Dieses Kapitel Dōgens über die „Sein-Zeit“ zählt zweifellos zu den wichtigsten Texten des Buddhismus, aber es ist für uns westliche Menschen nicht einfach zu verstehen.[1] Stark verkürzt besagt es, dass die Zeit untrennbar mit der Wirklichkeit, dem Leben, der Welt und der Wahrheit verbunden ist. Das Sein gibt es nur zusammen mit der Zeit, es ist ein gemeinsamer Prozess und Handeln und ist ein dynamisches Sein. Das abendländische philosophische Modell des Seins, das teilweise unabhängig von der Zeit verstanden wird, ist aus buddhistischer Sicht nicht tragfähig und entspricht nicht der Wirklichkeit. Das Sein ist keine Sache, kein Ding und keine Substanz, es hat keine wirkliche Eigen-Existenz. Das wahre Sein kann nur dynamisch als Augenblick im Prozess-Ablauf der Zeit verstanden werden. Es ist auch kein isolierter Augenblick, denn es gibt immer Wechselwirkung zur Vergangenheit und Zukunft, wie Buddha betont. Aus meiner Sicht sind dieser Zusammenhang und diese Grundprinzip des Lebens und der Welt am besten von Buddha und Nagarjuna erkannt und formuliert worden: "Gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada". Entstehen, Verändern und vernetzte Wechselwirkung können ohne dynamische Zeit überhaupt nicht vor sich gehen, ihre Wirklichkeit ist untrennbar mit Zeit verbunden. Zeit kann überhaupt nicht isoliert betrachtet und verstanden werden.
Übrigens
ist diese Erkenntnis der modernen Physik und Naturwissenschaft seit den bahnbrechenden
Arbeiten von Einstein und Heisenberg ganz unbestritten Der bekannter
theoretische Physiker Peter Dürr sagt daher, dass der Ansatz von kleinsten
unabhängigen Atomen durch die Vorstellung von elementaren Prozessen ersetzt
werden muss. Er spricht dabei von Prozesschen oder von "Wirks". Der
Augenblick ist untrennbar mit dem Prozess der Zeit verbunden. Diese
fundamentale Wahrheit des Buddhismus wurde besonders von den großen Meistern
Nagarjuna, Vasubandhu und Dogen hervorgehoben, schon viel früher als in der
westlichen Naturwissenschaft. Dazu ist als Beispiel die Funktion unseres
Gehirns einleuchtend: Alle Gehirnleistungen des neuronalen Netzes sind Impulse
in der Zeit, es gibt keine zeitunabhängig gespeicherten Informationen im
Gehirn. Und nur das lebende Gehirn kann dies leisten und die Informationen
verarbeiten. Ein totes Gehirn verarbeitet keine Informationen mehr, hat keine
Erinnerung und schon gar keine ethischen Leistungen. Vereinfacht gilt: Leben
ist immer auch zugleich Zeit. Ohne Zeit gibt es keine Wirklichkeit, das haben
der Buddhismus, die moderne Physik und Gehirnforschung unabhängig von einander
geklärt. Ohne die Veränderlichkeit der Zeit kann daher das Leiden nicht zur
Ruhe kommen und überwunden werden. Und ohne Zeit kann es keine heilsame
Entwicklung und Befreiung in unserem Leben geben. Wer die Zeit ausklammert,
erstarrt und ist eigentlich schon geistig und psychisch tot, wenn er biologisch
noch lebt.
Meister
F. S. Nakagawa schreibt zur Frage der Zeit: “Wenn man Zeit tief begreift, findet
man das wahre Leben. So möchte ich spontan antworten auf die Frage, ob man dem
Druck der Zeit entfliehen kann. Doch dann kommt sofort die Frage: Was ist
überhaupt die Zeit?“
Meines
Wissens haben Harada Roshi und Philip Kapleau zum ersten Mal dieses zentrale
Kapitel der Sein-Zeit in eine westliche Sprache übertragen.
Dōgen
erklärt, dass die Wirklichkeit aller Menschen, aller Lebewesen und überhaupt
aller Dinge und Phänomene des Universums und die wirkliche Zeit unauflösbar zu
einem Gesamtsystem gekoppelt und verbunden sind. Es gibt also kein Erleben,
kein Handeln und nichts außerhalb der Zeit, wenn wir von der Wirklichkeit und
Wahrheit des Lebens und der Welt ausgehen und diese in den Mittelpunkt der
Erfahrung und des Denkens stellen. Das unmittelbare, volle Erleben und Handeln
geschieht nur in der Gegenwart, also im Hier und Jetzt. Demgegenüber sind, wie
Nishijima eindrucksvoll betont, die Vergangenheit und Zukunft nur Erinnerungen,
Erwartungen, Vorstellungen, Gedanken, Bilder und Hoffnungen, aber nicht die unmittelbare
Erfahrung und Handeln in der Wirklichkeit selbst. Sie sind sozusagen das Wetterleuchten
in unserem Geist, aber nicht das Wetter selbst; sie „zeigen auf den Mond“, sind
aber nicht der Mond.
Wie
erklärt und begründet Dōgen nun diese zunächst neu erscheinende Aussage? Welche
praktische Bedeutung hat eine solche Erkenntnis für unser eigenes Leben und
Handeln mit all den Mühen, aber auch den Augenblicken der Freude? Wie hängen
nun Augenblick, Zeitprozess, Wirklichkeit und das Sein zusammen? Bereits hier
wird klar, dass es das Sein ohne Zeit und damit ohne zeitliche Veränderungen
nicht geben kann. Wer also die abendländische Ontologie des Seins als Konstanz
oder unveränderliche Substanz versteht, ist im fundamentalen Widerspruch zum
Buddhismus. Der Mittlere Weg ist gleichzeitig ein zeitlicher Weg. Er
verwirklicht die Überwindung des Leidens und führt zur Befreiung und zum
Erwachen. Wer ohne Veränderung und Entwicklung lebt, ist geistig schon fast
tot. Wahres Sein ist Dynamik im Augenblick oder, wie Heidegger in späten Jahren
sagt Ereignis. Damit hatte er sich von der Metaphysik des Abendlandes endlich
verabschiedet. Ich führe das nicht zuletzt auf den bekannten Einfluss des Zen
für ihn zurück.
Wenn
wir es mit der Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt ernst meinen
und uns nicht in Gedanken, Spekulationen, Hoffnungen und Ängsten verlieren,
findet diese Wirklichkeit nur in der Gegenwart statt. Wie Meister Nishijima
betont, ist Buddhismus die Lehre und Praxis der Wirklichkeit, also des Realismus,
und ist unauflösbar mit dem Handeln und mit der Zeit als Gegenwart verbunden.
Jede Flucht aus der Wirklichkeit und Zeit führt letztlich zu psychischem Leiden
und Verdrängungen, die zwar kurzfristig eventuell ein Überleben ermöglichen, aber
langfristig große psychische Schäden anrichten werden. Diese erschweren dann
die Bewältigung des Alltags oder schließen sie sogar aus. So kann man die mit
Sicherheit auftretenden Probleme des Lebens nicht meistern, auf jeden Fall wird
das Leben viel schwieriger und man verliert zum Beispiel durch Verdrängungen
das eigene Gleichgewicht. Das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung, das
Buddha lehrt, führt ins nicht ins Chaos, wie manche vielleicht befürchten. Und
Wechselwirkung ist vernetze Dynamik des Lebens.
Sigmund
Freud und andere namhafte Psychologen haben bei uns im Westen herausgearbeitet,
dass man sich der Wirklichkeit stellen muss, um psychisch gesund zu werden und
gut zu leben. Dieser Ansatz bildet die Grundlage wirkungsvoller Therapien, vor
allem der psychoanalytisch orientierter Praxis. Dabei deckt der Therapeut
gemeinsam mit dem Patienten die Verdrängungen auf und macht sie bewusst. Dann
beginnt die gemeinsame Bewältigung und Heilung. Dadurch wird also der
psychische Heilungsprozess eingeleitet und die Erstarrung der Verdrängung kann
gelöst werden.
Dōgen
gelangt nun zu der klaren Schlussfolgerung, dass die Wirklichkeit, die
Gegenwart als Zeit und das Handeln unauflösbar miteinander verbunden sind. Nur
wenn wir dies in unserem Leben praktisch realisieren, sind wir in der
Wirklichkeit und Wahrheit, und dies ist der Buddha-Dharma oder das Erwachen.
Eine solche Erfahrung kann man besonders klar bei der Zazen-Praxis erleben, und
ich bezeichnen dies mit Nishijima Roshi als die erste Erleuchtung. Ich
praktiziere außerdem die beiden anderen Zen-Übungen des japanischen
Bogeschießens, Kyudo, und der Zen-Flöte, Shakuhachi. Bei dieser Praxis werden
nach meiner festen Überzeugung auch Endorphine also Glücksstoffe ausgeschüttet,
die einen positiven Fluss des Lebens bewirken und den Geist erstaunlich klar
machen. Diese drei Übungen sind Handeln und kein statischer oder sogar starrer
Zustand. Im Westen wird dafür auch der Begriff Flow verwendet. Ohne die Zeit
einzubeziehen, macht das alles überhaupt keinen Sinn.
Der
Zen-Buddhismus legt großen Wert auf das tägliche Leben, in dem sich sowohl in
der Zazen-Praxis als auch der Alltag ohne Trennung von der dynamischen
Sein-Zeit als erste Erleuchtung ereignen kann. So heißt es: "Erleuchtung
ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen". Erleuchtung ist also kein erträumter
Idealzustand des Geistes, der unabhängig vom Körper und der Zeit unveränderlich
existiert. Wir wissen heute, dass unser neuronales Netz unaufhörlich in
Bewegung ist, weil die elektrischen Impulse der Informationen sich dauernd im
Netz bewegen. Nur ein totes Gehirn ist ohne Bewegung und daher ohne Speicherung
und Verarbeitung von Informationen. Dann funktionieren kein Denken, Fühlen,
keine Wahrnehmung, keine Empathie und keine Ethik. Deshalb konnte die
Gehirnforschung erst große Fortschritte machen, als man durch die neuen Bild
gebenden Verfahren dem Gehirn bei "der Arbeit zusehen" kann, wie der
Gehirnforsche Manfred Spitzer sagt.
Es
soll erwähnt werden, dass auch in der modernen Philosophie der Phänomenologie
die Frage nach der wirklichen Zeit von ganz neuer Bedeutung ist. Martin
Heidegger hat sein großes Frühwerk Sein
und Zeit genannt und eine Philosophie vom Sein vertreten, die der
abendländischen Geschichte und Metaphysik entspricht, und damit kaum
Verbindungen zur Zen-Tradition ermöglicht. In einem seiner letzten Vorträge,
"Zeit und Sein", hat er diese philosophische Einschätzung geändert
und mit dem zeitlichen Ereignis verbunden. Damit wird eine größere Nähe zu
Dôgens Sein-Zeit hergestellt. In der Philosophie der Gegenwart hat sich Rolf
Elberfeld in seinem Buch Phänomenologie
der Zeit im Buddhismus, Methoden des interkulturellen Philosophierens
intensiv mit diesem Thema beschäftigt. In der westlichen Welt und im westlichen
Denken wird also endlich die Wirklichkeit der Zeit immer mehr in den Blick
gerückt und die Statik der Metaphysik des Seins beiseite gelassen.
Ich
möchte von der „linearen gedachten Zeit“ sprechen, wenn die uns meist vertraute
Vorstellung gemeint ist, dass die Zeit von der Vergangenheit über die Gegenwart
in die Zukunft wie eine Linie verläuft. Diese lineare Zeit hat jedoch in dem
diesem Kapitel von Dōgen nur eine nebengeordnete Bedeutung. Es geht nicht um
abstrakte gedachte Theorien sondern um phänomenologisch erfasste
Wirklichkeiten. Abstrakte Gedanken-Konstrukte nennt Vasubandhu daher
"Fabrikationen" und zwar vor allem, wenn unwirkliche und unheilsame
Doktrinen und Ideologien dominieren.
Nishijima
Roshi unterstreicht, dass ohne das „Verstehen“ und die Erfahrung der wahren Zeit
im Sinne Dōgens die Lehre und Praxis des Buddhismus unverständlich und auch
unwirksam bleiben müssen.
Dōgen
sagt hierzu in einem Gedicht am Anfang diese Kapitels:
Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, auf
dem höchsten Berggipfel stehen.
Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit,
sich auf dem Grund des tiefsten Ozeans bewegen.
Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, drei
Köpfe und acht Arme (des Tempelwächters).
Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, der
sechzehn Fuß hohe (stehende), oder der acht Fuß hohe (sitzende) goldene Buddha.
Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, ein
(konkreter) Stab oder ein Fliegenwedel (für die Zeremonien).
Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, ein
äußerer Pfeiler (des Tempels) oder eine Steinlaterne.
Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, der
(ganz normale) dritte Sohn des Zhang oder der vierte (Sohn) des Li.
Zu einer Zeit, dieser Sein-Zeit, die
Erde und der Raum.“
Diese
Sein-Zeit wird als wahrer Augenblick des veränderlichen Lebens verstanden.
Buddha und Nagarjuna verwenden für diese fundmentale Aussage: "Gemeinsames
Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada". Dadurch wird die
rückgekoppelte Vernetzung aller lebendigen Prozesse betont, die zum Beispiel
typisch für Öko-Systeme und das neuronale Netz des Menschen sind.
In
dem Gedicht wird die Untrennbarkeit einer solchen Sein-Zeit mit allen Bereichen
in der Welt genannt: den Dingen, Phänomenen, der Bewegung, dem Handeln usw. im
Leben. Dabei werden der höchste Berg und der tiefste Ozean für die materielle
Welt, der Tempelwächter und das Bildnis des stehenden und liegenden Buddhas für
den Weg der Befreiung genannt. Diese haben sowohl eine räumliche, konkrete
Sicht als auch ideelle und spirituelle Bedeutungen im Buddhismus.
Weiterhin
werden die Gegenstände der praktischen buddhistischen Zeremonien sowie die
Stützpfeiler des Tempels aufgezählt, die meist außerhalb der Räume des Klosters
stehen. Die genannten Steinlaternen werden meist im Garten des Klosters
aufgestellt. In dem Gedicht wird auch das Alltagsleben der chinesischen Familien
einbezogen, wobei die Familiennamen Zhang und Li weit verbreitet waren, wie
etwa Schmidt, Müller und Schulze bei uns. Das Gedicht schließt mit Nennung der
Erde und des Raumes und verallgemeinert damit die erste Zeile. Die ganze Welt,
die Erde, unser Leben und überhaupt alles im Universum werden also als diese
Sein-Zeit genannt. Die Wirklichkeit kann nicht von der Zeit getrennt werden. Sie
ist im Verständnis des Buddhismus unauflösbar mit all diesem verbunden und in
andauernder Wechselwirkung. Das eine kann ohne das andere überhaupt nicht sein,
sich nicht verändern und nicht leben. Dabei geht es darum, in diesem
gemeinsamen lebendigen Entstehen in Wechselwirkung, pratitya samutpada, unseren
Weg der Befreiung, des Gleichgewichts und der guten Entwicklung den Gang
unseres Lebens zu steuern und unser Leiden zur Ruhe kommen zu lassen. Das ist
der Mittlere Weg, der alle ideologischen, emotionalen und körperlich unnützen
Extreme vermeidet.
Dynamische,
veränderliches Sein und Zeit bilden ein großartiges gemeinsames Ganzes, das in
der erfahrenen und erlebten Wirklichkeit nicht gespalten und getrennt werden
kann. Eine solche Trennung würde zum fabrizierten Dualismus führen, wie der
große Meister des Yogacara Vasubandhu sagt. So etwas wird nur in unserem
Verstand durch doktrinäre Überlegungen und unterscheidendes Denken konstruiert.
Dabei haben wir allerdings nach Buddhas Lehre und Praxis bereits die
Wirklichkeit und Wahrheit verlassen. Wir kreisen dann oft sinnlos in eigenen
Denk-Konstrukten und Emotions-Schleifen. Letztlich werden wir dann von den drei
Giften, Gier, Hass und Verblendung, programmiert. Es ist die große Wirkung der
Zazen-Praxis, aus derartigen meistens unbewussten, spekulativen und abstrakten
„Denknestern“, Emotions-Schleifen und Fantasiegebilden zur Wirklichkeit des
Hier und Jetzt herausfinden und die Flucht aus der Realität zu beenden. Denn
diese Flucht ist nach buddhistischer Lehre eine fatale Ursache des Leidens, das
überwunden werden kann.
In
der klaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt kann der Mensch nach Dōgen gut
handeln und ein erfülltes und freudiges Leben führen. Dies bedeutet aber nicht,
dass es verboten ist, zu denken, zu überlegen und zu planen: im Gegenteil! Wir können
und sollten Klarheit erlangen, wann wir unheilsame Vorstellungen und scheinbar schöne
oder erbauliche Illusionen haben, und wann wir in der Fülle der lebendigen Wirklichkeit
leben, fühlen und denken. Beides dürfen wir nicht verwechseln und durch
einander bringen. Wie es hier heißt: Die Wirklichkeit besteht aus den
vierundzwanzig Stunden des Tages, dem goldenen Körper Buddhas und ist die Zeit
als lebendige Sein-Zeit selbst. Kurz gesagt: Es gibt kein Leben unabhängig von
der Zeit. Und wir sollten keine Zeit in unserem Leben verschwenden, weil wir
dann das Leben selbst verschwenden.
Die
Menschen zweifeln, wie Dōgen sagt, manchmal nicht an unklaren oder gar falschen
Aussagen, während sie große Bedenken an wirklichen und wahren Tatsachen und
Fakten haben. Traurige Beispiele sind die Verschwörungstheorien in der Corona
Pandemie und der Präsidentschaft Trumps. Auch ein solches Zweifeln ist
allerdings Handeln im Leben und findet nicht außerhalb der Zeit statt. Nur
etwas Konstantes und Unveränderliches kann außerhalb dieser Sein-Zeit existieren,
aber so etwas gibt es in der Wirklichkeit des Lebens nicht. Die
Wirklichkeit geht in Augenblicken und
miteinander vernetzten Prozessen voran. Die Zen-Meisterin Ritsunen Linnebach
spricht davon, dass die Wahrheit sich „Augenblick für Augenblick“ verwirklich.
Mit ihr zusammen habe ich übrigens diesen Text aus dem Japanischen formuliert.
Dōgen
sagt weiter:
„Weil (die wirkliche Zeit) nur dieser genaue Augenblick ist,
sind alle Augenblicke der Sein-Zeit das Ganze der Zeit und alle wirklichen
Dinge, und alle wirklichen Phänomene sind Zeit. Das wahre, nicht doktrinierte Sein
und das ganze Universum wirken in einzelnen Augenblicken der Zeit.“
Dōgen
erklärt hier die zentrale Bedeutung der Gegenwart und der Augenblicklichkeit
bei der Zeit. Damit sind alle Phänomene, das Erleben und Handeln und die Welt
nur wirklich mit der Zeit. Wenn wir ganz in der Gegenwart und ganz im jetzigen
Augenblick leben und handeln, sind wir wirklich in der dynamischen Sein-Zeit
und damit in der Realität. Das falsch gedachte Gegenteil kann wie folgt
formuliert werden: Die Dinge und Phänomene, Dharmas, sind unveränderlich und
damit unabhängig von der Zeit. Sie sind zudem von einander isoliert und getrennt. Dieses Denken ist eine
fatale Sackgasse und wurde besonders von Nagarjuna überzeugend falsifiziert.
Diese abgelehnte Philosophie wird Substantialismus genannt. Es handelt sich
dabei um ideologische Pseudo-Substanzen.
Die
Augenblicke der Sein-Zeit behindern sich nach Dōgen nicht gegenseitig sie sind
aber auch nicht isoliert von einander. Es handelt sich um eine lebende Kette
und um ein Fließen der Augenblicke. Prozesse der Zeit und Augenblicke der Zeit
wirken immer zusammen. Störende Erinnerungen des Geistes oder Ängste über die
Zukunft gehören also nicht einer solchen Sein-Zeit an und sind damit im
eigentlichen Sinne keine Wirklichkeit. Dass eine solche Lebensweise mit der
vollen Wirklichkeit des Augenblicks nicht einfach zu realisieren ist und
zunächst eher als Schulungsziel gelten kann, steht sicher außer Zweifel. Dies
ist ein zentraler Kern der Buddha-Lehre also des gemeinsamen Entstehens in der
vernetzten Wirklichkeit. Vor allem durch die Meditation und Zazen-Praxis lernen
wir, im Augenblick zu handeln und zu erleben, ohne dass wir von Gedanken, Gefühlen,
Ängsten, Illusionen, Fantasien usw. gestört und geschwächt werden. Daher nennt
Nishijima Roshi die Meditation des Zazen die erste Erleuchtung.
Man
kann nach Dōgen nicht sagen, dass die Zeit wie eine Sache kommt und geht,
auftaucht und verschwindet, denn die wirkliche Zeit ist immer die Gegenwart des
Handelns und Wirklichkeit selbst. Er fährt fort:
„Weil (die Zeit wirklich) Sein-Zeit ist, ist sie meine
Sein-Zeit.“
Warum?
Weil ich Teil der Wirklichkeit bin und nicht eine gedachte Entität. Also sind
allgemeine, abstrakte Überlegungen über die Zeit nicht die dynamische Sein-Zeit
des Buddhismus, die Dōgen hier beschreibt. Denn diese Sein-Zeit ist mein
eigenes Erleben und Handeln, ich bin immer mit einbezogen und kann mich nicht
heraushalten. Manchmal wird die lineare Zeit als eine „Kette von jeweiligen
Augenblicken“ nur gedacht, aber dies ist dann abstrakte Theorie und nicht die
Wirklichkeit des Erlebens. Tatsächlich gibt es die reale dynamische Sein-Zeit
nur im gegenwärtigen Augenblick, wenn die abstrakte Ebene des unterscheidenden
Denkens und der Überlegung verlassen wird und wir uns ganz auf die Wirklichkeit
selbst einlassen.
Im
Folgenden heißt es:
„Die (Sein-Zeit), die auch bewirkt, dass (die Tageszeit) des
Pferdes und des Schafs so beschaffen in der Welt sind, wie sie heute sind, ist
etwas Steigendes und Fallendes. Und es ist etwas Unfassbares, das an seinem
Platz im Dharma verweilt.“
Hier
werden die Zeiten des Tages und der Nacht angesprochen, die in China nach
Tieren benannt wurden. Die Sein-Zeit kann also mit dem üblichen und
intellektuellen Denken nicht vollständig erfasst werden und ist damit für den
Verstand in diesem Sinne letztlich unfassbar. Die Sein-Zeit geht über das
Denken, den Verstand, die Vorstellung und Wissenschaft hinaus und ereignet sich
vor allem im Handeln und Erleben. Dann ist es die vollständige Verwirklichung
der ganzen Zeit als ganzes Leben, und darüber hinaus kann es überhaupt nichts
anderes Wirkliches geben. Wenn zu der Sein-Zeit etwas Zusätzliches hinzugedacht
oder mit Worten formuliert wird, ist dies eben nur ein Zusatz und nicht die
Wirklichkeit der Sein-Zeit selbst.
Nach
Dōgen ist die Sein-Zeit, die zur Hälfte, also ohne fabrizierte Zusätze,
verwirklicht ist, die vollständige Verwirklichung der wahren Sein-Zeit und
nicht mehr und nicht weniger. Die ideelle scheinbar ganze Verwirklichung der
Sein-Zeit kann nicht in der Realität erlangt werden, sie wird als Ideal,
Hoffnung oder Ziel formuliert. Ideologien und unheilsame Doktrinen sind
Verirrungen von der wahren Zeit und deren Wechselwirkungen. Dies gilt besonders
für Doktrinen von Pseudo-Substanzen, die Ewigkeit und Unveränderlichkeit
suggerieren, wie Nagarjuna nachgewiesen hat, aber nur Verblendungen und
Ideologien sind. Der Mittlere Weg kann ohne Zeit nicht erlebt und erfahren
werden. Das Leiden kann nur im Gang der Zeit überwunden werden, es ist in der
Wirklichkeit niemals unabhängig von der Zeit und zeitlichen Veränderungen. Das
Handeln ist mit der Sein-Zeit untrennbar verbunden. Das kommt im folgenden
Zitat von Dōgen zum Ausdruck:
„An unserem Platz im Dharma im Zustand des kraftvollen
Handelns zu sein, ist genau die dynamische Sein-Zeit“.
Diese
Sein-Zeit wird also verwirklicht, ohne dass sie durch Begrenzungen und
Hindernisse gestoppt wird, zum Beispiel durch Ideologien und Doktrinen, die
Unveränderlichkeit versprechen. Sie kann nicht festgehalten werden, und es hat
daher keinen Sinn, Vergangenes fixieren zu wollen und zu beklagen, dass es
nicht mehr existiert.
Das
wirkliche Erleben des Frühlings kann man nach Dōgen nicht durch den abstrakten
zeitlichen Ablauf des Jahres beschreiben, bei dem der Frühling wie eine
Substanz zwischen den Jahreszeiten des Winters und Sommers gedacht wird. Dies
gilt umso mehr, wenn diese Jahreszeiten wie abgegrenzte Dinge oder Entitäten
verstanden werden. Die Begriffe suggerieren dabei Schein-Substanzen, die vom
wahren Erleben und Handeln wegführen.
Die
Zeit ist kein Ding, wie übrigens auch Heidegger sagt. Derartige Gedanken von
Substanzen haben einen hohen Abstraktionsgrad und sind weit von der sich
dynamisch verändernden Praxis und dem wirklichen Erleben in der Gegenwart des
Frühlings entfernt. Vielmehr geht es um die Gegenwart und das wahre Erleben der
Blumen, der Wärme, des milden Südwindes, der Knospen, der frischen Blätter und
der vollen Lebendigkeit der Natur. Ein solches Erleben im Augenblick des
Frühlings eröffnet dessen Wirklichkeit unmittelbar für uns und benötigt keine
abstrakten Gedanken über den vergangenen Winter und den kommenden Sommer. Solche
Gedanken stören sogar das Ereignis „Frühling“. Denn uns beschleicht vielleicht
die Angst, dass der schöne Frühling schon bald wieder vorbei ist. Eventuell
klagen wir, der Frühling sei nur so kurz, und können ihn gar nicht mehr
„genießen“. Eine abstrakte Beschreibung des Frühlings kann also niemals die
Wirklichkeit ersetzen.
Dōgen rät uns schließlich, dass wir uns mit dieser Wahrheit der dynamischen Sein-Zeit immer wieder beschäftigen sollen, dass wir uns darauf fokussieren und dann wieder loslassen. Denn wir wissen aus der heutigen Gehirnforschung, dass die Schulung und Weiterentwicklung von Geist und Psyche am besten mit Freude und Wiederholung gelingt.
Wie kann man die wesentlichen Aussagen dieses
zentralen Kapitels der Zeit zusammenfassen und mit den von Dogen genannten vier
Zeiten im Kap. 2 zur großen umfassenden Weisheit verbinden?
Dort heißt es im Shobogenzo bei der Aufzählung der
verschieden Zustände der umfassenden Weisheit:
"Ein weiterer Zustand der umfassenden Weisheit
wird als gegenwärtiger Augenblick
verwirklicht. Das ist der höchste rechte Zustand der Wahrheit im Gleichgewicht.
Es gibt drei weitere Zustände der umfassenden
Weisheit. Sie sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft"
Die umfassende Weisheit heißt wörtlich übersetzt
auch: "An das andere Ufer gelangen"
Der zentrale Unterschied ist also, dass die drei Zeiten
des Geistes Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Weisheiten des Geistes sind. Der gegenwärtige Augenblick ist
darüber hinaus der höchste ganzheitliche Zustand der Wahrheit des erwachten Menschen. Dieser wird im Gleichgewicht und mit
der Kraft der Mitte verwirklicht und ist daneben auch in Wechselwirkung mit dem
Geist, aber geht über den Geist hinaus.
Meines Wissens gibt es in der westlichen Philosophie
dazu keine Analogie, denn diese konzentriert sich auf den Geist und die
Weisheit und nicht auf das ganze erleuchtete Erleben.