Mittwoch, 14. Juli 2021

Die Zazen-Praxis befreit uns und heilt unser Leiden wie die Akupunktur (Zazenshin)

 


Im alten China wurden Bambusnadeln bei der Heilmethode der Akupunktur verwendet. Sie wurden genau an der richtigen Stelle am Körper angesetzt und bewirkten eine erstaunlich gute Heilwirkung. Diese Heil-Methode ist heute auch im Westen unbestritten, sie erfordert eine gründliche fachliche Ausbildung. Es gibt auch bei uns wahre Könner der Akupunktur. Dōgen vergleicht in diesem Kapitel 27 die Meditations-Praxis des Zazen mit einer solchen erstaunlich gut wirksamen und heilenden Nadel. Diese wurde damals aus Bambus gefertigt. Er schildert damit nicht nur die großartige Heilwirkung des Zazen, sondern sagt auch, wo und wie genau die wirksame „Nadel“ gesetzt wird, also durch die Meditationshaltung. Er hält es für ausgeschlossen, dass man überhaupt Zugang zum wahren wirklich befreienden Buddhismus findet, wenn man nicht Zazen praktiziert, in Sanskrit Samādhi.

Die Zen-Meisterin Ritsunen Linnebach, mit der ich viele Jahre zusammengearbeitet habe, schreibt dazu: „Als ich dann 1982 im Zen-Zentrum von Meister Deshimaru zum ersten Mal mit gekreuzten Beinen und geradem Rücken vor einer weißen Wand saß, fühlte ich intuitiv und sehr stark, dass es das war, was ich immer schon gesucht hatte“

Um richtige und wirkungsvolle Akupunktur ausführen zu können, bedarf es also einer gründlichen Ausbildung, langjähriger Erfahrung und genauer theoretischer Kenntnis der geeigneten Körperstellen. Vor allem muss großes praktisches Können hinzukommen, damit die gute Heilwirkung wirklich eintritt. Wir können beim Zazen darauf vertrauen, dass es sich um eine hervorragende und bewährte Heil-Methode handelt.


In diesem Kapitel erklärt Dōgen durch ein Gespräch zwischen dem großen Meister Yakusan und einem Mönch, dass die Praxis des Zazen etwas anderes ist als das übliche theoretische Denken und weit darüber hinausgeht. Ein Mönch fragt dabei den Meister, was er beim Zazen „im stillen-stillen Zustand denkt“. Antwort:

“Den wirklichen Zustand des Nicht-Denkens denken…Es ist Nicht-Denken.“

Dōgen fügt hinzu:

„Wir sollten in der Praxis das Berg-stille Sitzen lernen, und wir sollten die authentische Übertragung des Berg-stillen Sitzens empfangen.“

Man sitzt dabei ruhig wie ein Berg, und das übliche unterscheidende duale Denken und Fühlen sind verschwunden. Dann ereignet sich bei der Zazen-Praxis die erste Erleuchtung, wie Meister Nishijima dies nennt. Wenn man aber während des Zazen den bewussten Willen hat, etwas Großes und Bestimmtes zu erreichen, wie zum Beispiel das All-Wissen oder die absolute Seeligkeit im Alltag, und wenn man sein Denken und Fühlen gewollt in diese Ziel-Richtung treibt, kann sich die Zazen-Praxis nicht entfalten. Dann kann sich die erste Erleuchtung also gar nicht ereignen! Beim Zazen kommt es darauf an, sich nicht durch eine bewusste Denk-Anstrengung auf ein Ziel einzuengen oder dabei zu verkrampfen. Dōgen fragt uns:

„Wie kann es möglich sein, dass in dem ganz ruhigen, stillen Zustand kein Denken da ist? Und warum verstehen (die Menschen) nicht den still-stillen Zustand jenseits (von Denken und Nicht-Denken)?“

Beim stillen, ruhigen Sitzen in der Zazen-Praxis müssen wir genau auf die richtige körperliche Haltung achten und den Kopf nach oben strecken halten. Dabei sollten wir den Blick schräg nach unten richten und auf die weiße Wand vor uns schauen. Die Augen sind dabei halb geschlossen. Dann ereignet sich das nicht-dualistische umfassende intuitive Denken. Es reicht weit in das Unbewusste hinein. In der Sôtô-Tradition sitzt man vor einer weißen Wand. Dieser Zustand und dieses Handeln im Zazen überschreiten nach Dōgen sogar die reine Verstandestätigkeit eines Buddha, des gedachten Dharma. Dieses nicht theoretische Denken ist jenseits aller intellektuellen Möglichkeiten und Vorstellungen. Die richtige Energie des Zazen-Sitzens wird vor Allem durch die unmittelbare ganzheitliche Übertragung vom Meister auf den Schüler bewirkt, also des Dharma mit Körper und Geist.

Es sei aber falsch zu sagen, das bewusste Ziel des Zazen bestehe darin, eine absolute Ruhe des Geistes mit Gewalt zu erzwingen. Das wäre eine falsche Konzentration auf ein absolutes Ziel, würde zu kurz greifen und wäre ein grundsätzliches Missverständnis. Allerdings bedarf es als ersten Schritt der Entscheidung, den Befreiungsweg zu gehen. Dōgen lehnt bewussten „Konzentrations-Zen“ für die Zazen-Praxis ab. Nach meinem Verständnis stimmt Zazen mit der vierten Vertiefung der Meditation von Buddha überein: Offene Weite, ohne Gegenstände und ohne Bewertungen. Diese Meditationsübungen werden zum Beispiel im großen Sûtra der Achtsamkeit genannt. Es besteht bei der gedanklichen Verengung die Gefahr dass der Geist verkrampft würde und nur illusionäre Zustände und spekulative absolute Traumvorstellungen erzeugt werden. „Konzentrations-Zen“ ist das Gegenteil von Nicht-Denken im Sinne Dōgens und ist in Gefahr, dualistisch zu verzerren.

Es ist auch falsch es zu sagen, dass die Zazen-Praxis zwar für Anfänger und andere Schüler des Buddhismus notwendig sei, dass die Meister selbst aber nicht mehr Zazen praktizieren müssten. Bei den Meistern, so die falsche Begründung, seien alle Tätigkeiten des Alltags wie Gehen, Stehen, Liegen, Sitzen usw. bereits buddhistische Meditation. Dazu gehöre auch die Praxis, sich zu unterhalten, sich auszuruhen, sich zu bewegen usw., denn bei allen diesen Tätigkeiten fühle sich der Meister glücklich und frei, weil er ja schon erleuchtet sei. Dōgen lent das ab, weil die besondere körperlich und geistige Haltung die unglaubliche positive Wirkung und Heilung erbringt. Das ist die ganz besondere Form des Zazen-Sitzens in der seit  langem bewährten Haltung.

Zazen-Praxis bedeutet Buddha-Handeln, ohne sich mit dem bewussten Ziel anzustrengen, selbst nach einer bestimmten Vorstellung Buddha werden zu wollen. Dieses Handeln übersteigt also das vorgefasste Ziel, ein wunderbarer Buddha zu werden, so zentral ein solcher Entschluss zu Anfang sein mag. Dieses Buddha-Handeln ist bereits die verwirklichte Welt und das verwirklichte Universum. Wenn man mit Gewalt eine eigene fixe Idee von Buddha anstrebt, verstrickt man sich allzu leicht in gedankliche und emotionale „Netze und Käfige“. Die heilende Kraft des Augenblicks der Zazen-Paxis kann sich nach Dōgen dann überhaupt nicht entfalten und verschwindet.

Dōgen beschreibt hierzu ein Gespräch der beiden Meister Nangaku und Baso: Baso, ein Schüler von Meister Nangaku, wurde von diesem gefragt:

„Was möchtest du erreichen, und welches Ziel hast du, wenn du Zazen praktizierst?“

Baso antwortete, dass er durch Zazen ein Buddha werden möchte. Aber Dōgen fragt uns: Gibt es aus der tiefen eigenen Erfahrung irgendein Ziel, das höher zu bewerten ist, als der Zustand der Zazen-Praxis selbst? Sicher nicht. Er wiederholt häufig, dass Zazen keinem willentlich angestrebten Ziel dienen darf, sondern Handeln und Zustand beim Streben nach der Wahrheit für sich selbst wirksam ist, und sich selbst vollständig genügt. Das Wichtigste dabei ist, dass Gedanken, Gefühle und der Dualismus zur Ruhe kommen. Man kann sagen, dass es sich Zazen natürlich ereignet, wenn man die richtige Sitzhaltung eingenommen und die Vorstellungen von Körper und Geist „fallen gelassen“ hat.

Dōgen fragt weiter, ob es jemals einen sinnvollen Bereich der Wahrheit gegeben hat, der als Ziel angestrebt wurde aber unabhägig vom Sitzens im Zazen ist. Welches Ziel würde genau in dem Augenblick, in dem man Zazen praktiziert, überhaupt verwirklicht? Ein solches vorgestelltes Ziel und ein solches auf das Ziel fixierte Denken wären dasselbe wie das Bild eines Drachen im Verhältnis zum wirklichen Drachen. Ein derartiges angestrengtes Denken und die Verengung auf Ziele würden die unmittelbare Kraft und Fülle der Gegenwart des Zazen im Hier und Jetzt und Universum zunichte machen. Der Geist würde verkrampft oder vielleicht in weit entfernte, gedachte Räume und Zeiten wegwandern und wäre nicht mehr unmittelbar wirksam. Die fixierte idealistische Absicht, ein Buddha zu werden, würde den Menschen in sich selbst verstricken, und die wahre Zazen-Erfahrung könnte sich im gegenwärtigen Augenblick nicht ereignen, nicht entfalten und nicht verwirklichen.

Gleichwohl sollte man die Absicht des Mönchs Baso nicht gering schätzen, die im obigen Koān-Gespräch deutlich wird. Der starke Wille zur Wahrheit, der von Dōgen in dem Kapitel zum Erwecken des Bodhi-Geistes herausgearbeitet wird, und auf den Weg des Buddha-Dharma führt, hat einen zentralen Stellenwert im Shōbōgenzō. Ohne das Streben nach der Wahrheit kann man im Auf und Ab des täglichen Lebens kaum je die wahre Richtung finden und die vielen menschlichen Irrtümer erkennen. Man könnte die Sackgassen nicht vermeiden, die sich vor Allem im sozialen Zusammenleben auftun. Wir brauchen unbedingt einen solchen Kompass.

In der obigen Geschichte ergreift Meister Nangaku einen in der Nähe liegenden Ziegelstein, statt das Gespräch fortzusetzen. Er beginnt ihn an dem dortigen Felsen zu schleifen. Er erweckt damit den Eindruck, als er wolle den Ziegel ganz fein polieren. Dies ist aber materiell natürlich wenig sinnvoll. Auf die Frage des Mönchs, was der Meister mit dem Schleifen des Ziegels denn eigentlich wolle, antwortet dieser: „Ich poliere ihn, um einen Spiegel daraus zu machen“. Der Mönch Baso erlebt plötzlich und unerwartet bei diesem Schleifen und Handeln das große Erwachen! Meister Nangaku hat also keinen materiellen Spiegel geschliffen, sondern den Geist und die Psyche seines Schülers befreit. Dann konnte sich die volle Wirklichkeit und Wahrheit spiegeln und wirksam werden.

Nishijima Roshi lehrt im Sinne von Dōgen, dass die richtige Zazen-Praxis bereits selbst die erste Erleuchtung ist, und dies gilt sowohl für Anfänger, als auch für Fortgeschrittene und auch für Meister. Es bedarf also keiner weiteren fixierte4n Absichten und Ziele, wenn Körper und Geist die richtige Haltung im Zazen einnehmen. Man kann dann nichts hinzutun oder wegnehmen. Im Zazen ereignet sich bereits die erste Erleuchtung, und genau dann ist man Buddha. Dies ist die tiefe Bedeutung des absichtslosen Sitzens.

Es sei sinnlos, mit Worten über Illusion und Verwirklichung der Erleuchtung zu diskutieren. Auch das intellektuelle oder esoterische Streben nach einer vollständigen Erklärung oder logischer Zergliederung des Zazen führt nicht weiter. Dōgen schließt diesen Teil des Kapitels mit der Feststellung, dass bereits zu seiner Zeit und auch schon in früheren Zeiten nur wenige Menschen wirklich verstehen, dass Zazen eine solch großartige Übungspraxis ist. Diese Meditation ist wie eine Nadel in der Akupunktur, die große Heilwirkung erzeugt.

Für Dōgen ist die richtige Körperhaltung bei der Zazen-Praxis eine notwendige Voraussetzung für den Übungsweg des Buddha-Dharma. Er verwendet dabei das Gleichnis von einem Ochsenkarren: Alle meinen, dass man den Ochsen antreiben oder gar schlagen müsse, wenn das ganze Gefährt stehen geblieben ist und weiterfahren soll. Der Ochse ist dabei das Symbol für den Geist, der den Wagen ziehen soll. Aber sehr häufig sei der Wagen selbst das Problem und die Ursache für den Stillstand und nicht der Ochse. Der Wagen ist dabei das Symbol für den Körper. Wenn demnach der Körper die Ursache für das ganzheitliche Problem ist, nützt die Anspannung des Geistes nicht viel.

Dōgen spricht mit diesem Gleichnis die Funktion des Körpers bei der Zazen-Praxis an und kommt zu dem Schluss, dass Körper und Geist immer eine Ganzheit bilden. Diese darf nicht getrennt werden, besonders beim Zazen. Sonst bleibt unser Karren eben stehen. Bei dieser Praxis wird die einseitige Konzentration auf den Geist aufgegeben, denn sie sei eine Sackgasse. Man soll daher nicht auf den Geist „einprügeln“. Es mag zwar eigenartig erscheinen, dass man nach der obigen Geschichte den Wagen schlägt und nicht den Ochsen. Vielleicht ist es allerdings überhaupt sinnvoll, weder den Geist noch den Körper oder beide zu prügeln. Mit der Ganzheit von Körper und Geist ist das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung gemeint, die unser Leben und die gesamte Ökologie kennzeichnet.

Arroganter Stolz auf das eingebildete Beherrschen der Körperhaltung führe nicht weiter. Wer sich selbst in seiner Zazen-Haltung bewundert und meint, damit sei er ja schon als echter Buddhist ausgewiesen und sei nach Dōgen sogar Buddha, ist einem gefährlichen Irrtum aufgesessen. Wer den Lotossitz so wunderbar beherrscht und dies stolz den anderen oder sich selbst vorführt, ist tief in einen solchen Irrtum des Ego verstrickt. Ich-Stolz verhindert die Heilwirkung des Zazen. Auch der Stolz darauf, längere Sitzperioden auszuhalten zu können als die meisten, verhindert die natürliche Befreiung von Körper und Geist. Dies wäre sicher auch der falsche Weg.

Das berühmte Zazen-Gedicht von Meister Wanshi

Dōgen vergleicht bei der Interpretation von Wanshis Zazen-Gedicht die die heilende Kraft des Zazen mit der Spitze einer Akupunktur-Nadel. Er sagt damit, dass wir mit der Zen-Meditation die mit großen Aufgaben und Funktionen in diesem Leben und in dieser Welt meistern. Diese Kraft manifestiert sich bereits von Anfang an vor uns. Sie ist das wahre Verhalten und Handeln der Buddhas, die über physikalische Geräusche und materiellen Formen hinausgeht. Er verwendet die Formulierung „ein flüchtiger Blick der Zeit, bevor unsere Eltern geboren wurden“ für die Vergangenheit, deren Beginn wir nicht ermessen können. Wir leben und handeln beim Zazen befreit ganz im gegenwärtigen Augenblick.

Die Spitze dieser Zazen-Nadel würde ihrerseits die großen buddhistischen Meister achten, die Dōgen häufig ewige Buddhas nennt. Das ist die Wechselwirkung von heilender Nadel und Meditation. Beide würden niemals herabgesetzt oder beschimpft. Wichtig bei der Zazen-Praxis ist, dass wir nicht nachlässig sind und Körper und Geist nicht zu bequem schonen, nur weil wir uns nicht anstrengen möchten. Wir verlieren beim Zazen unseren früheren begrenzten Geist und unsere Erinnerung des früheren isolierten dualen Körpers. Wir lassen diesen einengenden Körper und Geist fallen und können dadurch das Tor des Friedens und der Freude zum Buddha-Dharma öffnen. Die Nadel des Zazen sei genau Gautama Buddha in seiner natürlichen Form und seiner legendären Größe.

Die zentrale heilsame Wirkung, die am Anfang des Gedichts von Meister Wanshi erwähnt wird, ist nach Dōgen die Zazen-Praxis selbst. Die großen alten Meister lehrten nicht durch abstrakte Worte, sondern durch diese Praxis. Ohne diese sei die Weitergabe des authentischen Buddha-Dharma an Schüler und Nachfolger überhaupt nicht möglich. Dabei wird die buddhistische Robe auf den Nachfolger übertragen. In dieser Zeremonie sind Meister und Schüler von Angesicht zu Angesicht anwesend und sie sind ein Ganzes. Dies gilt für jeden Einzelfall der Übertragungskette aller Vorfahren im Dharma. Nishijima Roshi führt die Zeremonie übrigens im Dunkeln durch, beleuchtet das Dokument mit einer kleinen Lampe und erinnert damit an Meister Daikan Enô (Huineng), der um Mitternacht allein mit dem Meister von Angesicht zu Angesicht die Dharma-Übertragung erhielt.

Wanshi spricht nicht von der dualen Wahrnehmung durch die Sinne, weil diese meist nur die äußere Form und die materielle Seite erfassen können. Wir wissen durch die Gehirnforschung heute sehr viel genauer, als es in Dōgens Zeit bekannt war, dass die verzerrte Wahrnehmung ungenau und fehlerhaft iswt. Gleichwohl ist sie für das praktische Leben natürlich unbedingt erforderlich und ein wichtiger Teil der Wirklichkeit. Wir sollten daher trainieren, genau und unverzerrt hinzusehen. Beim Zazen geht es auch nicht um intellektuelles Verstehen und nicht um ehrgeizigen Aktionismus. Deshalb spricht Wanshi von ganzheitlichem ungehinderten Wahrnehmen und Erfahren.

Man sollte sich nicht in der spekulativen Wahrnehmung des Universums oder in der subjektiven Selbstbetrachtung verlieren, wie es heute leider manchmal aufgrund der falsch verstandenen Achtsamkeit geschieht. Denn es geht gerade nicht um die subjektive Befindlichkeit und vor allem nicht um die Ich-zentrierte Empfindlichkeit. Es geht auch nicht darum, ob der Praktizierende eine hohe Intelligenz hat oder nicht. Im Zen-Buddhismus finden sich viele Beispiele, die vom Erwachen der sogenannten „beschränkten“ Menschen berichten. Eine übersteigerte, messerscharfe Intelligenz ist oft sogar hinderlich, um den Dualismus und das dialektische Argumentieren zu überwinden und zum Wesentlichen und Einfachen von Körper-und-Geist vorzudringen.[1]

Die Aussage Wanschis:

„Gegebenheiten nicht ablehnen, schon erleuchtet sein

bezieht sich nicht auf die gängigen idealistischen Vorstellungen von der Erleuchtung. Alle Begriffe wie Erleuchtung, Erwachen oder Leerheit können den wahren Zustand im Zazen nur ganz grob beschreiben unde darauf hindeuten. Wer keine eigene Erfahrung mit der Zazen-Praxis hat, wird sich zwangsläufig etwas Falsches darunter vorstellen. Dies umso mehr, je stärker er die Erleuchtung mit Gewalt anstrebt, aus welchen Motiven auch immer. Vorstellungen über die „spirituelle Erleuchtung“ sind nicht mit der Wirklichkeit des Zazen-Sitzens identisch.[2]

Die strahlende Klarheit des Zazen lässt keinen Raum für unterscheidende dualistische Gedanken, für verschiedensten Denkobjekte, für die Ablehnung der Umwelt und Missachtung anderer Menschen.[3] Es geht nicht um eine nachträgliche Verbindung der angeblich vorhandenen dualistischer Umstände mit der strahlenden Klarheit, denn beides bildet von Anfang an eine Ganzheit.

Wanshi fügt hinzu:

„Das ganze Universum ist niemals verborgen gewesen.“

Es ist auch nicht eine andere geheimnisvolle spirituelle Welt, die sich von unserer radikal unterscheidet und uns nicht zugänglich ist. Die Ganzheit von Meister und Universum wird in der Zen-Geschichte häufig mit Meister Fuke in Verbindung gebracht, der ein Zeitgenosse von Meister Rinzai war. Nach gewöhnlicher Vorstellung handelte Fuke fast wie ein „verrückter Heiliger“. Und es ist sicher kein Zufall, dass er als Ahnherr des Spiels mit der Bambusflöte, der Shakuhachim gilt. Deren Sinn ist es nicht, durch virtuose Musik zu beeindrucken, sondern eine Ganzheit der Wechselwirkungt und das Zusammen-Wirken von Spieler, Zuhörer, Ton, Körper-und-Geist und Universum zu realisieren.[4] Da ich selbst Shakuhachi spiele, ist mir Meister Fukes Handeln recht vertraut.

Wanshi verwendet an dieser Stelle eine für uns vielleicht merkwürdig klingende Formulierung, um die Zazen-Praxis zu beschreiben:

„Durch das Sitzen die Haut aufbrechen, die unsere Mütter geboren haben.“

Mit diesem Aufbrechen ist die Überwindung der verengten Sicht und Vorstellung von unserem Körper und Geist gemeint, indem sozusagen unsere körperliche Haut durchlässig und die Abgrenzung zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben wird. Dann kann sich eine offene Wechselwirkung entwickeln. Im erweiterten Sinn bedeutet es auch, dass die engen Vorstellungen und Traditionen unserer Herkunft, Familie oder Kultur aufgelöst werden, sodass sich die Wirklichkeit in ihrer unbegrenzten Weite zeigt und die Menschen von Fixierungen frei werden, die sie wie Ketten fesseln,.

In seinem Kommentar zu Wanshi verbindet Dōgen das Denken mit dem intuitiven klaren Erfahren und Erleben und stellt fest, dass sie nicht von äußerer Hilfe abhängig sind. Das heißt, dass der Zustand im Zazen von sich aus fein und subtil ist und keiner Hilfe von einem anderen Menschen oder einer sozialen Gruppe bedarf, schon gar nicht in einer ideologisch verengten Sekte. Denn der Zazen-Zustand ist natürlich und wird nicht im Nachhinein für getrennte angeblichen Substanzen erzeugt. Es geht nicht um unbestimmte oder gar romantische Gefühle, sondern um intuitive, klare Wahrnehmung der konkreten Form der Natur und unsere Lebens.

Die Wahrheit des Buddha-Dharma ist nach Dōgen in der Natur der Berge, Flüsse, Zäune und Kiesel gegenwärtig, denn „die Natur lehrt die Dharma-Wahrheit“.[5]

Jedes süßliche, romantisierende Gefühl für die Natur ist dem Zen-Buddhismus vollkommen fremd. Beim Zazen durchstößt man sozusagen die romantisierenden Gefühle im Zusammenhang mit der Natur und erfährt dadurch ihr wahres ungehindertes Wirken, das mit uns selbst und dem Universum untrennbar verbunden  ist. Wer es gelernt hat, die Natur genau zu beobachten, ist überrascht und fasziniert von ihrer Feinheit, Vielfalt, Schönheit und Klarheit.

Den Zustand im Zazen beschreibt Dōgen nicht nur als fein und subtil, sondern auch als kraftvoll und ausgestattet mit einer natürlichen Energie. Wir haben beim Zazen teil an der kosmischen Kraft, die uns besonders in den schwierigen und problematischen Situationen des alltäglichen Lebens stärkt, indem sie uns Klarheit und Kraft verleiht.

Nach einer chinesischen Legende werden die Fische des Gelben Flusses zu kraftvollen Drachen, wenn es ihnen gelingt, die Stromschnellen stromaufwärts zu überwinden, die als Drachentor bekannt sind. Der östliche Drache ist ein kräftiges, weises Fabeltier und unterscheidet sich grundlegend von dem bösen und mordenden Untier, das in westlichen Mythen sein Unwesen treibt. Dōgen warnt uns aber davor, uns heroischen Gedanken hinzugeben und betont, dass es irrelevant ist, wann wir zu einem Drachen werden. Dafür dürfen Berge und Flüsse uns nicht fremd sein, sondern wir müssen mit ihnen im tiefen Sinne vertraut sein. Dies bedarf einer direkten Offenheit für die Natur, die nur durch eigenes Erleben und Erfahren möglich ist, zum Beispiel indem wir uns selbst in den Bergen wandern. Eine noch so detaillierte Vorstellung von den Bergen und Flüssen reicht laut Dōgen nicht aus,

Die strahlende Klarheit[6] leuchtet beim Zazen aus sich selbst, und es gibt nicht den kleinsten getrennten Anfang, wie es in Wanshis Gedicht heißt. Die Klarheit aus sich selbst ist im Universum im kleinsten Dharma und im unvorstellbar großen Weltall vorhanden. Dies ist der natürliche Zustand, zu dem wir bei der Zazen-Praxis Zugang haben. Er ist bereits die Erleuchtung selbst! Die Wirklichkeit ist genau so, wie sie ist, es wurde niemals etwas Wirkliches hinzugefügt oder weggenommen

„Habt keinen Zweifel an den Augen, aber vertraut nicht unbedingt den Ohren.“

Die Augen bedeuten in der alten chinesischen Symbolik häufig das intuitive ganzheitliche und richtige Wahrnehmen, das unmittelbar und direkt ist. Durch die Wahrnehmung mit den Augen erhalten wir einen klaren Zugang zur Wirklichkeit, zum Beispiel zur Natur und zu anderen Menschen. Die Ohren stehen dagegen oft für ein intellektuelles und abstraktes Verständnis, das sich als isolierte Kommunikation allzu leicht von der Wirklichkeit hier und jetzt ablöst und in Suggestionen und Verführungen verirrt. Daher heißt es an anderer Stelle im Shôbôgenzô, dass wir mit den Augen hören sollen. Damit ist gemeint, dass wir uns nicht von der scheinbaren Logik und von rationalisierenden oder populistischen Aussagen einfangen lassen, sondern unmittelbar ganzheitlich verstehen sollen, um was es geht:

Es folgen die Verse:

„Das Wasser ist rein, ganz bis zum Grund. Fische schwimmen langsam, langsam.“

Der von Dōgen verwendete japanische Begriff Sui-sei für „rein“ hat verschiedene Bedeutungen: spirituell rein im Sinne des Buddhismus oder physikalisch rein, sauber und nicht durch irgendetwas verunreinigt, also durchsichtig, leer und transparent. Wenn wir in reines Wasser schauen, können wir den Grund so klar erkennen, als ob er nicht durch Wasser bedeckt wäre. Die Klarheit des Wassers ist ein Symbol für den Zustand im Zazen. Denn im Durcheinander unseres täglichen Lebens kommen wir nicht zur notwendigen Klarheit. Wir müssen uns bemühen, unsere Aufgaben „bis zum Grund“ korrekt zu erledigen. Im Japanischen bedeutet das, dass wir nicht nachlässig sind und die notwendige Ausdauer besitzen, um richtig und sachgerecht zu handeln.

Die Fische schwimmen im Wasser, ohne dass das Ufer und die Böschung für sie wie Begrenzungen wirken, denn sie sind in ihrem Element. Dies ist ihre Freiheit als handelnde Fische

„Daher gibt es niemanden, der (das Wasser) ausloten kann.“

Dōgen verbindet dann das poetische Bild der schwimmenden Fische mit der Zazen-Praxis:

„Die Tugend des Sitzens im Zazen ist wie dieses Schwimmen der Fische: Wer könnte es auf einer Skala von tausend oder zehntausend messen?

In Wanshis Gedicht heißt es zum Schluss: „Der Himmel ist weit, ohne Grenzen. Und Vögel fliegen weit, weit fort.“ Dōgen erläutert, dass hier nicht der Himmel der verengten physikalischen, materiellen Sicht gemeint ist, aber auch nicht ein abstraktes, irreal überhöhtes und jenseitiges Verständnis der Welt. Beides würde der Wirklichkeit der Zazen-Praxis nicht gerecht. Der Himmel wird hier sehr konkret als offene Weite und poetisch angesprochen.

Der weite Himmel werde nicht verborgen durch etwas, das ihn umhüllt, und zeige sich nicht durch etwas, das innen ist. Für Dōgen sind die im Himmel fliegenden Vögel die Dharma-Wahrheit, die sich in der Natur zeigt und sich mit uns verbindet. Wie bei den Fischen im Wasser ist auch bei den fliegenden Vögeln wirksam, dass und wie sie in ihrem ursprünglichen Element handeln. Dadurch leben und existieren sie wirklich. In dieser Wirklichkeit sind sie identisch mit dem Universum und nicht mit irgendwelchen Vorstellungen oder romantischen Beschreibungen. Dōgen formuliert dies pointiert:

„Fliegen im Himmel ist das ganze Universum. Weil das ganze Universum im Himmel fliegt.“

Mit dem unterscheidenden dualistische Verstand können wir nicht ermessen, was dieses Fliegen ist. Es ist auch schwer und meist nur unzureichend in Worte zu fassen. Die Formulierung „weit, weit fort“ bedeutet, dass die Vögel nicht gefesselt sind. Im alten China wurden Vögel nämlich durch Fesseln an den Füßen daran gehindert fortzufliegen. Die wörtliche Übersetzung aus dem Japanischen lautet, dass die Vögel keine Stricke unter den Füßen hätten, weil sie nicht angebunden sind.

Die zentrale Bedeutung des Fluges der Vögel ist die Zazen-Freiheit, die nicht durch Stricke von Ideologien, Dogmen und fixierten Weltanschauungen gehindert und gefesselt wird. Damit will Dōgen nach meiner Ansicht auch die Ambivalenz der Freiheit ausdrücken: Sie kann unverbindliche Weltflucht sein, ein „Ohne-mich-Standpunkt“ oder die Willens-Freiheit der Buddha-Wahrheit, die zur Überwindung des Leidens führt.

Dabei sollen die Ideen und Illusionen gerade nicht abheben und in den Himmel wuchern, sondern die große, wunderbare Wirklichkeit gibt es konkret an diesem Ort, wo wir sitzen und praktizieren. Dieses Hier und Jetzt ist die wahre Freiheit und Einheit mit dem Buddha-Dharma.

Abschließend bekräftigt Dōgen, dass keiner der großen Meister der Vergangenheit die Zazen-Praxis so genau, tiefgründig und poetisch beschrieben habe wie Meister Wanshi. Wenn „stinkende Hautsäcke“, wie Dōgen es drastisch formuliert – also gewöhnliche Menschen, woher sie auch immer stammen und wo immer sie leben mögen –, ihr ganzes Leben lang versuchen würden, etwas Gleichartiges zu verfassen. Aber das würde ihnen nicht gelingen. Dōgens eigener Meister Tendô Nyojô sprach daher in seinen formalen Dharma-Reden immer vom „ewigen Buddha Wanshi“. Niemals habe er andere Meister so bezeichnet, was seine außerordentlich hohe Wertschätzung für Wanshi beweist, die Dōgen teilt.

Dōgens eigenes Gedicht zum Zazen

In größter Hochachtung für Wanshis Verse verfasst Dōgen ein eigenes Gedicht und beschreibt darin die einzigartige Kraft und Wirksamkeit des Zazen aus seinem eigenen Erleben. Er hatte erst in China durch die Praxis des Zazen tiefe und umfassende Erleuchtung verwirklicht. Sein Gedicht hat große Ähnlichkeit mit dem von Meister Wanshi. Beide seien das Herzstück des Zen-Buddhismus und klären die einzigartige Wirkung der Zazen-Praxis auf dem buddhistischen Weg, und zwar für Anfänger, Fortgeschrittene und Meister.

Am Ende dieses Kapitels fasst Dōgen in seinen Versen also mit großer poetischer Kraft die außerordentliche Wichtigkeit zusammen, im Zazen zu sitzen und zu praktizieren. Für ihn steht fest, dass diese Art der Meditation höchste Wirksamkeit auf dem Buddha-Weg der Befreiung, Willensfreiheit, Selbststeuerung und Tatkraft der Mitte hat. Es ist nicht übertrieben, dass Zazen den Dualismus und die Substanz-Ideologie auflöst und unwirksam macht. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich die kaum glaubliche positive Wirkung bezeugen, als ich in einer sehr schwierigen Berufskrise stecken zu bleiben drohte. Nach der täglich Zazen-Praxis, morgens und abends, wurde aus dem drohenden Scheitern ein erstaunlicher Berufserfolg. Auch menschlich verdanke ich dem Zazen sehr viel.

Nach Dōgen ist Zazen das große Anliegen und das zentrale Tun der Kinder und Enkel der großen buddhistischen Meister:

„Dies ist das authentische Siegel, das empfangen und weitergegeben wird, von einem-zum-anderen.“

Zazen sei die direkte Verwirklichung und Befreiung der Menschen. Diese Praxis ist für alle machbar, ist einfach und erzeugt keine Komplikationen und Verwirrungen in unserem Leben. Sie ist nichts Künstliches, das zufällig entstanden ist, sondern sie ist natürlich und von unmittelbarer direkter Klarheit. Sie ist keine ideologische Erfindung falscher Gurus und übertreibt nicht, sondern kann ganz einfach von jedem Menschen sofort erfahren und erlebt werden. Wer keine eigenen praktischen Erfahrungen des Zazen hat, könne deshalb diese Praxis nicht einordnen, nicht beschreiben und nicht schätzen.

Bei der wahren Zazen-Praxis gab es laut Dōgen niemals Verschmutzung, wie bei vielen Dogmen, und es wird sie auch niemals geben. Da die Zazen-Praxis keine einseitige Ideologie ist, besteht dabei keinerlei geistige oder psychische Abhängigkeit von irgendetwas, auch nicht von einem Menschen. Sie ist von Anfang an frei. Es gibt eine zentrale Entscheidung und einen Anfang, der als Start auf dem Weg der Erleuchtung wirkt. Und es gibt keine vordergründige Absicht und kein falsches Erstreben des falschen Zustandes der eingebildeten Erleuchtung. Aber es ist erforderlich, sich beim Zazen anzustrengen, intensiv zu praktizieren und die genaue Sitzhaltung einzunehmen. Von großer Bedeutung ist eine natürliche Ausdauer. Also wirklich dranbleiben. So wird die lebendige Ganzheit und Wechselwirkung von Körper-und-Geist erfahren. Das ist bereits die erste Erleuchtung aus der ruhigen Mitte unseres Lebens: Nicht mehr und nicht weniger. Meister Dōgen dichtet:

 

Das wahre Tun eines jeden Buddha.

Das Tun des Wahren eines jeden Meisters.

Jenseits des Denkens: Verwirklichung,

Jenseits des Komplizierten: Verwirklichung.


Jenseits des Denkens: Verwirklichung. 

Die Verwirklichung ist natürlich und unmittelbar. 

Jenseits des Komplizierten: Verwirklichung.

Die Verwirklichung ist natürlich und bewährte Erfahrung.

 

Die Verwirklichung ist natürlich und unmittelbar.

Es gab keine Verschmutzung. 

Die Verwirklichung ist natürlich in der Erfahrung.

Es gab kein dogmatisches Richtig und da war keine trennende Distanz.


Es gab keine Verschmutzung des Unmittelbaren.

Das Unmittelbare hängt von nichts ab, es wird frei.

Es gab in der Erfahrung kein dogmatisches Richtig und keine trennende Distanz. 

Die Erfahrung ist ohne übertriebene Absicht und doch erfordert sie Anstrengung.


Das Wasser ist rein, klar und wirklich bis zum tiefen Grund. 

Die Fische schwimmen als Fische! 

Der Himmel ist weit, klar und ohne Begrenzung. 

Und die Vögel fliegen als Vögel!

 (Kôshô-hôrin Tempel, 1242)



[1] Shinji Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, Nr. 22, S. 33 f.

[2] Nishijima, Gudo Wafu: Aus meinem Leben, S. 47 ff.

[3] Kap. 36, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S.103 ff.: „Die strahlende Klarheit im Buddhismus (Kômyô)

[4] Wachs, Marianne (Hrsg.): Kunst, Themenschwerpunkt. In: Form ist Leere – Leere Form. Buddhistische Themen und Lehrbegriffe 7

[5] Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujô seppô)“ und: Umwelt-Zen, S. 151 ff.

[6] Kap. 36, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 103 ff.: „Die strahlende Klarheit im Buddhismus (Kômyô)