Meister Dōgen beschreibt im zweiten Kapitel des Shōbōgenzō (Makahannya haramitsu) die große umfassende Weisheit des Buddhismus, Pāramitā, die das übliche oft duale Denken und den gespaltenen Geist überschreitet. Sie lässt also solche Doktrinen weit hinter sich. Dieses letztlich eindimensionale Denken hat auch große Bereiche des westlichen Philosophie und Wissenschaft verengt und aus meiner Sicht zu den Problemen des europäischen Denkens maßgeblich beigetragen. Buddha und Meister Nagarjuna haben das erkannt und die buddhistische Praxis und Theorie erarbeitet, um dieser geistigen Falle zu entgehen. Wie im Gesang des Mittleren Weges, MMK, dem großen Lehrgedicht Nagarjunas herausgearbeitet wird, geht es dabei um die Falsifizierung der beiden extremen Doktrinen der ewigen Unveränderlichkeit oder zeitliche Zerstückelung in der Welt, Das hat Ähnlichkeit mit dem falsch verstandenen Sein und Seiendem nach westlicher Philosophie, also der Substantivismus und Momentanismus. Ich habe sie zusammen mit Dogens Weisheiten des Shobogenzoin den Büchern "Sternstunden des Buddhismus" genauer untersucht.
In
Japanisch heißt das hier behandelte Kapitel Dogens (Makahannya haramitsu), das auch die Kernaussage des Herz-Sūtra ist.
Er stellt dieses berühmte Sūtra an den Anfang seiner umfassenden Lehre des
Buddhismus. Maßgeblich sind dafür die Begriffe Form und Leerheit. Auch Peter
Gäng bezeichnet prajñā in seinem Buch
über den Buddhismus als eine Weisheit, die über das übliche Denken hinausgeht.
Das Herz-Sūtra ist eines der kürzesten und wohl auch aussagekräftigste aus
einer Reihe von ca. vierzig Sūtras zu diesem Thema. Es wird in den
buddhistischen Gruppen der meisten ostasiatischen und westlichen Traditionen
auch heute regelmäßig rezitiert.
Pāramitā
bedeutet das „Erreichen des anderen Ufers“, also das Erwachen und Überschreiten
des üblichen Denkens und der gewöhnlichen Wahrnehmung. Dabei sind Geist und
Wahrnehmung im Normalfall meistens mit mehr oder minder stark steuernden
Emotionen beeinflusst. Prajñā wird auch oft mit dem Begriff der Leerheit
(shūnyatā) verbunden, der vor allem von Meister Nāgārjuna tiefgründig
interpretiert wurde. Der Begriff der Leerheit hat allerdings nicht selten zu
gravierenden Missverständnissen geführt, weil oft die Vorstellung von
Nihilismus und Ablehnung von Vernunft und Logik damit verbunden wird. Dies ist
aber nicht richtig. Verkürzt bedeutet Leerheit: "Ohne die Gifte Gier, Hass
und Verblendung", also besonders auch frei von verzerrenden Ideologien und
Dogmen.
Prajñā
bedeutet also die Weisheit, die das normale verzerrte und verengte Denken
überschreitet, somit kennzeichnet sie also Qualitäten unseres Geistes, die beim
linearen Denken und der Trennung von Subjekt und Objekt nicht zum Zuge kommen.
Wichtig dabei sind nicht zuletzt geistige Leistungen, die wir als Intuition
bezeichnen. Ich selbst habe das Herz-Sūtra immer wieder rezitiert und hatte
zunächst erhebliche Mühe, überhaupt dessen Sinn zu erfassen, weil es am Schluss
heißt, dass dieses Sūtra mit seiner Kraft „alles Leiden wegnimmt“. Wie kann man
das Leiden überwinden, wenn es heißt, „Form ist Leere, und Leere ist Form“? Das
war mir in der Tat völlig unklar.
Nishijima
Roshi sagt zu diesem Kapitel:„Prajñā wird intuitiv und unmittelbar erfahren,
wenn Körper und Geist im Zustand des Gleichgewichts sind. Und Zazen ist die
Übungspraxis, durch die Körper und Geist in diesen Zustand gelangen. So ist die
Pāramitā der großen Weisheit die Essenz des Zazen.“
Er
verwendet für den Begriff der Leerheit häufig den Zustand des ganzheitlichen
Gleichgewichts von Körper und Geist, also des ganzen Menschen und auf keinen
Fall nur seines Intellektes.
Dōgen
beginnt dieses Kapitel wie folgt:„Währen der Bodhisattva Avalokiteshvara die
tiefgründige Prajñā-Pāramitā praktiziert, spiegelt der ganze Körper wider, dass
die fünf Komponenten des Menschen (Skandhas) vollständig leer sind.“ Das
bedeutet verkürzt, dass die Skandhas "von Natur aus" ohne die Gifte
Gier, Hass und Verblendung sind, und das ist besonders wichtig für Denken,
Fühlen und Wahrnehmung.
Nishijima Roshi erläutert hierzu sein erstes
Grundprinzip, das man bei der Zazen-Praxis erfährt: „Das ganze Universum ist
so, wie es ist“. Die fünf Komponenten des Menschen und der Welt, Skandhas, sind
nach seiner Deutung Körper (Form), Sinne (Wahrnehmung), Denken, Handeln und
Bewusstsein. Beim Zazen werden das verengte Denken und verzerrte Wahrnehmung
überschritten, sodass sich das Bewusstsein ganz für das Hier und Jetzt öffnet.
Es schüttelt den Stress, die Gedanken und aufgeladenen Gefühle einfach ab. Dies
wird also auch mit dem Begriff „Leerheit“ bezeichnet: Wir sind dann leer von
den beengten Gedanken und Gefühlen. Damit hat der Begriff „Leerheit“ eine
ähnliche Bedeutung wie bei uns im Westen der Begriff der „Freiheit“, allerdings
in einem umfassenden spirituellen Sinn. Nishijima Roshi erklärt hierzu, dass
sich in diesem Zustand das vegetative, also autonome Nervensystem im Gleichgewicht
des Zazen befindet und dass sich dadurch Ausgeglichenheit und Ruhe einstellen.
Es gibt dann im Bewusstsein und Geist keine Störungen mehr, und dadurch wird die
Welt und das Universum genau so erfahren, wie es ist. Damit ergibt sich eine
Gleichheit von Leerheit und dem Zustand in der Zazen-Praxis. Gleichgewicht und
Soheit. Ritsunen Linnebach verwendet dafür gern die Formulierung:„es ist, wie
es ist“. Dôgen sagt folgerichtig zu den Begriffen von Form und Leerheit über
das obige Zitat hinaus, dass die Form auch die Form und die Leerheit auch die
Leerheit ist. Dadurch wird die Soheit von beiden besonders betont.
Ich hoffe, dass diese Ausführungen nicht allzu
verwirrend sind; wichtig ist dabei, dass es sich um die übergreifende Weisheit
jenseits des gewöhnlichen Denkens handelt. Sie ereignet sich nach der Lehre des
Buddhismus in der Zazen-Praxis beim Menschen unmittelbar im Hier und Jetzt. Im
frühen Buddhismus ist das die vierte Vertiefung: Ohne gegenständliche Denken,
Zeit und Raum, aber wohlgemerkt in der Zeit der Meditation. Danach ist man umso
klarer für das Hier und Jetzt, das dann so ist wie es ist.
Die
intuitive, grenzüberschreitende Prajñā-Weisheit ist auch für die Wahrnehmung
wirksam. Ein erwachter Mensch haftet bei der Sinneswahrnehmung, zum Beispiel
beim Sehen, nicht mehr nur an der äußeren Form und an der Trennung von Subjekt
und Objekt, sondern überschreitet diese. Die Wahrnehmung wird nach altindischer
Tradition mit den sechs Formen der Sinne und den jeweiligen Objekten erfasst,
die aber nicht als getrennt angenommen werden.
Auch
die vier edlen Wahrheiten des Gautama Buddha zur Überwindung des Leidens werden
von dieser intuitiven Weisheit (Prajñā-Pāramitā) durchdrungen. Dasselbe gilt
für die sechs Arten des Bodhisattva-Handelns: Freizügiges Geben, Einhalten der
Gelöbnisse, Geduld, Ausdauer, Meditation und Samādhi.
Dōgen
betont die Verwirklichung im gegenwärtigen Augenblick (Sein-Zeit) und fügt die
drei verschiedenen Arten der linearen Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft hinzu. Das heiß, es gibt eine wahre und unwahre Erinnerung und eine
wahre und unwahre Erwartung für die Zukunft. Vergangenheit und Zukunft sind
also nicht von der Gegenwart abgeschnitten sondern sind in Wechselwirkung mit
dem Augenblick. Eine solche Trennung würde auch den Erkenntnissen der modernen
Gehirnforschung widersprechen.
Die
altindischen Arten der materiellen Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum
sowie die vier Tätigkeiten des Alltags werden durch die große intuitive
Weisheit erfasst, von ihr durchdrungen, und dadurch werden das herkömmliche
Leben und Denken überschritten.
Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, sich
die Herkunft des Sanskrit-Begriffes shūnyatā
zu vergegenwärtigen: Peter Gäng zufolge wurde kurz vor der Zeitenwende von
indischen Mathematikern, die damals führend in der Welt waren, die Null im
System der positiven und negativen Zahlen entdeckt. Die Null heißt auf Sanskrit
shūnyatā. Die Null ist in der Mitte
zwischen den positiven und negativen Zahlen angeordnet und ermöglicht so das
„Gleichgewicht“ und die Funktionsfähigkeit des gesamten Zahlensystems. Zur gleichen
Zeit wurden von mehreren großen indischen Meistern die Lehren des Mahāyāna-Buddhismus
ausgearbeitet und interpretiert, wobei Meister Nāgārjuna diesbezüglich einen Höhepunkt und eine „goldene Periode“ prägte.
Er verwendete für die Kennzeichnung des Mittleren Weges, also des kraftvollen Gleichgewichts,
vor allem den Begriff shūnyatā und
hat dies im Gesang des Mittleren Weges
näher beschrieben. In der älteren
buddhistischen Litratur wird Nâgârjuna
allerdings z. T. als Nihilist bezeichnet, der angeblich durch den Inhalt von shûnyatâ alle Logik und alles Denken
außer Kraft gesetzt hat und eine Auflösung im „Nichts“ lehren würde. Manchmal
haben wir den Eindruck, das Schopenhauers Verständnis des Buddhismus dem nahe
kommt. Dies ist aber nach heutiger weitgehend vorherrschender Sicht unrichtig,
denn es geht um die intuitive, das unterscheidende Denken überschreitende
Weisheit, die in der Praxis des Zazen erfahren wird.
Nishijima
Roshi hat zuweilen den Eindruck, dass
diese intuitive Weisheit, wie auch überhaupt die Intuition, im Westen nicht für
wichtig genug genommen und nicht richtig anerkannt werden. Oft wird ein
scheinbarer Gegensatz von rationalem Denken und Intuition konstruiert und
letztere in den Bereich der nebulösen Esoterik und der Mystik verbannt. Dies
ist meines Erachtens jedoch unsinnig. Eine intuitive Klarheit ist im Gleichgewicht
des Zazen und beim täglichen Handeln möglich und führt auch in existenziellen
komplexen Lebenssituationen zu ganz klaren schnellen Entscheidungen, die vom verengten
linearen Verstand niemals geleistet werden könnten.
Dōgen
zitiert einen Mönch aus dem Orden von Shâkyamuni Buddha, …
„… der für sich allein dachte: Stets werde ich mich in
Verehrung vor dem tiefen Prajñā-Pāramitā verneigen“.
Nishijima
Roshi erläutert dieses Zitat in dem Sinne, dass das aufrichtige Handeln des
Mönchs die Weisheit Prajñā selbst sei und dass diese sich in seiner
achtungsvollen und ehrlichen Verbeugung verwirklicht. Dieses Verhalten sei
äußerlich allerdings nicht immer klar erkennbar.
Dōgen
sagt: „Denn genau in diesem Augenblick der Verneigung verwirklicht sich (die
Weisheit) Prajñā, die durch die Gelöbnisse, das Gleichgewicht und die Weisheit
bis hin zur Erlösung aller Wesen erklärt und verstanden werden kann.“
Er
spricht in diesem Zusammenhang auch ganz einfach davon, dass „so es ist, wie es
ist“, und meint damit die Soheit ohne irgendwelche Verzerrungen und Zusätze,
also die Wirklichkeit der Welt und des Universums selbst.
Dôgen
führt für die Untersuchung der Prajñā-Pāramitā das Gleichnis des Raumes an und
lässt den Schüler Buddhas zum Gott Indra sagen:
„Hochverehrter Indra, wenn die Bodhisattva Mahasattvas die
tiefe Prajñā-Pāramitā erforschen wollen, sollen sie es wie den Raum
erforschen.“
Der Raum ist im jetzigen Augenblick allgegenwärtig, und in
gleicher Weise existiert Prajñā im ganzen Universum. So kann die Vorstellung des
Raumes das intuitive Verstehen von Prajñā erleichtern, und dies ist möglich,
wenn wir im gegenwärtigen Augenblick das Gleichgewicht verwirklichen und
erleben.
Auf
die Frage Indras, wie man die intuitive Weisheit beschützen könne, antwortet
der Mönch Subhuti: Die Prajñā-Pāramitā werde beschützt, wenn die Menschen sie leben
und lehren. Und Nishijima Roshi fügt hinzu:„Daher kann ein Mensch Buddha
genannt werden, der immer den Zustand des Gleichgewichts aufrechterhält.“
Im
Buddhismus wird nach Dōgen Prajñā empfangen, bewahrt, gelesen und rezitiert. Er
sagt weiter, dass man „mit Einsicht (tiefer) darüber nachdenken soll“.
Schließlich zitiert Meister Dōgen Shâkyamuni Buddha, der zu seinem Schüler Shāriputra
sagt:
„Die höchstverehrten Buddhas sind Prajñā-Pāramitā. Warum sage
ich dies? Ich sage es, Shāriputra, weil der richtige, wahre und ausgeglichene
Zustand der Wahrheit, den alle Tathāgatas (Buddhas) haben, sich immer durch die
Tugend des Prajñā-Pāramitā offenbart.“
Wenn die Formen und das
Materielle mit der intuitiven Weisheit gesehen und erfahren werden, können sie
im Zustand des Gleichgewichts als leer von allen Ideologien und Begierden
bezeichnet werden. Sie sind dann so, wie sie sind. Dies kann zum Verständnis
der Aussage, „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form“ beitragen. Es darf sich
jedoch nicht allein auf das intellektuelle Denken verengen, denn es geht um die
große intuitive Weisheit.