Sonntag, 20. März 2022

Die große tiefe Weisheit, die das gespaltene duale Denken überschreitet

 

Meister Dōgen beschreibt im zweiten Kapitel des Shōbōgenzō (Makahannya haramitsu) die große umfassende Weisheit des Buddhismus, Pāramitā, die das übliche oft duale Denken und den gespaltenen Geist überschreitet. Sie lässt also solche Doktrinen weit hinter sich. Dieses letztlich eindimensionale Denken hat auch große Bereiche des westlichen Philosophie und Wissenschaft verengt und aus meiner Sicht zu den Problemen des europäischen Denkens maßgeblich beigetragen. Buddha und Meister Nagarjuna haben das erkannt und die buddhistische Praxis und Theorie erarbeitet, um dieser geistigen Falle zu entgehen. Wie im Gesang des Mittleren Weges, MMK, dem großen Lehrgedicht Nagarjunas herausgearbeitet wird, geht es dabei um die Falsifizierung der beiden extremen Doktrinen der ewigen Unveränderlichkeit oder zeitliche Zerstückelung in der Welt, Das hat Ähnlichkeit mit dem falsch verstandenen Sein und Seiendem nach westlicher Philosophie, also der Substantivismus und Momentanismus. Ich habe sie zusammen mit Dogens Weisheiten des Shobogenzoin den Büchern "Sternstunden des Buddhismus" genauer untersucht.

In Japanisch heißt das hier behandelte Kapitel Dogens (Makahannya haramitsu), das auch die Kernaussage des Herz-Sūtra ist. Er stellt dieses berühmte Sūtra an den Anfang seiner umfassenden Lehre des Buddhismus. Maßgeblich sind dafür die Begriffe Form und Leerheit. Auch Peter Gäng bezeichnet prajñā in seinem Buch über den Buddhismus als eine Weisheit, die über das übliche Denken hinausgeht. Das Herz-Sūtra ist eines der kürzesten und wohl auch aussagekräftigste aus einer Reihe von ca. vierzig Sūtras zu diesem Thema. Es wird in den buddhistischen Gruppen der meisten ostasiatischen und westlichen Traditionen auch heute regelmäßig rezitiert.

Pāramitā bedeutet das „Erreichen des anderen Ufers“, also das Erwachen und Überschreiten des üblichen Denkens und der gewöhnlichen Wahrnehmung. Dabei sind Geist und Wahrnehmung im Normalfall meistens mit mehr oder minder stark steuernden Emotionen beeinflusst. Prajñā wird auch oft mit dem Begriff der Leerheit (shūnyatā) verbunden, der vor allem von Meister Nāgārjuna tiefgründig interpretiert wurde. Der Begriff der Leerheit hat allerdings nicht selten zu gravierenden Missverständnissen geführt, weil oft die Vorstellung von Nihilismus und Ablehnung von Vernunft und Logik damit verbunden wird. Dies ist aber nicht richtig. Verkürzt bedeutet Leerheit: "Ohne die Gifte Gier, Hass und Verblendung", also besonders auch frei von verzerrenden Ideologien und Dogmen.

Prajñā bedeutet also die Weisheit, die das normale verzerrte und verengte Denken überschreitet, somit kennzeichnet sie also Qualitäten unseres Geistes, die beim linearen Denken und der Trennung von Subjekt und Objekt nicht zum Zuge kommen. Wichtig dabei sind nicht zuletzt geistige Leistungen, die wir als Intuition bezeichnen. Ich selbst habe das Herz-Sūtra immer wieder rezitiert und hatte zunächst erhebliche Mühe, überhaupt dessen Sinn zu erfassen, weil es am Schluss heißt, dass dieses Sūtra mit seiner Kraft „alles Leiden wegnimmt“. Wie kann man das Leiden überwinden, wenn es heißt, „Form ist Leere, und Leere ist Form“? Das war mir in der Tat völlig unklar.

Nishijima Roshi sagt zu diesem Kapitel:„Prajñā wird intuitiv und unmittelbar erfahren, wenn Körper und Geist im Zustand des Gleichgewichts sind. Und Zazen ist die Übungspraxis, durch die Körper und Geist in diesen Zustand gelangen. So ist die Pāramitā der großen Weisheit die Essenz des Zazen.“

Er verwendet für den Begriff der Leerheit häufig den Zustand des ganzheitlichen Gleichgewichts von Körper und Geist, also des ganzen Menschen und auf keinen Fall nur seines Intellektes.

Dōgen beginnt dieses Kapitel wie folgt:„Währen der Bodhisattva Avalokiteshvara die tiefgründige Prajñā-Pāramitā praktiziert, spiegelt der ganze Körper wider, dass die fünf Komponenten des Menschen (Skandhas) vollständig leer sind.“ Das bedeutet verkürzt, dass die Skandhas "von Natur aus" ohne die Gifte Gier, Hass und Verblendung sind, und das ist besonders wichtig für Denken, Fühlen und Wahrnehmung.

Nishijima Roshi erläutert hierzu sein erstes Grundprinzip, das man bei der Zazen-Praxis erfährt: „Das ganze Universum ist so, wie es ist“. Die fünf Komponenten des Menschen und der Welt, Skandhas, sind nach seiner Deutung Körper (Form), Sinne (Wahrnehmung), Denken, Handeln und Bewusstsein. Beim Zazen werden das verengte Denken und verzerrte Wahrnehmung überschritten, sodass sich das Bewusstsein ganz für das Hier und Jetzt öffnet. Es schüttelt den Stress, die Gedanken und aufgeladenen Gefühle einfach ab. Dies wird also auch mit dem Begriff „Leerheit“ bezeichnet: Wir sind dann leer von den beengten Gedanken und Gefühlen. Damit hat der Begriff „Leerheit“ eine ähnliche Bedeutung wie bei uns im Westen der Begriff der „Freiheit“, allerdings in einem umfassenden spirituellen Sinn. Nishijima Roshi erklärt hierzu, dass sich in diesem Zustand das vegetative, also autonome Nervensystem im Gleichgewicht des Zazen befindet und dass sich dadurch Ausgeglichenheit und Ruhe einstellen. Es gibt dann im Bewusstsein und Geist keine Störungen mehr, und dadurch wird die Welt und das Universum genau so erfahren, wie es ist. Damit ergibt sich eine Gleichheit von Leerheit und dem Zustand in der Zazen-Praxis. Gleichgewicht und Soheit. Ritsunen Linnebach verwendet dafür gern die Formulierung:„es ist, wie es ist“. Dôgen sagt folgerichtig zu den Begriffen von Form und Leerheit über das obige Zitat hinaus, dass die Form auch die Form und die Leerheit auch die Leerheit ist. Dadurch wird die Soheit von beiden besonders betont.

Ich hoffe, dass diese Ausführungen nicht allzu verwirrend sind; wichtig ist dabei, dass es sich um die übergreifende Weisheit jenseits des gewöhnlichen Denkens handelt. Sie ereignet sich nach der Lehre des Buddhismus in der Zazen-Praxis beim Menschen unmittelbar im Hier und Jetzt. Im frühen Buddhismus ist das die vierte Vertiefung: Ohne gegenständliche Denken, Zeit und Raum, aber wohlgemerkt in der Zeit der Meditation. Danach ist man umso klarer für das Hier und Jetzt, das dann so ist wie es ist.

Die intuitive, grenzüberschreitende Prajñā-Weisheit ist auch für die Wahrnehmung wirksam. Ein erwachter Mensch haftet bei der Sinneswahrnehmung, zum Beispiel beim Sehen, nicht mehr nur an der äußeren Form und an der Trennung von Subjekt und Objekt, sondern überschreitet diese. Die Wahrnehmung wird nach altindischer Tradition mit den sechs Formen der Sinne und den jeweiligen Objekten erfasst, die aber nicht als getrennt angenommen werden.

Auch die vier edlen Wahrheiten des Gautama Buddha zur Überwindung des Leidens werden von dieser intuitiven Weisheit (Prajñā-Pāramitā) durchdrungen. Dasselbe gilt für die sechs Arten des Bodhisattva-Handelns: Freizügiges Geben, Einhalten der Gelöbnisse, Geduld, Ausdauer, Meditation und Samādhi.

Dōgen betont die Verwirklichung im gegenwärtigen Augenblick (Sein-Zeit) und fügt die drei verschiedenen Arten der linearen Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinzu. Das heiß, es gibt eine wahre und unwahre Erinnerung und eine wahre und unwahre Erwartung für die Zukunft. Vergangenheit und Zukunft sind also nicht von der Gegenwart abgeschnitten sondern sind in Wechselwirkung mit dem Augenblick. Eine solche Trennung würde auch den Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung widersprechen.

Die altindischen Arten der materiellen Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum sowie die vier Tätigkeiten des Alltags werden durch die große intuitive Weisheit erfasst, von ihr durchdrungen, und dadurch werden das herkömmliche Leben und Denken überschritten.

Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, sich die Herkunft des Sanskrit-Begriffes shūnyatā zu vergegenwärtigen: Peter Gäng zufolge wurde kurz vor der Zeitenwende von indischen Mathematikern, die damals führend in der Welt waren, die Null im System der positiven und negativen Zahlen entdeckt. Die Null heißt auf Sanskrit shūnyatā. Die Null ist in der Mitte zwischen den positiven und negativen Zahlen angeordnet und ermöglicht so das „Gleichgewicht“ und die Funktionsfähigkeit des gesamten Zahlensystems. Zur gleichen Zeit wurden von mehreren großen indischen Meistern die Lehren des Mahāyāna-Buddhismus ausgearbeitet und interpretiert, wobei Meister Nāgārjuna diesbezüglich einen Höhepunkt und eine „goldene Periode“ prägte. Er verwendete für die Kennzeichnung des Mittleren Weges, also des kraftvollen Gleichgewichts, vor allem den Begriff shūnyatā und hat dies im Gesang des Mittleren Weges näher beschrieben. In der älteren buddhistischen Litratur wird Nâgârjuna allerdings z. T. als Nihilist bezeichnet, der angeblich durch den Inhalt von shûnyatâ alle Logik und alles Denken außer Kraft gesetzt hat und eine Auflösung im „Nichts“ lehren würde. Manchmal haben wir den Eindruck, das Schopenhauers Verständnis des Buddhismus dem nahe kommt. Dies ist aber nach heutiger weitgehend vorherrschender Sicht unrichtig, denn es geht um die intuitive, das unterscheidende Denken überschreitende Weisheit, die in der Praxis des Zazen erfahren wird.

Nishijima Roshi hat zuweilen den Eindruck, dass diese intuitive Weisheit, wie auch überhaupt die Intuition, im Westen nicht für wichtig genug genommen und nicht richtig anerkannt werden. Oft wird ein scheinbarer Gegensatz von rationalem Denken und Intuition konstruiert und letztere in den Bereich der nebulösen Esoterik und der Mystik verbannt. Dies ist meines Erachtens jedoch unsinnig. Eine intuitive Klarheit ist im Gleichgewicht des Zazen und beim täglichen Handeln möglich und führt auch in existenziellen komplexen Lebenssituationen zu ganz klaren schnellen Entscheidungen, die vom verengten linearen Verstand niemals geleistet werden könnten.

Dōgen zitiert einen Mönch aus dem Orden von Shâkyamuni Buddha, …

„… der für sich allein dachte: Stets werde ich mich in Verehrung vor dem tiefen Prajñā-Pāramitā verneigen“.

Nishijima Roshi erläutert dieses Zitat in dem Sinne, dass das aufrichtige Handeln des Mönchs die Weisheit Prajñā selbst sei und dass diese sich in seiner achtungsvollen und ehrlichen Verbeugung verwirklicht. Dieses Verhalten sei äußerlich allerdings nicht immer klar erkennbar.

Dōgen sagt: „Denn genau in diesem Augenblick der Verneigung verwirklicht sich (die Weisheit) Prajñā, die durch die Gelöbnisse, das Gleichgewicht und die Weisheit bis hin zur Erlösung aller Wesen erklärt und verstanden werden kann.“

Er spricht in diesem Zusammenhang auch ganz einfach davon, dass „so es ist, wie es ist“, und meint damit die Soheit ohne irgendwelche Verzerrungen und Zusätze, also die Wirklichkeit der Welt und des Universums selbst.

Dôgen führt für die Untersuchung der Prajñā-Pāramitā das Gleichnis des Raumes an und lässt den Schüler Buddhas zum Gott Indra sagen:

„Hochverehrter Indra, wenn die Bodhisattva Mahasattvas die tiefe Prajñā-Pāramitā erforschen wollen, sollen sie es wie den Raum erforschen.“

Der Raum ist im jetzigen Augenblick allgegenwärtig, und in gleicher Weise existiert Prajñā im ganzen Universum. So kann die Vorstellung des Raumes das intuitive Verstehen von Prajñā erleichtern, und dies ist möglich, wenn wir im gegenwärtigen Augenblick das Gleichgewicht verwirklichen und erleben.

Auf die Frage Indras, wie man die intuitive Weisheit beschützen könne, antwortet der Mönch Subhuti: Die Prajñā-Pāramitā werde beschützt, wenn die Menschen sie leben und lehren. Und Nishijima Roshi fügt hinzu:„Daher kann ein Mensch Buddha genannt werden, der immer den Zustand des Gleichgewichts aufrechterhält.“

Im Buddhismus wird nach Dōgen Prajñā empfangen, bewahrt, gelesen und rezitiert. Er sagt weiter, dass man „mit Einsicht (tiefer) darüber nachdenken soll“. Schließlich zitiert Meister Dōgen Shâkyamuni Buddha, der zu seinem Schüler Shāriputra sagt:

„Die höchstverehrten Buddhas sind Prajñā-Pāramitā. Warum sage ich dies? Ich sage es, Shāriputra, weil der richtige, wahre und ausgeglichene Zustand der Wahrheit, den alle Tathāgatas (Buddhas) haben, sich immer durch die Tugend des Prajñā-Pāramitā offenbart.“

Wenn die Formen und das Materielle mit der intuitiven Weisheit gesehen und erfahren werden, können sie im Zustand des Gleichgewichts als leer von allen Ideologien und Begierden bezeichnet werden. Sie sind dann so, wie sie sind. Dies kann zum Verständnis der Aussage, „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form“ beitragen. Es darf sich jedoch nicht allein auf das intellektuelle Denken verengen, denn es geht um die große intuitive Weisheit.