In diesem Kapitel erläutert Dōgen, dass aus buddhistischer Sicht das Unrecht „von Natur aus“ in der Welt und im Universum ursprünglich nicht vorhanden ist, sondern vom Menschen durch unrechtes Handeln erzeugt, also hinzugefügt, wird. Das ist eine bemerkenswerte Sicht, denn in den meisten Religionen wird gelehrt, dass das Böse, zum Beispiel in Gestalt des Teufels, ein Teil dieser Welt und des Menschen ist und mit der Kraft des Guten bekämpft werden muss. In der Wirklichkeit des Buddhismus gibt es das Unrecht als eine Art böser, dauerhafter Essenz und als böses Sein überhaupt nicht, sondern es gibt nur das unrechte Tun und Handeln der Menschen, das gegen Moral und damit gegen die Gesetze des Universums verstößt. Gleichwohl ist falsches, unrechtes und verbrecherisches Handeln in der Lebenswelt der Menschen leider eine Tatsache, die man nicht wegdiskutieren und verdrängen darf. Dōgen warnt uns mehrfach im Shōbōgenzō davor, uns in Illusionen zu verlieren und über die Wirklichkeit zu täuschen.
Er
betont in diesem Kapitel besonders, dass Moral und Ethik, also richtiges
Handeln, untrennbar mit der buddhistischen Lehre und Praxis verbunden sind. Der
Buddhismus ist also keine „wertfreie“ Philosophie oder Theorie, sondern die Einheit
von Körper, Geist, Handeln und Moral. Rechtes oder unrechtes Handeln im Hier
und Jetzt des Augenblicks und Ortes sind für den Buddha-Dharma ganz wesentlich.
Wenn
Menschen, wie häufig zu beobachten ist, abstrakt und meist empört über das
Unrecht in der Welt oder bei anderen diskutieren, ist dies daher viel zu
allgemein und gehört in den Bereich der Theorie und Philosophie. Man kann zwar
über Unrecht trefflich diskutieren, sich streiten und sich dann besser fühlen
als andere; in Wirklichkeit hat man jedoch meistens gerade das Unrechte selbst
getan, wenn man sich im Streit mit anderen in aggressiven Worten verliert, um
ihn zu verletzen. Dann hat man eben gerade durch den Streit und die Verletzung
des anderen gegen die sozialen Gesetze des Buddhismus gehandelt. Derartige
aggressive Diskussionen verhärten sich manchmal zu einem offenen Kampf mit
Worten des einen Ego gegen das andere. Dies kann aber auf keinen Fall der
Buddha-Dharma sein.
Dōgen
zitiert einen alten Buddha, der lehrte:
„Vielfältiges Unrecht nicht zu erzeugen,
die vielen Arten des Rechten achtungsvoll zu tun,
macht Herz und Geist auf natürliche Weise rein:
Dies lehren alle Buddhas.“
Bei
der Übersetzung der deutschen Fassung von Dōgens „Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges“ (Shōbōgenzō) haben Frau
Ritsunen Linnebach und ich gründlich überlegt, ob wir die häufig verwendete
Formulierung „Kein Unrecht tun“ verwenden sollten oder nicht. Wir sind zu dem
Schluss gekommen, dass die präzise Übersetzung aus dem Japanischen eher dem
deutschen Begriff „erzeugen“ entspricht und dass Dōgen dies auch genau so
meint. Dieser Begriff bringt besonders klar zum Ausdruck, dass das Unrecht
künstlich durch die Menschen erzeugt wird und eigentlich von Natur aus im
Universum gar nicht existiert.
Würde
man eine andere Übersetzung wie „sich des Übels enthalten“ wählen, stünde die
Vorstellung dahinter, dass das Übel in der Welt von Natur aus als Essenz
bereits vorhanden ist und dass man sich davor in Acht nehmen, sich also dessen
enthalten soll. Dies will Dōgen unseres Erachtens aber gerade nicht sagen.
Die
Behauptung, dass man Unrechtes und Übles erst im Handeln selbst erzeugt und es
in der Harmonie des Universums und der Welt sonst gar nicht vorhanden ist, mag
zunächst überraschen. Wenn wir aber bedenken, dass der Buddhismus wesentlich
auf das Handeln abstellt, und so dem
Handeln die Qualität der Wirklichkeit und Wahrheit zumisst, nicht aber einer
abstrakten Idee oder gedachten Essenz, dann hat dies für unser Leben wirklich
eine sehr große Bedeutung. Es kommt einfach darauf an, dass wir nichts
Unrechtes erzeugen und dass wir uns in unserem Leben und Handeln den vielen
Möglichkeiten, etwas Sinnvolles und Gutes zu tun, mit Sorgfalt und Achtung
widmen. Dies ist der Weg in die Unabhängigkeit und Freiheit. Unrechtes zu
erzeugen macht abhängig.
Im
ersten Teil dieses Kapitels betont Dōgen das aktive eigene Handeln. Aber wie er
sagt, geht es auch darum, dass man das rechte Handeln geschehen lässt und das
unrechte Handeln nicht zulässt. Ein eher abwartendes Verhalten des
Geschehenlassens kann oft moralisch das richtige Handeln sein.
Mit
unrechtem Handeln kommen wir in unserem Leben häufig in Berührung. Dies kann
durch Freunde, Verwandte, aber vor allem durch Feinde und Konkurrenten
geschehen. Der Buddhismus lehrt in aller Klarheit, dass es moralisch nicht
korrekt ist, zuzuschauen und es zuzulassen, wenn andere Unrechtes tun. Ein
solches Verhalten kann auch nicht mit dem falsch verstandenen Satz, „es ist,
wie es ist“, begründet werden, um sich damit aus der Verantwortung in der Welt
zu stehlen. Neben dem rechten und unrechten gibt es nach Dōgen auch neutrales
Handeln, das weder Recht noch Unrecht ist.
Da
das Unrecht nicht als dauerhafte, abstrakte Wirklichkeit besteht, sondern durch
Handeln selbst erzeugt oder nicht erzeugt wird, kann dies nur jeweils im
gegenwärtigen Augenblick geschehen. Das rechte oder unrechte Handeln existiert
also nur in der Gegenwart der Sein-Zeit und nicht dauerhaft.
Aus
buddhistischer Sicht ähnelt das Unrecht der Vergangenheit, an das wir uns
lediglich erinnern, dem wirklichen Unrecht des Augenblicks nur im Groben, ist
aber nicht mit ihm identisch. Erinnerungen können niemals dasselbe wie die
Wirklichkeit der Gegenwart sein. Das Gleiche gilt für erwartetes und vorgestelltes
Unrecht in der Zukunft. Die Klarheit darüber wird uns nach Dōgen durch die
buddhistische Praxis, vor allem des Zazen, deutlich. Er sagt hierzu, dass sich
in Bezug auf die Frage von Recht oder Unrecht die Menschen des Buddha-Dharma
einerseits und die Menschen der gewöhnlichen Lebenswelt andererseits stärker
unterscheiden, als es Abweichungen innerhalb des Buddhismus selbst gibt. Wie in
dem Kapitel „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt“ (Uji) im Shōbōgenzō im Einzelnen behandelt wird, ist die wahre Zeit des
Augenblicks untrennbar mit dem rechten oder unrechten Handeln verbunden.
Wenn
man nur die Worte hört, dass man kein Unrecht erzeugen soll, verändert dies
nach Dōgen meistens schon ein wenig das Verhalten und Handeln des Menschen.
Wichtig ist, dass die buddhistische Praxis des Zazen hinzukommt und dass ein
moralischer Vorsatz nicht auf Denken und Reden beschränkt bleibt. Denn die
Kraft der Praxis ermöglicht es uns, an Klarheit zu gewinnen und unser Handeln
und Verhalten umzustellen. Aus der Praxis ergibt sich eine intuitive moralische
Klarheit im Augenblick, so dass es nahezu unmöglich wird, etwas Unrechtes zu
tun. Da wir immer im gegenwärtigen Augenblick handeln, bedeutet dies die
Klarheit und Kraft im Jetzt.
Dieser
Augenblick sei so kurz, dass wir nicht mit dem Verstand über Recht und Unrecht
reflektieren und gleichzeitig handeln können. Indem wir richtig handeln, kann
sich an keinem Ort und zu keinem Zeitpunkt eine Eigenständigkeit des Unrechten
entwickeln. Dies gilt auch, wenn wir in einer Umgebung leben und in eine
Situation geraten, in der viel Unrechtes getan wird, und meinen, dass sich das
Unrecht gegenüber dem Handeln verselbstständigt hat. Dann hat sich in der Tat
der Gedanke oder die Idee wie eine Essenz verhärtet und beherrscht den Geist.
Dōgen drückt dies wie folgt aus:
„Wenn wir unseren ganzen Geist und den ganzen Körper der
Praxis (des Zazen) widmen, verwirklichen sich achtzig oder neunzig Prozent
(davon, dass kein Unrecht erzeugt wird) gerade vor diesem Augenblick. Und es
gibt (auch) die Tatsache, dass nach dem Augenblick (kein Unrecht) erzeugt
wird“, (wörtlich:“ hinter dem Gehirn“).
Die
Praxis des Zazen verwirklicht sich dabei körperlich und geistig durch das
Handeln, und wir vermeiden, unser Selbst zu verunreinigen. Da bei der buddhistischen
Praxis eine Einheit mit dem Universum und der Welt besteht und Abgrenzung und
Dualität überwunden werden, kann man nach Dôgen sagen, dass wir auch die Berge,
Flüsse, die Erde, Sonne, den Mond und die Sterne praktizieren und dass wir sie
praktizieren lassen. In diesem Sinne haben die Buddhas und Vorfahren im Dharma
die Praxis und Erfahrung niemals verunreinigt; sie sind dadurch frei und haben
sich selbst niemals eingeschränkt. Dies bedeutet „erzeugt kein Unrecht!“.
Das
Unrecht ist also nach buddhistischer Lehre als unabhängige Entität weder
existent noch nicht existent, sondern es wird direkt beim Handeln erzeugt.
Genauso wenig hat es eine materielle oder immaterielle Qualität, denn es geht
um das Erzeugen im Augenblick als Tun. Dies darf man nicht allgemein zu
abstrakt verstehen, sondern es bedeutet das reale, konkrete Handeln im Hier und
Jetzt. Allzu leicht wird das Unrecht beschönigt und heruntergespielt. Dies sind
jedoch Bewertungen des Menschen, die Unklarheiten zur Folge haben.
Indem
wir bedauern, dass wir etwas Unrechtes getan haben, entwickelt sich nach Dōgen
die Kraft und das Streben zum richtigen Handeln. Wenn man durch die Übungspraxis die nötige Energie und Klarheit
gewonnen habe, sei es darüber hinaus
nicht mehr möglich, willentlich Unrechtes zu erzeugen.
In
dem obigen Gedicht heißt es am Anfang, dass wir die vielen Arten des Rechten
achtungsvoll ausüben. Dabei geht es konkret zum Handeln im Augenblick und die
Freiheit, die wir dann haben, Gutes und Rechtes zu erzeugen. Diskussionen darüber,
ob das Rechte existiert oder nicht existiert, führen also nicht weiter und
erstarren zwangsläufig auf einer theoretischen Ebene, die vom Handeln im Alltag
und Hier und Jetzt weit entfernt ist. Das Richtige wird in solchen Diskussionen
wie ein Ding behandelt, und das ist unrichtig.
Es
ist in der Tat erstaunlich zu sehen, dass manche Menschen ganz anders handeln,
als sie glauben, und dass theoretische wohlklingende Moral oft damit verbunden
ist, dass das Rechte gerade nicht getan wird. Überhaupt wird manches als „das
Rechte“ bezeichnet, was bei genauer Untersuchung des Handelns wirklich nicht
als richtiges Handeln gesehen werden kann und meist maskiert dem eigenen
Vorteil dient. Dōgen betont an dieser Stelle, dass es verschiedene Wege gibt,
Rechtes zu tun, zum Beispiel die Glaubenspraxis des reinen Landes und die
Zazen-Praxis, die er selbst so sehr schätzt. Wichtig ist, dass man beim Rechten
achtungsvoll handelt, das heißt also, Achtung vor anderen Menschen und vor
ihrem Handeln hat. Wie Dōgen betont, gilt dies nicht nur für Freunde und Verwandte,
sondern insbesondere auch für Konkurrenten oder Feinde. Es gilt also sowohl für
das Leben in der Familie, für den Umgang mit Freunden als auch im Beruf, bei
dem häufig Konkurrenzkämpfe und Positionsneid vorherrschen.
Das
achtungsvolle Tun des Rechten vollzieht sich im Augenblick selbst. Wie Dōgen
sagt, sollen wir die Ursachen, das Rechte zu verfehlen, nicht auf äußere
Umstände und Situationen schieben, damit werden falsche Ursachen benannt. Was
für das aktive Tun gilt, sei auch für das Geschehenlassen wahr, denn man kann
Rechtes auch dadurch verwirklichen, dass man etwas geschehen lässt. In einem
solchen Fall soll man nicht störend oder egoistisch eingreifen und damit das
Unrecht erst selbst erzeugen.
Im
obigen Gedicht heißt es weiter, dass sich das Herz und der Geist auf natürliche
Weise öffnen und rein werden, wenn man kein Unrecht erzeugt und das Rechte
achtungsvoll tut. Auch diese Aussage darf jedoch nicht in der Theorie und im
begrifflichen Denken stecken bleiben, sondern muss handelnd erfahren und
erforscht werden. Handelnd können wir lernen, wie die Buddhas sein sollen,
sodass wir uns nach Dōgen nicht wie gewöhnliche Menschen verhalten, die sich
mit dem Leiden, das durch unrechtes Handeln erzeugt wird, abfinden und nicht
zum rechten Tun durchringen. So kann auch im alltäglichen Leben ganz real
vermieden werden, das Unrechte zu erzeugen, und es kann möglich werden, das
Rechte zu tun.
In
einer bekannten Kōan-Geschichte fragte ein berühmter Dichter einen großen
Meister: Was ist der große Sinn des Buddha-Dharma?“ Der Meister antwortete:
„Kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun.“ Der Dichter, der auch ein
bedeutender Gouverneur war, bemerkte daraufhin etwas abfällig: „Wenn das so
ist, kann dies sogar ein dreijähriges Kind sagen.“ Der Meister erwiderte: „Ein
dreijähriges Kind kann schon die Wahrheit sagen, aber selbst ein erfahrener
Mann von achtzig Jahren kann sie nicht konkret (ganz) verwirklichen.“
Der
Dichter dankte daraufhin zwar dem Meister mit einer Niederwerfung, aber den
tieferen Sinn der Aussage konnte er, wie Dōgen sagt, nicht erfassen. Er war
berühmt wegen seiner großen dichterischen Qualitäten und wurde im Kreise der
Schriftsteller und Dichter außerordentlich verehrt. Den tieferen Sinn der
Worte, dass man kein Unrecht erzeugen und das Rechte tun solle, verstand er
jedoch nur als begriffliche Aussage, verharrte also auf der Wort- und
Denkebene. Dies ist, wie Dōgen feststellt, nicht verwunderlich, weil er eben
ein Mann des Wortes und der Dichtung und nicht ein Mann des Handelns war.
Wesentlich seien die Praxis und das Handeln und diese unterscheiden sich leider
häufig vom Reden und Denken.
Sein
hohes dichterisches Können hatte offensichtlich für ihn zur Folge, dass er von
der buddhistischen Praxis im Zazen und im Alltag noch weit entfernt war. In der
Tat ist es sehr leicht zu sagen, was moralisch sinnvoll und richtig sei,
nämlich kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun. Es ist sicher zutreffend,
dass bereits ein Kind, das gelernt hat, vernünftige Sätze zu bilden, dies sagen
kann. Die Verwirklichung dieses
moralischen Vorsatzes erfordert jedoch eine ganz andere Dimension des Lebens,
so dass oft die Erfahrung eines sehr langen Lebens und das Lernen auf dem Weg
des Dharma nicht ausreichen, um dies vollständig zu verwirklichen.
Für
diese Verwirklichung ist eine intuitive Klarheit und umfassende Kraft des
Handelns im Augenblick erforderlich. Dies kann man auch mit Dōgen die
„wunderbaren Ursachen und Wirkungen“ oder die „Buddha-Ursachen und
Buddha-Wirkungen“ nennen. Wenn Menschen das Rechte tun, und dies kann auf
vielerlei Art geschehen, verwirklichen sich ihr Wesen, ihre Form, ihr Körper
und ihre positive Kraft.
Dōgen
fragt, warum der Dichter das dreijährige Kind gering schätzt, indem er sagt, es
könne schon solche einfachen und selbstverständlichen Aussagen über Unrecht
formulieren. Er bezweifelt an dieser Stelle, dass der Dichter überhaupt weiß,
was ein dreijähriges Kind wirklich ist. Denn wenn er es tastsächlich kennen
würde, wäre ihm auch der Buddha-Dharma zugänglich. Er sagt hierzu:
„Wer dazu gekommen ist, ein einziges Partikel zu kennen, der
kennt das ganze Universum, und wer einen wirklichen Dharma durchdrungen hat,
hat die zehntausend Dharmas durchdrungen.“
Man kann nach Dōgen sogar sagen, dass ein Kind sofort nach der Geburt an dem Löwengebrüll der buddhistischen Lehre teilhat und sich auf den Weg des Buddha-Dharma begibt. Das Löwengebrüll eines Kindes versteht dieser Dichter offensichtlich nicht, und offenbar tut er das Reden des Kindes als unwichtiges Geplapper ab. Doch schon ein dreijähriges Kind kann die Wahrheit ausdrücken, und dies sollten wir gründlich erforschen und durchdringen. Ob und wann ein erfahrener Mann von achtzig Jahren die Wahrheit verwirklicht oder nicht, sollten wir genauso untersuchen. Dabei ist es sinnvoll, dass wir uns nicht von Interpretationen leiten lassen und dass wir nichts wegnehmen und nichts hinzufügen, sondern die Wirklichkeit und damit die Wahrheit so verstehen und erfahren, wie sie ist.