Donnerstag, 10. Juni 2021

Erlangt die Freiheit und tut kein Unrecht! (Shoaku makusa)

 

In diesem Kapitel erläutert Dōgen, dass aus buddhistischer Sicht das Unrecht „von Natur aus“ in der Welt und im Universum ursprünglich nicht vorhanden ist, sondern vom Menschen durch unrechtes Handeln erzeugt, also hinzugefügt, wird. Das ist eine bemerkenswerte Sicht, denn in den meisten Religionen wird gelehrt, dass das Böse, zum Beispiel in Gestalt des Teufels, ein Teil dieser Welt und des Menschen ist und mit der Kraft des Guten bekämpft werden muss. In der Wirklichkeit des Buddhismus gibt es das Unrecht als eine Art böser, dauerhafter Essenz und als böses Sein überhaupt nicht, sondern es gibt nur das unrechte Tun und Handeln der Menschen, das gegen Moral und damit gegen die Gesetze des Universums verstößt. Gleichwohl ist falsches, unrechtes und verbrecherisches Handeln in der Lebenswelt der Menschen leider eine Tatsache, die man nicht wegdiskutieren und verdrängen darf. Dōgen warnt uns mehrfach im Shōbōgenzō davor, uns in Illusionen zu verlieren und über die Wirklichkeit zu täuschen.

Er betont in diesem Kapitel besonders, dass Moral und Ethik, also richtiges Handeln, untrennbar mit der buddhistischen Lehre und Praxis verbunden sind. Der Buddhismus ist also keine „wertfreie“ Philosophie oder Theorie, sondern die Einheit von Körper, Geist, Handeln und Moral. Rechtes oder unrechtes Handeln im Hier und Jetzt des Augenblicks und Ortes sind für den Buddha-Dharma ganz wesentlich.

Wenn Menschen, wie häufig zu beobachten ist, abstrakt und meist empört über das Unrecht in der Welt oder bei anderen diskutieren, ist dies daher viel zu allgemein und gehört in den Bereich der Theorie und Philosophie. Man kann zwar über Unrecht trefflich diskutieren, sich streiten und sich dann besser fühlen als andere; in Wirklichkeit hat man jedoch meistens gerade das Unrechte selbst getan, wenn man sich im Streit mit anderen in aggressiven Worten verliert, um ihn zu verletzen. Dann hat man eben gerade durch den Streit und die Verletzung des anderen gegen die sozialen Gesetze des Buddhismus gehandelt. Derartige aggressive Diskussionen verhärten sich manchmal zu einem offenen Kampf mit Worten des einen Ego gegen das andere. Dies kann aber auf keinen Fall der Buddha-Dharma sein.

Dōgen zitiert einen alten Buddha, der lehrte:

„Vielfältiges Unrecht nicht zu erzeugen,

die vielen Arten des Rechten achtungsvoll zu tun,

macht Herz und Geist auf natürliche Weise rein:

Dies lehren alle Buddhas.“

Bei der Übersetzung der deutschen Fassung von Dōgens „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ (Shōbōgenzō) haben Frau Ritsunen Linnebach und ich gründlich überlegt, ob wir die häufig verwendete Formulierung „Kein Unrecht tun“ verwenden sollten oder nicht. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die präzise Übersetzung aus dem Japanischen eher dem deutschen Begriff „erzeugen“ entspricht und dass Dōgen dies auch genau so meint. Dieser Begriff bringt besonders klar zum Ausdruck, dass das Unrecht künstlich durch die Menschen erzeugt wird und eigentlich von Natur aus im Universum gar nicht existiert.

Würde man eine andere Übersetzung wie „sich des Übels enthalten“ wählen, stünde die Vorstellung dahinter, dass das Übel in der Welt von Natur aus als Essenz bereits vorhanden ist und dass man sich davor in Acht nehmen, sich also dessen enthalten soll. Dies will Dōgen unseres Erachtens aber gerade nicht sagen.

Die Behauptung, dass man Unrechtes und Übles erst im Handeln selbst erzeugt und es in der Harmonie des Universums und der Welt sonst gar nicht vorhanden ist, mag zunächst überraschen. Wenn wir aber bedenken, dass der Buddhismus wesentlich auf das Handeln abstellt, und so dem Handeln die Qualität der Wirklichkeit und Wahrheit zumisst, nicht aber einer abstrakten Idee oder gedachten Essenz, dann hat dies für unser Leben wirklich eine sehr große Bedeutung. Es kommt einfach darauf an, dass wir nichts Unrechtes erzeugen und dass wir uns in unserem Leben und Handeln den vielen Möglichkeiten, etwas Sinnvolles und Gutes zu tun, mit Sorgfalt und Achtung widmen. Dies ist der Weg in die Unabhängigkeit und Freiheit. Unrechtes zu erzeugen macht abhängig.

Im ersten Teil dieses Kapitels betont Dōgen das aktive eigene Handeln. Aber wie er sagt, geht es auch darum, dass man das rechte Handeln geschehen lässt und das unrechte Handeln nicht zulässt. Ein eher abwartendes Verhalten des Geschehenlassens kann oft moralisch das richtige Handeln sein.

Mit unrechtem Handeln kommen wir in unserem Leben häufig in Berührung. Dies kann durch Freunde, Verwandte, aber vor allem durch Feinde und Konkurrenten geschehen. Der Buddhismus lehrt in aller Klarheit, dass es moralisch nicht korrekt ist, zuzuschauen und es zuzulassen, wenn andere Unrechtes tun. Ein solches Verhalten kann auch nicht mit dem falsch verstandenen Satz, „es ist, wie es ist“, begründet werden, um sich damit aus der Verantwortung in der Welt zu stehlen. Neben dem rechten und unrechten gibt es nach Dōgen auch neutrales Handeln, das weder Recht noch Unrecht ist.

Da das Unrecht nicht als dauerhafte, abstrakte Wirklichkeit besteht, sondern durch Handeln selbst erzeugt oder nicht erzeugt wird, kann dies nur jeweils im gegenwärtigen Augenblick geschehen. Das rechte oder unrechte Handeln existiert also nur in der Gegenwart der Sein-Zeit und nicht dauerhaft.

Aus buddhistischer Sicht ähnelt das Unrecht der Vergangenheit, an das wir uns lediglich erinnern, dem wirklichen Unrecht des Augenblicks nur im Groben, ist aber nicht mit ihm identisch. Erinnerungen können niemals dasselbe wie die Wirklichkeit der Gegenwart sein. Das Gleiche gilt für erwartetes und vorgestelltes Unrecht in der Zukunft. Die Klarheit darüber wird uns nach Dōgen durch die buddhistische Praxis, vor allem des Zazen, deutlich. Er sagt hierzu, dass sich in Bezug auf die Frage von Recht oder Unrecht die Menschen des Buddha-Dharma einerseits und die Menschen der gewöhnlichen Lebenswelt andererseits stärker unterscheiden, als es Abweichungen innerhalb des Buddhismus selbst gibt. Wie in dem Kapitel „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt“ (Uji) im Shōbōgenzō im Einzelnen behandelt wird, ist die wahre Zeit des Augenblicks untrennbar mit dem rechten oder unrechten Handeln verbunden.

Wenn man nur die Worte hört, dass man kein Unrecht erzeugen soll, verändert dies nach Dōgen meistens schon ein wenig das Verhalten und Handeln des Menschen. Wichtig ist, dass die buddhistische Praxis des Zazen hinzukommt und dass ein moralischer Vorsatz nicht auf Denken und Reden beschränkt bleibt. Denn die Kraft der Praxis ermöglicht es uns, an Klarheit zu gewinnen und unser Handeln und Verhalten umzustellen. Aus der Praxis ergibt sich eine intuitive moralische Klarheit im Augenblick, so dass es nahezu unmöglich wird, etwas Unrechtes zu tun. Da wir immer im gegenwärtigen Augenblick handeln, bedeutet dies die Klarheit und Kraft im Jetzt.

Dieser Augenblick sei so kurz, dass wir nicht mit dem Verstand über Recht und Unrecht reflektieren und gleichzeitig handeln können. Indem wir richtig handeln, kann sich an keinem Ort und zu keinem Zeitpunkt eine Eigenständigkeit des Unrechten entwickeln. Dies gilt auch, wenn wir in einer Umgebung leben und in eine Situation geraten, in der viel Unrechtes getan wird, und meinen, dass sich das Unrecht gegenüber dem Handeln verselbstständigt hat. Dann hat sich in der Tat der Gedanke oder die Idee wie eine Essenz verhärtet und beherrscht den Geist. Dōgen drückt dies wie folgt aus:

„Wenn wir unseren ganzen Geist und den ganzen Körper der Praxis (des Zazen) widmen, verwirklichen sich achtzig oder neunzig Prozent (davon, dass kein Unrecht erzeugt wird) gerade vor diesem Augenblick. Und es gibt (auch) die Tatsache, dass nach dem Augenblick (kein Unrecht) erzeugt wird“, (wörtlich:“ hinter dem Gehirn“).

Die Praxis des Zazen verwirklicht sich dabei körperlich und geistig durch das Handeln, und wir vermeiden, unser Selbst zu verunreinigen. Da bei der buddhistischen Praxis eine Einheit mit dem Universum und der Welt besteht und Abgrenzung und Dualität überwunden werden, kann man nach Dôgen sagen, dass wir auch die Berge, Flüsse, die Erde, Sonne, den Mond und die Sterne praktizieren und dass wir sie praktizieren lassen. In diesem Sinne haben die Buddhas und Vorfahren im Dharma die Praxis und Erfahrung niemals verunreinigt; sie sind dadurch frei und haben sich selbst niemals eingeschränkt. Dies bedeutet „erzeugt kein Unrecht!“.

Das Unrecht ist also nach buddhistischer Lehre als unabhängige Entität weder existent noch nicht existent, sondern es wird direkt beim Handeln erzeugt. Genauso wenig hat es eine materielle oder immaterielle Qualität, denn es geht um das Erzeugen im Augenblick als Tun. Dies darf man nicht allgemein zu abstrakt verstehen, sondern es bedeutet das reale, konkrete Handeln im Hier und Jetzt. Allzu leicht wird das Unrecht beschönigt und heruntergespielt. Dies sind jedoch Bewertungen des Menschen, die Unklarheiten zur Folge haben.

Indem wir bedauern, dass wir etwas Unrechtes getan haben, entwickelt sich nach Dōgen die Kraft und das Streben zum richtigen Handeln. Wenn man durch die Übungspraxis die nötige Energie und Klarheit gewonnen habe, sei es darüber hinaus  nicht mehr möglich, willentlich Unrechtes zu erzeugen.

In dem obigen Gedicht heißt es am Anfang, dass wir die vielen Arten des Rechten achtungsvoll ausüben. Dabei geht es konkret zum Handeln im Augenblick und die Freiheit, die wir dann haben, Gutes und Rechtes zu erzeugen. Diskussionen darüber, ob das Rechte existiert oder nicht existiert, führen also nicht weiter und erstarren zwangsläufig auf einer theoretischen Ebene, die vom Handeln im Alltag und Hier und Jetzt weit entfernt ist. Das Richtige wird in solchen Diskussionen wie ein Ding behandelt, und das ist unrichtig.

Es ist in der Tat erstaunlich zu sehen, dass manche Menschen ganz anders handeln, als sie glauben, und dass theoretische wohlklingende Moral oft damit verbunden ist, dass das Rechte gerade nicht getan wird. Überhaupt wird manches als „das Rechte“ bezeichnet, was bei genauer Untersuchung des Handelns wirklich nicht als richtiges Handeln gesehen werden kann und meist maskiert dem eigenen Vorteil dient. Dōgen betont an dieser Stelle, dass es verschiedene Wege gibt, Rechtes zu tun, zum Beispiel die Glaubenspraxis des reinen Landes und die Zazen-Praxis, die er selbst so sehr schätzt. Wichtig ist, dass man beim Rechten achtungsvoll handelt, das heißt also, Achtung vor anderen Menschen und vor ihrem Handeln hat. Wie Dōgen betont, gilt dies nicht nur für Freunde und Verwandte, sondern insbesondere auch für Konkurrenten oder Feinde. Es gilt also sowohl für das Leben in der Familie, für den Umgang mit Freunden als auch im Beruf, bei dem häufig Konkurrenzkämpfe und Positionsneid vorherrschen.

Das achtungsvolle Tun des Rechten vollzieht sich im Augenblick selbst. Wie Dōgen sagt, sollen wir die Ursachen, das Rechte zu verfehlen, nicht auf äußere Umstände und Situationen schieben, damit werden falsche Ursachen benannt. Was für das aktive Tun gilt, sei auch für das Geschehenlassen wahr, denn man kann Rechtes auch dadurch verwirklichen, dass man etwas geschehen lässt. In einem solchen Fall soll man nicht störend oder egoistisch eingreifen und damit das Unrecht erst selbst erzeugen.

Im obigen Gedicht heißt es weiter, dass sich das Herz und der Geist auf natürliche Weise öffnen und rein werden, wenn man kein Unrecht erzeugt und das Rechte achtungsvoll tut. Auch diese Aussage darf jedoch nicht in der Theorie und im begrifflichen Denken stecken bleiben, sondern muss handelnd erfahren und erforscht werden. Handelnd können wir lernen, wie die Buddhas sein sollen, sodass wir uns nach Dōgen nicht wie gewöhnliche Menschen verhalten, die sich mit dem Leiden, das durch unrechtes Handeln erzeugt wird, abfinden und nicht zum rechten Tun durchringen. So kann auch im alltäglichen Leben ganz real vermieden werden, das Unrechte zu erzeugen, und es kann möglich werden, das Rechte zu tun.

In einer bekannten Kōan-Geschichte fragte ein berühmter Dichter einen großen Meister: Was ist der große Sinn des Buddha-Dharma?“ Der Meister antwortete: „Kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun.“ Der Dichter, der auch ein bedeutender Gouverneur war, bemerkte daraufhin etwas abfällig: „Wenn das so ist, kann dies sogar ein dreijähriges Kind sagen.“ Der Meister erwiderte: „Ein dreijähriges Kind kann schon die Wahrheit sagen, aber selbst ein erfahrener Mann von achtzig Jahren kann sie nicht konkret (ganz) verwirklichen.“

Der Dichter dankte daraufhin zwar dem Meister mit einer Niederwerfung, aber den tieferen Sinn der Aussage konnte er, wie Dōgen sagt, nicht erfassen. Er war berühmt wegen seiner großen dichterischen Qualitäten und wurde im Kreise der Schriftsteller und Dichter außerordentlich verehrt. Den tieferen Sinn der Worte, dass man kein Unrecht erzeugen und das Rechte tun solle, verstand er jedoch nur als begriffliche Aussage, verharrte also auf der Wort- und Denkebene. Dies ist, wie Dōgen feststellt, nicht verwunderlich, weil er eben ein Mann des Wortes und der Dichtung und nicht ein Mann des Handelns war. Wesentlich seien die Praxis und das Handeln und diese unterscheiden sich leider häufig vom Reden und Denken.

Sein hohes dichterisches Können hatte offensichtlich für ihn zur Folge, dass er von der buddhistischen Praxis im Zazen und im Alltag noch weit entfernt war. In der Tat ist es sehr leicht zu sagen, was moralisch sinnvoll und richtig sei, nämlich kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun. Es ist sicher zutreffend, dass bereits ein Kind, das gelernt hat, vernünftige Sätze zu bilden, dies sagen kann. Die Verwirklichung dieses moralischen Vorsatzes erfordert jedoch eine ganz andere Dimension des Lebens, so dass oft die Erfahrung eines sehr langen Lebens und das Lernen auf dem Weg des Dharma nicht ausreichen, um dies vollständig zu verwirklichen.

Für diese Verwirklichung ist eine intuitive Klarheit und umfassende Kraft des Handelns im Augenblick erforderlich. Dies kann man auch mit Dōgen die „wunderbaren Ursachen und Wirkungen“ oder die „Buddha-Ursachen und Buddha-Wirkungen“ nennen. Wenn Menschen das Rechte tun, und dies kann auf vielerlei Art geschehen, verwirklichen sich ihr Wesen, ihre Form, ihr Körper und ihre positive Kraft.

Dōgen fragt, warum der Dichter das dreijährige Kind gering schätzt, indem er sagt, es könne schon solche einfachen und selbstverständlichen Aussagen über Unrecht formulieren. Er bezweifelt an dieser Stelle, dass der Dichter überhaupt weiß, was ein dreijähriges Kind wirklich ist. Denn wenn er es tastsächlich kennen würde, wäre ihm auch der Buddha-Dharma zugänglich. Er sagt hierzu:

„Wer dazu gekommen ist, ein einziges Partikel zu kennen, der kennt das ganze Universum, und wer einen wirklichen Dharma durchdrungen hat, hat die zehntausend Dharmas durchdrungen.“

Man kann nach Dōgen sogar sagen, dass ein Kind sofort nach der Geburt an dem Löwengebrüll der buddhistischen Lehre teilhat und sich auf den Weg des Buddha-Dharma begibt. Das Löwengebrüll eines Kindes versteht dieser Dichter offensichtlich nicht, und offenbar tut er das Reden des Kindes als unwichtiges Geplapper ab. Doch schon ein dreijähriges Kind kann die Wahrheit ausdrücken, und dies sollten wir gründlich erforschen und durchdringen. Ob und wann ein erfahrener Mann von achtzig Jahren die Wahrheit verwirklicht oder nicht, sollten wir genauso untersuchen. Dabei ist es sinnvoll, dass wir uns nicht von Interpretationen leiten lassen und dass wir nichts wegnehmen und nichts hinzufügen, sondern die Wirklichkeit und damit die Wahrheit so verstehen und erfahren, wie sie ist.