. Er sieht eine solche
Pseudo-Substanz als wichtigste Ursache des Leidens an. Wir müssen uns also von
unheilsamen Doktrinen, Vorurteilen und Dogmen entleeren, wie er sagt. Das ist
der wahre Sinn der Leerheit. Das Erwachen kommt also nicht irgendwo her oder
geht irgendwo hin. Auch die Frage, ob das Erwachen schon vorher vorhanden war
oder nicht, ist von untergeordneter Bedeutung und würde nur das Denken unnütz
anstacheln und uns zu Spekulationen verführen. Erwachen heißt im Hier und Jetzt
erwacht handeln und erwacht denken, erwacht fühlen. Es heißt, dass wir aus
einem umfassenden Geist heraus leben, ohne dualistische Spaltung. Man könnte es
fast als nüchtern und pragmatisch bezeichnen, wie Nishijima Roshi es mir einmal
erklärte. Und dies zeichnet den Buddhismus ja gerade aus.
Die
Frage nach dem ewigen Wesen des Erwachens bringt also nichts. Jeder gute buddhistische
Meister warnt uns vor solchen Illusionen. Wir sollten uns nicht solchen
spekulativen Fantasien hingeben, wenn es darum geht, Befreiung und Freude in
unserem zu finden und weiter zu entwickeln. Den so etwas gibt es am besten in
der Wirklichkeit. Denn wahres Lernen gelingt bei Freude und ´Dran-Bleiben´
besonders gut, wie wir aus der Gehirnforschung wissen.
Wer
krampfhaft nach der egoistischen eigenen Erleuchtung greift, greift ins Leere. Er
greift vergeblich nach einer Schein-Doktrin und einer Schein-Wahrheit. Aber durch
den Geist des Erwachens kann das gespaltene dualistische Denken von Ich und Du,
von dogmatisiertem Gut und Böse, von Ich und Universum usw. aufgelöst und zur
Harmonie gebracht werden. Dadurch verliert der Dualismus seinen zerstörerischen
Einfluss. Auf diese Weise finden das unterscheidende Denken und das gespaltene
Bewusstsein zu einem erwachten Geist also zum harmonische Ganzen. Wie Nagarjuna
zusammenfasst: Das gemeinsam gute Entstehen in Wechselwirkung. Dann können unnütze
Spekulationen wie „ich bin erwacht“ oder „das Erwachen ist zu mir gekommen“ zur
Ruhe kommen, verlieren als zerstörerische Kraft und das Denken kann sich in
Harmonie zusammenfügen.
Hans-Peter Dürr, ein
theoretische Physiker, Schüler von Heisenberg, und Träger des alternativen
Nobelpreises, spricht davon, dass wir ein neues, nicht dualistisches Denken
brauchen. Wenn dieses neue Denken nach Dōgen aus dem Erwachen selbst entstanden
ist und sich mit dem Erwachen ereignet, kann man dies ohne Frage als Erleuchtung
bezeichnen. Dogen sagt dazu: Dann kann ich zum Beispiel ruhig darüber
nachdenken, was ich gestern getan habe, ohne dass mein Ich von gestern wie ein
anderes abgespaltenes Subjekt erscheint. Das wäre vom Jetzt getrennt. Dann kann
das Ich von gestern mit dem Jetzt von Heute eine harmonische Ganzheit bilden.
Dies alles darf aber nicht
nur gedacht werden, sondern sollte in der Übungspraxis und im Alltag selbst erfahren,
erlebt und verwirklicht werden. Dazu ist geistige Schulung zwar unbedingt notwendig
aber nicht hinreichend. Denn das praktische Handeln in Wechselwirkung mit
Geist, Wahrnehmung und Gefühlen ist im Leben notwendig. Das ist auch die
zentrale Lehre des großen Meisters Vasubandhu. Dieses erwachte gute Handeln,
Fühlen und Denken vermeidet Extreme und kommt aus unserer starken klaren Mitte.