In diesem Kapitel[i]
erläutert Dōgen, dass es das Unrecht aus buddhistischer Sicht in der Welt und
im Universum „von Natur aus“ gar nicht gibt, sondern dass es vom Menschen durch
unrechtes Handeln selbst erzeugt, also hinzugefügt wird.[ii] Das
ist eine sehr bemerkenswerte Aussage, denn in den meisten Religionen wird
gelehrt, dass das Böse, zum Beispiel in Gestalt des Teufels, ein Teil dieser
Welt und damit des Menschen ist und durch die Kraft des Guten und vor allem mit
Gottes Hilfe bekämpft werden muss. In der Wirklichkeit des Buddhismus gibt es
aber das Unrecht als eine Art böser, dauerhafter Essenz und als böse Entität
nicht, sondern es gibt nur das unrechte
Handeln der Menschen. Dieses verstößt gegen die Ethik und Moral und damit
gegen die Gesetze des Lebens und Universums. Gleichwohl ist falsches, unrechtes
und verbrecherisches Handeln in der Lebenswelt der Menschen leider eine
traurige Tatsache, die man nicht wegdiskutieren und verdrängen darf. Und so
warnt Dōgen mehrfach im Shōbōgenzō davor, sich in Illusionen zu verlieren und
über die Wirklichkeit zu täuschen.
Der japanische Titel dieses
Kapitels – das zehnte im Shōbōgenzō –
lautet Shoaku makusa. Dabei bedeutet sho „viel“ oder „Vielfältiges“, aku heißt „falsch“ oder „schlecht“. Maku lässt sich übersetzen mit „nicht“
oder „tue nicht“ und sa mit „tun“,
„handeln“, „machen“ und „erzeugen“. Daher lautet die wörtliche Übersetzung
dieses Titels „Nichts vielfältiges Falsches tun“. Das japanische Wort sa hat in diesem Fall auch die Bedeutung
von „erzeugen“ und „generieren“.
Bei der Übersetzung der
deutschen Fassung von Dōgens Shōbōgenzō
– „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ – haben Frau Ritsunen Linnebach
und ich gründlich überlegt, ob wir die häufig verwendete Formulierung „Kein
Unrecht tun“ übernehmen sollten oder nicht. Wir sind jedoch zu dem Schluss
gekommen, dass die präzise Übersetzung aus dem Japanischen eher den deutschen
Begriffen „erzeugen“ oder „begehen“ entspricht und dass Dōgen dies auch genau
so meint. Beide Begriffe bringen besonders klar zum Ausdruck, dass das Unrecht
und Falsche allein durch die Menschen erzeugt wird und eigentlich von Natur aus
im Universum und in unserem Leben nicht existiert und dem Universum sogar
zuwiderläuft. Deshalb kann die Überschrift auch bedeuten: „Erzeugt kein
vielfältiges Unrecht“.
Würde man eine andere
Übersetzung wählen, zum Beispiel „sich des Übels enthalten“, stünde die
Vorstellung dahinter, dass das Übel in der Welt von Natur aus als Essenz
bereits vorhanden ist und dass man sich davor in Acht nehmen, sich also dessen
enthalten soll. Dies will Dōgen unseres Erachtens aber gerade nicht sagen.
Zum einen umfasst also die
Formulierung des Titels den ethischen Imperativ: Tut nichts Falsches! Und sie
kann das buddhistische, ethische Ideal
bedeuten, das Ziel und die Absicht zu haben, nichts Falsches und kein Unrecht
zu erzeugen. Aber zum anderen bezeichnet sie den für Dōgen wichtigen Punkt des
konkreten Handelns im Augenblick, nämlich
genau dann nichts Unrechtes zu tun oder zu erzeugen. Ethik ist laut Dōgen
demnach ein Problem und eine Frage des Tuns oder Unterlassens im Jetzt. In
diesem Sinne möchte ich die Formulierung „Erzeugt kein Unrecht“ verstanden
wissen.
Unrechtes zu tun, ist nicht natürlich
Der zentrale Satz dieses
Kapitels ist ein kurzes Sūtra, das Dōgen nun zitiert:
„Tue
nichts Falsches, tue das Richtige, dann wird unser Geist auf natürliche Weise
rein. Dies ist die Lehre der vielen Buddhas.“[iii]
Wichtig ist hier der
Ausdruck „auf natürliche Weise“, denn
das heißt, dass beim richtigen Handeln sich unsere wahre Natur, unser wahres
Wesen und das des Universums verwirklichen. Es geht nicht darum, durch Handeln
ohne „Sünde“ die ansonsten fälligen Strafen zu vermeiden, sondern darum, durch
richtiges Handeln im Einklang mit dem Natürlichen zu sein.
Dōgen betont besonders, dass Ethik, also richtiges
Handeln, untrennbar mit der buddhistischen Lehre und Praxis verbunden ist. Der
Buddhismus ist keine wertfreie,
indifferente Philosophie ohne Bezug zum ethischen praktischen Handeln, sondern
die Einheit von Körper, Geist, Handeln und Ethik. Rechtes oder unrechtes
Handeln im Hier und Jetzt des Augenblicks und Ortes sind für den Buddha-Dharma
ganz wesentlich. Nishijima und Cross fassen dies so zusammen: „Moral ist, genau
das Rechte tun und nicht das Falsche tun.“[iv] Bei
Fehlern steht nicht die Bestrafung durch Gott oder andere Menschen im
Vordergrund, denn wenn man gegen seine eigene Natur verstößt, schadet man in
erster Linie sich selbst.
Dieses Kapitel lehrt die buddhistische Theorie der
Moral, ohne die es überhaupt keinen Buddhismus geben kann. Ein zentrales
Problem dabei ist, inwieweit das praktische Handeln wirklich mit der Ethik
übereinstimmt und dass die eigenen subjektiven Bewertungen die moralische
Wirklichkeit nicht verdecken oder verzerren. Denn dann wäre der denkende und
bewertende Geist vom Handeln selbst getrennt, es gäbe keine Einheit von Geist
und konkretem Handeln. Leider hat diese Trennung
von Moral und Handeln in der Geschichte der Menschheit und nicht zuletzt bei
den großen Religionen immer wieder viel Elend, Katastrophen und Leiden erzeugt.
Wenn Menschen abstrakt und meist empört über das
Unrecht in der Welt und die Unmoral anderer Menschen diskutieren, handelt es
sich häufig um psychische Abwehrmechanismen angesichts des eigenen
unmoralischen Handelns, um damit von sich selbst abzulenken und das eigene
Unrechte auf andere zu verlagern. Auf diese Weise soll der eigene ethische
Druck bewältigt werden. Das sind aber psychische Verdrängungen, die auf Dauer
nicht weiterhelfen.
Wer sich im Streit in aggressiven Worten verliert, um
andere zu verletzen und zu erniedrigen, handelt gegen die sozialen und
ethischen Gesetze des Buddhismus.[v] Aggressive
Diskussionen zwischen den Menschen verhärten sich manchmal zu einem offenen
verbalen Kampf des einen Ego gegen das andere. Dies ist aber auf keinen Fall
der Buddha-Dharma. Beim Thema „Ethik und Moral“ haben wir es mit schwierigen
Problemen der Theorie und Praxis zu tun, die ein hohes Maß an Ehrlichkeit und
Offenheit gegenüber sich selbst erfordern.[vi] Wir
können gespannt sein, was uns Dōgen dazu zu sagen hat. Im Folgenden zitiert er
einen alten Buddha, der lehrte:
„Die Unrechte nicht zu erzeugen,
die vielen Arten des Rechten zu
praktizieren,
reinigt natürlich den Geist.
Dies ist die Lehre der Buddhas.“
In der ersten Zeile dieses
Gedichts habe ich für das japanische Wort aku
analog zum Englischen die Pluralform „die Unrechte“ verwendet. Dies ist im
Deutschen zwar eine ungewöhnliche Formulierung, aber sie soll aussagen, dass es
die verschiedensten Formen und Inhalte des Falschen und Unrechten gibt. Dadurch
wird gegenüber dem Singular „Unrecht“ oder „Falsches“ konkreter die besondere Situation des Handelns
angesprochen und weniger die abstrakte moralische Idee des Unrechts. Zu
beachten ist dabei, dass in der Semantik dieses Begriffes eine mentale Absicht
enthalten ist, denn sehr häufig wird Unrechtes begangen, wenn eine
entsprechende Absicht, die das Tun programmiert und steuert, bereits vor dem
Augenblick des Tuns selbst vorhanden ist. Eine solche Absicht ist dem Betreffenden
nicht immer voll bewusst und kann zum Beispiel in einer Ideologie begründet
sein, die den anderen Menschen als fehlerhaft oder minderwertig ansieht. Sicher
ist auch die Gier nach Ruhm, Profit und Macht als Triebfeder für unrechtes Tun
von großer Bedeutung. Dadurch entstehen karmische Vorbedingungen und Energien,
die dann im Augenblick des Handelns gegen die Ethik wirksam werden und die
Möglichkeit der Freiheit zum richtigen moralischen Verhalten zerstören.
Die zweite Zeile des
Gedichts verweist auf die vielen konkreten Formen und Arten, das Rechte zu tun
und zu praktizieren. Damit wird eine psychische Situation der Bescheidenheit
angesprochen und gleichzeitig eine zu große Abstraktion vermieden: Auch für das
Gute und Richtige sind der konkrete Augenblick und die besondere Situation
maßgeblich. Gutes Handeln verbindet Dōgen außerdem mit guter Emotion, die mit
dem natürlichen ethischen Tun verknüpft ist: Gutes tun ist das, was natürlich ist. Und dies ist
genau das Gegenteil vom Erzeugen des Falschen und Begehen des Unrechten, ob es
nun bewusst und absichtlich geschieht oder nicht.
Die dritte Zeile enthält
keine generelle Regel oder Empfehlung, ethisch zu handeln, sondern die Aussage
Buddhas, dass dieses Verhalten die Reinigung des Geistes ist. Nach buddhistischer
Lehre ist etwas Natürliches also moralisch rein und reinigt insbesondere den
Geist, der jedoch nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern umfassend zu
verstehen ist als Einheit von Körper-und-Geist. Dōgen arbeitet damit heraus,
dass es um den Zustand von Geist, Herz und Körper beim Handeln geht.
In der vierten Zeile
verwenden Nishijima und Cross in ihrer Übersetzung den Plural von Buddha, also
„Buddhas“. Dōgen spricht im Shōbōgenzō
bei den großen indischen und chinesischen Meistern oft von den „ewigen Buddhas“
und drückt damit aus, dass diese die Buddhaschaft genau wie Gautama Buddha
verwirklicht haben. Denn nach der buddhistischen Lehre kann jeder Mensch
erwachen und das Gleichgewicht von Körper-und-Geist erlangen, weil dies eine
natürliche Fähigkeit und das wahre Wesen des Menschen ist, das durch Lehre und
Praxis verwirklicht wird. Nishijima Roshi erklärt dazu: „Idealisten kennen
nicht diese Lehren (der praktischen Ethik) und schätzen spirituelle Ideen. Und
Materialisten leugnen die Existenz der Moral. Aber buddhistische Realisten
schätzen das moralische Handeln im
gegenwärtigen Augenblick sehr.“
Seine Worte sind an Prägnanz kaum zu übertreffen:
Idealisten gelten zwar im Allgemeinen als besonders edel und vorbildlich, aber
sie bleiben in ihren eigenen Idealen und Ideen gefangen. Aus ihrem Idealismus
gewinnen sie ihr hohes Selbstwertgefühl. Materialisten halten dagegen häufig
Ethik und Moral für veraltet, überflüssig und sogar für dumm. Was für sie zählt,
ist der materielle Vorteil und der Erfolg, die nach ihrer Lebensphilosophie
eine hohe Lebensqualität, Ansehen und damit Selbstsicherheit und sogar wahres
Glück bringen. Aber hat eine solche Lebensweise Bestand? Was passiert, wenn die
Materialisten von harten Lebenskrisen
getroffen werden? Dann verliert der Wohlstand schlagartig an Bedeutung, denn es
geht um Existenzielles.
Die Aussage, dass man das Falsche und Üble erst durch
falsches Handeln selbst erzeugt, mag zunächst überraschen. Wenn wir aber
bedenken, dass der Buddhismus wesentlich auf das Handeln selbst fokussiert ist
und ihm die Qualität der Wirklichkeit und Wahrheit zumisst, dann verwundert das
nicht. Es kommt einfach darauf an, dass wir jeweils nichts Unrechtes erzeugen
und uns in unserem Leben und Handeln den vielen Möglichkeiten, etwas Sinnvolles
und Gutes zu tun, mit Sorgfalt und Achtung widmen. Dies ist der Weg in die
Unabhängigkeit und Freiheit.
Unrechtes zu erzeugen, macht dagegen abhängig und
verkrampft. Wir müssen dann große psychische
Abwehrkräfte einsetzen, um der ethischen Wahrheit auszuweichen, sie
abzuwehren und zu verdecken. So verschwenden wir Energie des Geistes und
Körpers. Aber wie gewinnen wir die Klarheit, was das Unrecht im konkreten Fall
wirklich ist, und wie sammeln wir dann die Kraft, genau im Augenblick richtig
zu handeln? Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen.
Im ersten Teil dieses Kapitels betont Dōgen das
aktive eigene Handeln. Aber er fügt hinzu, dass es auch darum geht, das rechte
Handeln im Gesamtsystem geschehen zu lassen und nicht durch unrechtes Handeln
zu stören oder zu verhindern. Ein eher abwartendes Verhalten im Sinne des
Geschehenlassens kann oft moralisch richtiger sein als hektisches Eingreifen um
jeden Preis, ohne über die eventuell kontraproduktiven
Folgen nachzudenken.
Die oben zitierte Lehre zum ethisch richtigen Handeln
wurde laut Dōgen authentisch von einem Buddha zum anderen weitergegeben, und es
sei nicht nur die Lehre der sieben legendären Buddhas, sondern von allen
Buddhas, also auch der großen Meister in den authentischen Übertragungslinien
bis zu Bodhidharma, Daikan Enō (Dajian Huineng) und Tendō Nyojō (Tiantong Rujing). Dōgen fordert uns auf, dieses wesentliche
Grundprinzip der authentischen Übertragung gründlich zu bedenken und die
Nachfolge in der ethischen Praxis zu meistern. Die
direkte Weitergabe von Angesicht zu Angesicht am konkreten Ort sei
unverzichtbar. Abgehobene theoretische Lehren zur Ethik reichen nicht aus,
bestenfalls sind sie ein Anfang.
Die unmittelbare Nähe eines ethisch wahrhaft
handelnden Lehrers ist auch nach meiner Erfahrung von herausragender Bedeutung.
Allzu schnell versteigen wir uns sonst in selbstgefällige moralische
Ideologien, die unser isolierter Geist scheinbar logisch abstützt. Um das zu
verhindern, sind manchmal ruppig erscheinende, aber konstruktive Korrekturen
durch den Meister von großem Wert, um wieder zur Klarheit auf dem buddhistischen
Weg zurückzufinden und praktisch im Handeln zu verwirklichen.
Beim ethischen Handeln geht
es um die Klärung der ganz realen Situation. Dazu ist es notwendig, den
Augenblick transintellektuell, also intuitiv klar zu durchdringen, sich
wirklich zu öffnen und sich zum Beispiel von Vorurteilen, Abneigungen und
Bevorzugungen zu verabschieden und wirklich ganz im Augenblick zu sein.
In diesem Zusammenhang lässt
Dōgen auch die große Bedeutung der seit Buddha überlieferten Praxis des
achtsamen Einatmens und Ausatmens anklingen. Wichtig ist dabei, dass wir offen
für Neues sind und uns der aktuellen Situation stellen. Wir müssen uns
sozusagen aus der Schale des kleinen Ich
befreien, um im Augenblick im Sinne Dōgens handeln zu können.
„Wir diskutieren jetzt das Falsche: Es liegt zwischen
dem Richtigen und dem Neutralen; (und es) ist tatsächlich das Falsche
(Unrichtige). Wir diskutieren es jetzt. Die Essenz (des Falschen) ist genau das
Nicht-Erscheinen (des Richtigen). Das
Neutrale ist weder Recht noch Unrecht. Die Essenz des Richtigen, des Neutralen
usw. ist genau das Nicht-Erscheinen, (es) ist (der Zustand) ohne Übermaß und
ist wirkliche Form. Gleichzeitig schließen diese
drei Eigenschaften an jedem Ort unzählbare Arten von Dharmas (Dingen und
Phänomenen) ein.“
Hierzu erklärt Nishijima Roshi: „Die
besondere Eigenschaft des Falschen ist genau dessen Nicht-Erscheinen.“ Das
bedeutet, dass auch das Falsche die wirkliche Existenz und Realität im
gegenwärtigen Augenblick ist. Es ist kein Prozess in der linearen Zeit und hat daher nicht die
Eigenschaften von Erscheinen und Vergehen: „Es ist ohne Verzerrungen, und daher
ist es die Wirklichkeit selbst.“
Bei der Ethik kommt es besonders auf
den Augenblick des Handelns an. Allgemeine Theorien und abstrakte Bewertungen
können die Ethik des Augenblicks nicht erfassen, und sie sind häufig die
Ursache von sachlich falschen oder völlig übertriebenen Schuldzuweisungen und
Vorwürfen. Nishijima Roshi erklärt außerdem: „Richtiges, Falsches und Neutrales
sind einfache charakteristische Eigenschaften im gegenwärtigen Augenblick, und
insofern haben sie keine Verbindung (zum Prozess) des Erscheinens und
Vergehens.“ Denn derartige Veränderungen setzen den Ablauf einer gedachten
linearen Zeit voraus. Er fügt hinzu: „Und bei diesen drei Situationen (dem
Richtigen, Falschen und Neutralen) gibt es überaus viele Dinge und Phänomene
(Dharmas), die als Universum existieren.“ Das heißt, dass sich alles ganz
konkret in dieser Welt ereignet.
Unrecht ist unrechtes Handeln im Augenblick, es hat
keine andauernde und konstante Charakteristik. Der Augenblick hat auch kein
Erscheinen und Vergehen, denn das wären Beschreibungen mit einer Zeitstrecke,
und damit wäre es kein Augenblick. Wir können also im nächsten Augenblick
Rechtes tun und uns damit vom vorherigen unrechten Handeln sofort lösen, wenn
wir die Klarheit und Kraft dazu haben.[vii]
Dōgen betont, dass auch das Rechte und Neutrale immer
im Augenblick und konkret im Hier und Jetzt getan werden. Das Rechte ist also
identisch mit rechtem Handeln im Augenblick, und nur dann ist es Wirklichkeit. Es macht daher wenig Sinn,
über das ethisch Richtige allgemein und abgehoben zu theoretisieren. Dies
bleibt auf der Ebene des unterscheidenden Denkens und der Worte stehen, es hat
kaum Verbindung zur Wirklichkeit des konkreten Handelns und bewirkt nicht viel.
So nehmen fast alle Ideologien für sich wie
selbstverständlich in Anspruch, dass sie moralisch wertvoll und höherstehend
sind im Verhältnis zu anderen Weltanschauungen. Dabei hat sich das wahre
Handeln der von Ideologien gesteuerten Menschen oft fundamental von ihrer
eigenen Ethik abgelöst und ist, meist unbewusst, von Egoismus, Vorteilsstreben
und Gier getrieben. Wer sich viel mit Moral und Ethik beschäftigt und deshalb
theoretisch weiß, dass er selbst ethisch handeln sollte, ist besonders in
Gefahr, in Unklarheiten über sich selbst und seine wahren Motive zu verharren.
Er hat oft große Probleme, sich selbst das eigene unmoralische Handeln
einzugestehen und nüchtern zu analysieren: Er hat Schwierigkeiten damit, sich
selbst auf die Schliche zu kommen.
Dagegen besteht bei dem wirklichen, augenblicklichen Handeln überhaupt keine
Verzerrung und damit Verschmutzung durch die Trennung von Theorie und Praxis –
so Nishijima Roshi –, sondern es ist die Wirklichkeit selbst. Die wahre
Wirklichkeit ist im Buddhismus niemals beschmutzt.
„Das Wesentliche des Rechten und das Wesentliche des
Neutralen usw. sind auch Nicht-Erscheinen
und sind (der Zustand) ohne Übermaß und Schwund; sie sind wirkliche Form.“
Damit erweitert Dōgen die Augenblicklichkeit auf das
Richtige und Neutrale: Es geht also um die Gegenwart im Hier und Jetzt und
nicht um einen Prozess des Erscheinens oder Nicht-Erscheinens. Es geht auch
nicht um abstrakte Aussagen. Die Formulierung „ohne Übermaß und Schwund“
bedeutet, dass nichts übertrieben und nichts vermindert wird und es genau so
ist, wie es ist. Gleichzeitig wird die wirkliche Form erwähnt, die eine Einheit
mit dem Wesentlichen beziehungsweise der Essenz bildet. Ein solches Handeln ist
genau auf die Realität fokussiert, ohne etwas hinzuzusetzen oder etwas
wegzunehmen.
Dōgen fügt hinzu, dass diese drei Bereiche – Rechtes,
Falsches und Neutrales – an jedem konkreten Ort und zu jedem Zeitpunkt
unzählige Arten von Dharmas, also Dinge und Phänomene, einschließen. Mit der
Erwähnung der Dharmas weist er auf die Einzelheiten hin. Dazu gehören auch und
nicht zuletzt materielle Tatsachen der Gesamtsituation, die laut Nishijima
Roshi die zweite Lebensphilosophie bilden. Im ersten Teil dieses Kapitels
beschreibt Dōgen vor allem die Lehre und Theorie und stellt damit die erste
Lebensphilosophie des Denkens und des Idealismus in den Mittelpunkt. Da beide
Dimensionen aber nicht die ganze Wirklichkeit und Wahrheit des Hier und Jetzt
umfassen, bezieht er zudem die Wirklichkeit des Augenblicks ein, die ein ganz
wesentlicher Teil der buddhistischen Lehre ist.
Im Folgenden erläutert er, dass es zwar Ähnlichkeiten
und Unterschiede beim Unrechten in früheren und späteren Zeiten geben möge. Und
solche Unterschiede gebe es beim Unrechten vielleicht auch zwischen dieser
menschlichen Welt und dem Himmel über uns. Aber Dōgen unterstreicht im
Gegensatz dazu die viel größeren, fundamentalen Unterschiede zwischen moralisch
Rechtem, Unrechtem und Neutralem im Buddhismus und in der säkularen Welt.
Rechtes und
Unrechtes stehen nicht außerhalb der Zeit
Als Nächstes kommt Dōgen auf die existenzielle
Sein-Zeit des Augenblicks zu sprechen, die er in dem berühmten Kapitel Uji[viii]
sorgfältig untersucht. Die Sein-Zeit ist für ihn die Wirklichkeit selbst, und
er macht dazu eine überraschende Aussage:
„Richtig und Falsch sind Zeit; Zeit ist nicht richtig
oder falsch. Richtig und Falsch sind der Dharma; der Dharma ist nicht richtig
oder falsch. (Wenn) der Dharma im Gleichgewicht ist, ist das Falsche im
Gleichgewicht. (Wenn) der Dharma im Gleichgewicht ist, ist das Richtige im
Gleichgewicht.“
Nishijima
Roshi erläutert hierzu: „Richtig und Falsch sind genau die Zeit im
gegenwärtigen Augenblick, aber die Zeit selbst ist niemals richtig oder
falsch“, denn sie ist ganz unabhängig von Ethik. Richtig und Falsch seien
Situationen und Zustände im Universum, aber das Universum selbst hat keine
bestimmten Eigenschaften und auch nicht die von richtig oder falsch. Sie sind Beschreibungen von Teilbereichen im
Universum, aber das Universum selbst ist keine Beschreibung, sondern die Wirklichkeit
selbst. Wenn das Universum im Gleichgewicht existiert, existieren auch das
Falsche und das Richtige – als Teile des Universums – im Gleichgewicht.
Zeit ist hier als Augenblick zu verstehen, und es
gibt keine Wirklichkeit, die nicht gleichzeitig in der Zeit ist. Recht und
Unrecht bestehen also niemals außerhalb der Zeit als vorgestellte, abstrakte
Entitäten, die unabhängig vom Tun im Augenblick sind. Wären sie außerhalb der
Zeit, dann wären sie nur gedacht und damit nicht wirklich.
Mit dieser bahnbrechenden Aussage unterscheidet sich
der Buddhismus radikal von der westlichen Philosophie, in der zum Beispiel das
Unrecht als etwas Abstraktes und sogar als Entität verstanden wird, das
unabhängig vom Menschen und von der Zeit sei. Es wäre dann eine unabhängige
Größe in der Welt. Ein so verstandenes Unrecht wäre völlig unabhängig vom
Augenblick, von der Zeit und vom Handeln, denn es würde immer in der hiesigen
Welt existieren und sich manifestieren. Nur im ewigen Paradies als ideale
jenseitige Welt gäbe es ein solches Unrecht nicht.
Dōgen betont, dass die Zeit allerdings selbstständig
und unbeeinflusst von Recht und Unrecht ist, daher kann sie nicht richtig oder
falsch sein. Recht oder Unrecht sind auch der Dharma, also die Wirklichkeit und
buddhistische Lehre, aber das Umgekehrte gilt nicht, denn der Dharma ist
niemals richtig oder falsch, sondern wirklich.
Was bedeutet nun die
Aussage, dass das Unrecht im Gleichgewicht ist? Denn eigentlich müsste man doch
annehmen, dass im Zustand des Gleichgewichts von Körper-und-Geist und der Welt überhaupt
kein Unrecht vorhanden sein kann. Eine mögliche Interpretation: Wir können das
Unrecht nur dann selbst klar erkennen, wenn wir in einem Zustand des
Gleichgewichts und damit der Klarheit sind. Nur dann kann man sich selbst auf
die Schliche kommen, kann man das Handeln von einem Augenblick zum anderen
umstellen und nichts Unrechtes mehr erzeugen. Dōgen argumentiert ganz konkret
auf den Augenblick bezogen, das heißt, er meint Klarheit und Offenheit für
unrechtes Handeln genau im jetzigen Augenblick an diesem Ort. Nur bei so
konkreter Sichtweise kann es gelingen, unrechtes Handeln ohne Ideologie und
Vertuschungen zu erkennen und dann mit der im Zen gewonnenen Kraft abzustellen.
Nishijima Roshi und Cross[ix]
erläutern in diesem Sinne, dass wir das Unrechte dann klar als solches sehen
und erkennen, wenn wir im Gleichgewicht sind, also im erwachten, erleuchteten
Zustand. Das bedeutet, dass ein erwachter Meister in aller Klarheit das
Unrechte im Handeln genau so erkennt, wie es ist, und sich nicht durch den äußeren
Schein und geschickte Rhetorik täuschen lässt. Das bedeutet auch, dass ein
Erwachter beim Unrechten nicht wegsieht und es nicht verniedlicht oder
romantisiert. Das ist die Voraussetzung, richtig, also ethisch, zu handeln.
An dieser Stelle hebt Dōgen hervor, dass wir den
höchsten Zustand des Erwachens erlernen, wenn wir diese Lehren hören, in der
Praxis üben und die entsprechende Wirkung erfahren: Dann erkennen wir das
Unrechte klar und genau so, wie es ist. Die Lehren Buddhas seien „tiefgründig,
weit und fein“.
„Wir hören von diesem höchsten Zustand des Bodhi
(Erwachen), indem wir manchmal (guten) Lehrern folgen und manchmal den Sūtras
folgen.“
Am
Anfang unseres Buddha-Weges heißt es immer: „Erzeugt nicht das vielfältige
Unrechte.“ Andernfalls, so Dōgen, „ist es nicht Buddhas wahrer Dharma; es mag
die Lehre von Dämonen sein. Denkt daran, dass es Buddhas wahrer Dharma ist,
wenn es klingt wie ‚Erzeugt nicht das vielfältige Unrechte‘.“
Besonders am Anfang unseres buddhistischen
Lernprozesses sollten wir ganz genau auf diese klare ethische Aussage achten,
in mündlicher Form beim Lehrer und den anderen Sangha-Mitgliedern oder in
schriftlicher Form bei den verwendeten Texten. Wenn nicht klar gesagt wird,
dass man kein Unrecht erzeugen soll, dann ist es sicher nicht der authentische
Buddhismus, und es ist ein falscher Meister, der solche „Worte von Dämonen“
verkündet.
Darin
kommt die unauflösbare Verbindung der buddhistischen Lehre und Praxis mit der
Ethik unmissverständlich zum Ausdruck. Nishijima Roshi ergänzt: „Die
buddhistische Lehre sollte immer zuerst lauten: ‚Erzeugt kein Unrecht‘. Wenn
sich daher bestimmte Aussagen nicht so anhören, können sie niemals die wahre
buddhistische Lehre sein.“ Und Dōgen erklärt:
„Diese (Lehre) ‚Erzeugt kein Unrecht‘ wurde nicht
(von irgendjemand) willkürlich (in die Welt) gebracht und dann in der jetzigen
Form vom gewöhnlichen Menschen beibehalten: Wenn wir die Lehre hören, die (auf
natürliche Weise) die Lehre des Bodhi-Erwachens geworden worden ist, klingt es
wie dies (Obige).“
Dies
sei die Sprache, die den höchsten Zustand des Erwachens in Worte fasst: „Es ist
schon Erleuchtungssprache, und daher sagt sie die Wahrheit.“
Dōgen schiebt hier der
Vorstellung einen Riegel vor, dass die Ethik von Menschen absichtlich erfunden
wurde und zum Beispiel von einem Machthaber und einer Regierung in der
Gesellschaft durchgesetzt wird, damit sie herrschen können. Nach buddhistischer
Lehre kann das natürliche Gesetz des Universums und unseres Lebens durch das
Gleichgewicht und Erwachen erkannt und in Handeln umgesetzt werden. Das
ethische Gesetz ist nach Nishijima Roshi gleichzeitig das Gesetz des Universums
und des Lebens. Wer Unrecht tut, schadet nicht zuletzt sich selbst, weil er das
natürliche Gesetz verletzt, was sich früher oder später gegen ihn wendet.
Durch richtiges Handeln verwirklichen sich Sein-Zeit
und Dharma
Nun geht Dōgen noch einen
Schritt weiter und spricht von den tief greifenden Veränderungen in unserem
täglichen Leben, die durch diese Lehren bewirkt werden. Immer mehr verstärke
sich schließlich die Tendenz, die vielfältigen Arten des Unrechten nicht zu
begehen und nicht zu erzeugen. Er erwähnt die „Kraft der Praxis“, womit er vor
allem die Zazen-Praxis meint, die sich aus der Lehre entwickeln muss, um unser
Leben nachhaltig zu verändern und in die richtige Richtung zu bringen. Wenn wir
selbst ethisch richtig handeln und im Gleichgewicht sind, habe dies ganz
konkrete Auswirkungen auf die gesamte Erde und natürlich vor allem auf andere
Menschen. Damit verwirklichen sich die Sein-Zeit und der Dharma. Hierzu
erläutert Nishijima Roshi: „Die Worte ‚Erzeugt kein Unrecht‘ könnten in dieser
Form niemals von gewöhnlichen Menschen stammen, auch wenn sie sich noch so sehr
anstrengen würden. Wenn man sie als Ausdruck der höchsten Wahrheit hört, dann lauten die Worte genau so: ‚Erzeugt
kein Unrecht und praktiziert die vielen Arten des Guten.‘ (...) Die Ethik ist
nicht eine menschliche Ethik, sondern sie ist genau das Gesetz des Universums.“
Die Lehre ‚Erzeugt kein Unrecht‘ ist laut Dōgen die natürliche Lehre des
Erwachens und drückt die höchste Wahrheit
und Wirklichkeit in Worten aus.
„Wenn (diese Worte) zur Lehre des höchsten Zustandes
des Bodhi-Erwachens werden, und wenn wir selbst durch das Hören (der Worte)
verändert werden, hoffen wir, die verschiedenen Arten des Unrechten nicht zu
erzeugen. Wir fahren fort, solches Unrecht nicht entstehen zu lassen, und es
wird auch weiterhin nicht begangen. Diese Verwirklichung realisiert sich im
Rahmen der ganzen Erde, der ganzen Welt, in dem Ganzen der Zeit und dem Ganzen
des Dharma. Und der Maßstab dieser (Verwirklichung) ist der Maßstab des
Nicht-Erzeugens (des Unrechten).“
Dōgen untersucht hier genau, wie es sich auswirkt,
wenn wir die Aufforderung hören, kein Unrecht zu erzeugen. Wie verändert sich
dadurch unser Handeln im normalen Alltag, gerade in kritischen und schwierigen
Situationen? In diesem Lernprozess fangen wir an, uns selbst genauer zu
beobachten, und wir werden sensibler für rechtes und unrechtes Handeln. Aber es
reicht nicht aus, nur passiv zuzuhören. Ganz wichtig ist die fortlaufende
Zazen-Praxis. Ihre Kraft, Klarheit und die ethische Verwirklichung sind dabei nicht
subjektiv auf den einzelnen Menschen beschränkt, sondern umfassen die ganze
Erde, die Welt, die Zeit, das Ganze der Dharma-Wirklichkeit und gleichzeitig
die buddhistische Lehre; damit knüpft Dōgen an verschiedene grundlegende
Kapitel des Shōbōgenzō an.[x]
Die große Chance eröffnet sich, die Wirklichkeit
selbst zu erlangen. Dann verlieren wir uns nicht mehr in unwirklichen Gedanken,
Emotionen und Hoffnungen, die unser Leiden bewirken. Ohne ethisches Handeln und
die Vermeidung des unrechten Handelns ist eine solche Verwirklichung des
Menschen nicht möglich. Nur so kann sich die Buddha-Natur manifestieren.[xi]
Wenn Dōgen von der Praxis spricht, meint er sowohl
Zazen als auch das Handeln im Alltag, insbesondere im sozialen Umfeld. Wenn wir
in unserem praktischen Leben kein Unrecht erzeugen, existiert dieses Unrecht
überhaupt nicht. Dann wirken auf die Menschen keine schlechten Einflüsse ein
von denen, die an demselben Ort leben. Denn genau dort wird nichts Unrechtes
erzeugt, weil dort die Kraft der Praxis wirksam ist.
„Für Menschen genau dieser Wirklichkeit, im
Augenblick genau dieser Wirklichkeit, kann Unrechtes überhaupt niemals erzeugt
werden. (Dies gilt) sogar, wenn sie an einem Ort leben, zu einem Ort kommen und
(von ihm) fortgehen, wo sie Unrechtes erzeugen könnten. (Es gilt) auch, wenn
sie mit bestimmten Umständen konfrontiert werden, in denen sie Unrecht erzeugen
könnten, zum Beispiel wenn sie sich mit Freunden einlassen, die Unrecht
erzeugen. Da die Kraft, das Unrecht nicht zu erzeugen, verwirklicht ist, kann
sich das Unrecht gar nicht als Unrecht äußern, und es fehlen alle Varianten des
Unrechten.“
Ein
Mensch, der in der Wirklichkeit der konkreten Situation und in der wirklichen
Sein-Zeit im Gleichgewicht lebt und handelt, kann überhaupt keine unrechten
Handlungen begehen, so erläutert Nishijima Roshi die Äußerungen Dōgens. Dies
gelte auch, wenn es für ihn scheinbar ganz nahe läge, solche Fehler zu machen,
da die verschiedenen Arten des Unrechten nicht von selbst entstehen, sondern
nur durch unrechtes Tun der Menschen. Und er fügt hinzu: „Gute buddhistische
Praktizierende haben niemals die leichtfertige Tendenz, Falsches zu tun. Sie
sind auf jeden Fall fähig, damit aufzuhören und das unrechte Tun (ganz einfach)
zu beenden.“
Es wird also eine Kraft verwirklicht, dass Unrechtes
nicht erzeugt wird: Das Unrechte kann sich dann nicht als Unrechtes ausdrücken.
Die vielfältigen Verhaltensweisen und Tricks des Unrechten können sich nicht
etablieren, wenn sie nicht in Gang gesetzt und erlernt worden sind. Oft
entwickeln sich Ketten und Netzwerke von unrechtem Handeln dann, wenn ein
erster unrechter Handlungsschritt gegangen worden ist. Diese vernetzten
Handlungsstrukturen verselbstständigen sich, werden zu fixiertem Verhalten und
erzeugen in der Folge immer weiteres Unrecht. Das ergibt einen sich selbst
verstärkenden Prozess. Wäre der erste falsche Schritt nicht vollzogen worden,
so hätten sich diese Verhaltensstrukturen überhaupt nicht ausgebildet und die Welt
wäre davon verschont geblieben. Dazu sagt Dōgen:
„Es gibt die buddhistische Wahrheit, in einem
Augenblick etwas aufzugreifen und in einem Augenblick etwas geschehen zu
lassen. Die Wahrheit (des falschen Handelns) wird genau in diesem Augenblick
erkannt, sodass das Unrechte einen Menschen nicht verletzt. (Genau im
Augenblick) wird die Wahrheit geklärt, dass ein Mensch das Unrechte nicht
beseitigen (muss).“
Im ersten Teil des Zitats
geht es um den Augenblick selbst, in dem wir durch richtiges Handeln etwas
„aufgreifen“, also aktiv dafür sorgen, dass kein Unrecht erzeugt wird und
stattdessen Richtiges und Rechtes getan wird. Dafür sind die Klarheit und das
intuitive Verständnis der jeweiligen Situation erforderlich: Im Augenblick muss
Klarheit darüber bestehen, was die Wirkung des Handeln ist. Man kann dies
vielleicht so ausdrücken, dass die Folgewirkungen im Augenblick klar und
präsent sind und wie selbstverständlich einbezogen werden. Das Gesetz von
Ursache und Wirkung ist daher auf den Augenblick zusammengezogen und verkürzt,
sodass Ursache – hier also Handeln – und Wirkung im selben Augenblick und ohne
Verzögerung durch intellektuelle Überlegung greifen. Der Mensch handelt in der
Klarheit des Augenblicks richtig und überblickt die Folgewirkungen.
In
anderen Situationen kann es dagegen sinnvoll sein, in den Ablauf nicht
einzugreifen und genau im Augenblick das geschehen zu lassen, was richtig ist.
Dadurch kann Unrecht verhindert werden – es entsteht überhaupt nicht und wird
auch nicht beabsichtigt.
Im zweiten Teil des Zitats
vertritt Dōgen konsequent die Auffassung, dass es das Falsche als Substanz in
der Welt überhaupt nicht gibt, sondern dass es nur ein falsches Handeln durch
uns selbst gibt. Das abstrakte Böse und Unrechte ist also eine Idee und keine
Wirklichkeit, es ist eine Vorstellung oder Verallgemeinerung von unrechtem
Handeln. Da das Unrechte in der Welt nicht aus sich selbst heraus existiert,
kann es den Menschen auch nicht verletzen. Der Mensch wird nur durch das
Handeln anderer verletzt, wenn sie Unrecht an ihm begehen. Dōgen stellt also
vom Unrechten als einer eigenständigen Entität auf das Handeln im Augenblick
um. Dies ist ein radikaler Paradigmenwechsel, der für das westliche Denken
sicher nicht einfach nachzuvollziehen ist.
Wenn
es das Unrechte als dinghafte Entität in der Welt und in unserem Leben nicht
gibt, dann folgt aus dieser Lebensphilosophie logisch, dass es auch nicht durch
einen Menschen beseitigt werden muss. Demgegenüber kann und muss jedoch
unrechtes Handeln verhindert werden, indem man es nicht tut oder andere daran
hindert. „Es gibt die buddhistische Wahrheit, dass eine positive Handlung genau
im jetzigen Augenblick getan wird und dass eine Handlung auch genau im
gegenwärtigen Augenblick beendet wird. Und genau im gegenwärtigen Augenblick
ist klar und wird (intuitiv eindeutig) erkannt, dass das Falsche (als abstrakte
Idee) niemals einen Menschen (wirklich) verletzt, (sondern nur das falsche
Handeln). Es wird das Prinzip geklärt, dass ein Mensch nicht das Unrechte (da
keine Wirklichkeit) beseitigt“, fasst Nishijima Roshi zusammen. Aber unrechtes
Handeln kann und muss man, wenn irgend möglich, verhindern!
Handeln und Zazen bilden eine Einheit
Wenn wir uns mit dem ganzen Geist-und-Körper der Zazen-Praxis
widmen, können wir 80 oder 90 Prozent
davon verwirklichen, kein Unrecht zu erzeugen, betont Dōgen. Mit theoretischer
Ethik und dogmatischer Moral ist es nämlich gerade nicht getan, sondern das
praktische Handeln ist entscheidend. Maßgeblich ist also, ob wir die
Zazen-Praxis wirklich in unseren Alltag integrieren. Dies gilt sowohl für den
Augenblick des Handelns selbst, als auch für den vorherigen und nachfolgenden
Augenblick.[xii]
Nach dem Augenblick des Handelns, in dem wir kein Unrecht erzeugen, ist es eine
einfache Tatsache, dass nicht unrecht gehandelt wurde. Ein nachträgliches
Reflektieren ist aber etwas anderes als das unmittelbar richtige Handeln, das
die Folgewirkung, also den späteren Augenblick, als Wirklichkeit prägt. Diese
Aussage vertieft Dōgen im Kapitel über das Bodhisattva-Handeln.[xiii]
Durch die Praxis sei es möglich, unseren eigenen
Körper-und-Geist wirklich zu erlangen und das Unfassbare, das jenseits vom
unterscheidenden und dualistischen Denken ist, unmittelbar zu erfahren. Dann
wird laut Dōgen die ganze Kraft der Praxis verwirklicht – mit den vier
physikalischen Elementen und den fünf Komponenten (skandas) des Lebens. Damit bezieht er die ganze Welt und das ganze
Leben ein, die nach damaliger Lehre aus den vier materiell-physikalischen Elementen
und aus den geistigen, mentalen, psychischen und willensmäßigen Komponenten
bestehen. Dōgen fügt hinzu, dass durch das Handeln im Jetzt diese Komponenten
des Menschen nicht verunreinigt werden, dass sie also in ihrer Reinheit so
existieren, wie sie im natürlichen Zustand sind: Dann „beflecken die vier
Elemente und die fünf Komponenten nicht das Selbst“.
Die Praxis setzt sich im
gegenwärtigen Augenblick zum nächsten fort. Nishijima und Cross[xiv]
erläutern, dass damit die Einheit der buddhistischen Praxis mit den konkreten
Umständen angesprochen wird. Dōgen unterstreicht die gegenseitige unauflösbare
Beziehung des praktizierenden Menschen mit der Natur – den Bergen, Flüssen, der
Erde, der Sonne, dem Mond und den Sternen. Dies bedeutet die Überwindung des
Dualismus zwischen dem Selbst und der uns umgebenden Welt je im Augenblick,
also die tiefe Erfahrung der großen Einheit. Die Umstände und das gesamte
Umfeld sind nicht von dem Handelnden getrennt. Man könnte auch sagen, dass die
Natur uns praktiziert, also eine Trennung von Subjekt und beobachteten Objekten
der Natur nicht mehr möglich ist. Das verwirklicht sich in der Zazen-Praxis und
durch diese Praxis. Dōgen formuliert sehr pointiert und poetisch:
„Die
Berge, die Flüsse, die Erde, die Sonne, der Mond und die Sterne bewirken im
Gegenzug, dass wir praktizieren.“
Das Erwachen, die
Erleuchtung sei das „Einmal-Auge“, nicht für kurze Zeit, sondern in vielen kraftvollen
Augenblicken, in denen das erwachte Auge gegenwärtig sei und die Einheit mit
den Buddhas und Dharma-Vorfahren bestehe. Dann hören wir wirklich die wahren
buddhistischen Lehren und machen die tiefe Erfahrung der sich daraus ergebenden
Wirkung, nämlich die ungehinderte Freiheit des Lebens und des Handelns der
Buddhas und erwachten Menschen. Diese sind also unauflösbar mit dem korrekten
Handeln verbunden, das wiederum eine Einheit mit der Zazen-Praxis bildet.
„Die Buddhas und Dharma-Vorfahren haben die Lehre,
die Praxis und die Erfahrung niemals befleckt, und daher haben die Lehre, die
Praxis und Erfahrung niemals die Buddhas und Dharma-Vorfahren behindert.“
Diese Formulierung verwendet Dōgen im Shōbōgenzō häufiger, um das Sosein der
Buddhas und erwachten Meister zu beschreiben und ihre Freiheit im Handeln
auszudrücken. Hindernisse und Beschränkungen entstehen für den Menschen nach
der buddhistischen Lehre dadurch, dass sie Unrecht erzeugen und in den Ketten
der Folgewirkungen gefangen sind, dies seien Befleckungen oder
Verunreinigungen. Dadurch wird die Freiheit erheblich eingeschränkt und die
Harmonie mit dem Gesetz des Universums gestört. Die Begriffe „unbefleckt“ und
„rein“ bedeuten, dass die buddhistische Lehre und Praxis so ist, wie sie ist, unverzerrt
und ohne etwas hinzuzusetzen.
„Wenn (die Lehren, die Praxis und die Erfahrung) die
großen buddhistischen Meister (kraftvoll) dazu bringen, zu praktizieren, gibt
es keine Buddhas oder großen Meister, die vor den Augenblicken oder nach den
Augenblick fliehen, in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft.“
Die Erwachten leben im Hier und Jetzt und haben nicht
das Bestreben, zeitlich oder räumlich zu entfliehen, sagt Dōgen hier, denn die
Praxis, die Umstände und die Erfahrung steuern unser Selbst. Das bedeutet
allerdings keine Abhängigkeit und Unfreiheit, sondern die Identität mit der
Welt und dem Leben, so wie es ist.
„Im Gehen, Stehen, Sitzen und Liegen sollten wir sorgfältig
durch die 24 Stunden (des Tages) die Tatsache bedenken, dass wir selbst
buddhistische Meister werden, wenn die Menschen Buddhas und Dharma-Vorfahren
werden. (Dies gilt), obgleich dieses (Werden) den (Zustand) des buddhistischen
Meisters nicht hindert, der immer zu uns gehört hat. Wenn wir ein
buddhistischer Meister werden, zerstören wir kein Lebewesen, werden nicht von
ihm weggezogen, verlieren es nicht, (aber) dessen ungeachtet werden wir es
los.“
In diesen komplexen Aussagen beschreibt Dōgen
zunächst das tägliche Leben, indem er die menschlichen Tätigkeiten aufzählt.
Während unserer Verrichtungen sollten wir uns den ganzen Tag über bewusst sein,
dass wir selbst ebenfalls erwachen, wenn andere Lebewesen Buddhas oder Meister
werden. Damit wird die trennende Dualität in Bezug auf uns selbst aufgehoben.
Umgekehrt werde der Zustand der buddhistischen Meister nicht durch unsere
eigene Entwicklung und unser Werden behindert, und die Meister haben immer zu
uns gehört, erklärt Dōgen.
Nishijima
Roshi verdeutlicht das Zitat folgendermaßen: „Wenn gewöhnliche Menschen Buddhas
oder Meister des Dharma werden, werden sie nicht durch die Tatsache gestört,
dass auch (andere) gewöhnliche Menschen normalerweise das Gleichgewicht des
vegetativen Nervensystems schon in ihrem täglichen Leben aufrechterhalten. Wenn
gewöhnliche Menschen Buddhas und große Meister werden, zerstören, stehlen oder
verlieren sie nicht ihre eigene Form als Menschen, sondern sie werden
vollständig befreit vom Zustand als gewöhnlicher Mensch.“ Und er erläutert
außerdem, dass ein buddhistischer Meister ein dauerhaftes Gleichgewicht des
vegetativen Nervensystems hat; ein solcher Zustand sei von jedem normalen
Menschen von Zeit zu Zeit oder auch häufiger zu verwirklichen. Wir alle haben
die Möglichkeit, dieses Gleichgewicht während des ganzen Tages zu realisieren,
sodass alle unsere Tätigkeiten wie Gehen, Stehen, Sitzen oder Liegen aus diesem
Gleichgewicht heraus eine völlig neue Qualität erhalten. Dann ergibt es sich
von selbst, dass wir achtsam handeln, keine anderen Menschen verletzen und auch
mit der Natur und den Tieren sorgsam umgehen.
Wenn wir selbst das Erwachen erlangen, zerstören oder
quälen wir keine Lebewesen. Wir ziehen uns auch nicht aus dem Lebensalltag
zurück, um unbehelligt und ohne „störende“ soziale Einflüsse zu leben. Aber wir
haben uns von den einengenden oder negativen Einflüssen durch andere Menschen
befreit, hält Dōgen fest:
„Wir bewirken, dass richtig-und-falsch sowie
Ursache-und-Wirkung (selbst) praktizieren. Aber dies bedeutet nicht,
Ursache-und-Wirkung zu stören oder absichtlich zu erzeugen. Ursache-und-Wirkung
selbst lassen uns zu den Zeiten praktizieren.“
Zu bestimmten Zeiten bringen Ursache und Wirkung uns
dazu, dass wir praktizieren. Wenn sich dies verwirklicht, bedeutet es, kein
Unrecht zu erzeugen; das ist der Zustand im Gleichgewicht ohne falsches
Handeln. Es geht hier also um das vernetzte Zusammenwirken in der gesamten
Situation und das Bewirken einer solchen sinnvollen Interaktion. Das System von
Handlungen und Interaktionen entfaltet dann seine volle Wirkung. Meist ist es
für uns Menschen in der Realität allerdings nicht möglich, das mit uns vernetzte
Gesamtsystem ruckartig zu verändern, sondern wir sollten versuchen, die
Eigenentwicklung des Systems so zu beeinflussen, dass es in die richtige
Richtung geht. Dadurch entstehen gute Wechselwirkungen, die das Falsche und
Unrechte vermeiden.
Nishijima
Roshi sagt dazu: „Sowohl Richtig und Falsch als auch Ursache und Wirkung sind
die Zustände des vegetativen Nervensystems (VNS), und beide sind einfache
Tatsachen im gegenwärtigen Augenblick. Daher können beide niemals unterteilt
werden in Richtig und Falsch oder Ursache und Wirkung (einerseits) und die
Praxis (andererseits). Alles ist immer wirkliches menschliches Handeln im
gegenwärtigen Augenblick.“
Das
Handeln in der Welt ist außerordentlich vielfältig. Abstrakte Generalisierungen
beschreiben die wirklichen Tatsachen nur ungenau oder oft sogar falsch. Wir
müssen uns also auf das wirkliche, konkrete Handeln beziehen und dürfen es
nicht mit unscharfen, abgehobenen und unzureichenden Worten beschreiben. Worte
können ohnehin das wirkliche Handeln nur sehr begrenzt erfassen und stehen oft
sogar im Gegensatz zu dem, wie jemand wirklich handelt. Wer bewusst oder
unbewusst unrecht zum eigenen Vorteil handelt, wird vielleicht schöne verbale
Erklärungen und Begründungen parat haben, warum sein Handeln nicht nur richtig,
sondern auch vorbildlich sei. Aber das ist nicht redlich. Die ganz genaue
Beobachtung, wie jemand wirklich handelt, ist daher von zentraler Bedeutung.
Nun greift Dōgen noch einmal Ursache und Wirkung auf, die uns dazu
bringen, zu praktizieren. Die dadurch entstehende Klarheit bedeute, kein
Unrecht zu erzeugen. Sie sei der Zustand im Gleichgewicht, und sie sei
direkter, schneller und wirkungsvoller als das diskursive Denken.
„In dem Zustand, in dem kein (Unrecht) erzeugt wird,
werden die ursprünglichen (und natürlichen) Kennzeichen dieser
Ursache-und-Wirkung offensichtlich. Es ist (der Zustand) ohne Erscheinen und
ohne Unveränderlichkeit, es ist (der Zustand), nicht unklar zu sein und
umzufallen (bei Ursache und Wirkung), weil es der Zustand ist, in dem (Körper
und Geist beim Zazen) weggefallen sind.“
Der Zustand ohne Erscheinen,
Vergehen und unveränderliche, starre Konstanz verwirklicht sich im Jetzt des
Augenblicks, wenn die Wirklichkeit existiert und die Vorstellungen eines
zeitlichen Ablaufs nicht da sind.[xv]
Dōgen behandelt in zwei
Kapiteln im Shōbōgenzō[xvi]
ausführlich die Frage, wie das Gesetz von Ursache und Wirkung und die Freiheit
im Augenblick zusammengehören, obgleich sie zunächst wie ein unüberbrückbarer
Gegensatz erscheinen. Viele Buddhisten sind der Überzeugung, dass alles
vollständig durch Ursache und Wirkung festgelegt ist. Dann gäbe es keine
Freiheit, im Augenblick zu handeln. Das ist aber eine mechanistische und
materialistische Vorstellung. Die Gegenposition besagt, dass das Gesetz von
Ursache und Wirkung bei erwachten Menschen aufgehoben ist und dass gerade
dadurch die Freiheit gegeben ist, zu handeln, wie es im Augenblick sinnvoll und
auch ethisch geboten ist. Dōgen betont hingegen, dass er tiefes Vertrauen hat,
dass das Gesetz von Ursache und Wirkung gerade auch für ethisches Handeln
wirksam ist. Kurz gesagt besteht im Jetzt des Augenblicks keine zeitliche
Distanz zwischen Ursache und Wirkung, beide fallen also zusammen und sind im
Handeln wirksam. Die Wirkung ist dadurch in der Ursache integriert und lässt
sich nicht aufspalten. Das heißt also, dass im Augenblick das Handeln in voller
Transparenz der Wirkung geschieht und, was hier besonders wichtig ist, dass
ethisch richtig gehandelt wird.
Dieser Zustand „ohne Erscheinen und ohne
Unveränderlichkeit“ entsteht laut Dōgen dadurch, dass wir Körper und Geist
fallen lassen, wie es in der Anleitung zum Zazen (Fukan zazengi)[xvii]
beschrieben wird. Dann sind wir nicht unklar und fallen körperlich-geistig
nicht um. Ethisch richtiges Handeln ist also eng mit der Zazen-Praxis und dem
Zustand des Gleichgewichts verbunden. Dōgen lehrt, dass die Zazen-Praxis ganz
entscheidend für die Umsetzung der ethischen Lehre in die Praxis ist. Mit ihrer
Hilfe gewinnen wir Klarheit über uns selbst und erkennen die oft zunächst
verborgene Tiefe unseres Handelns und Denkens.
„Wenn wir (die Varianten) des Unrechten in diesem
Sinne untersuchen, (wird uns klar), dass es bedeutet, nichts (Unrechtes) zu realisieren. Es ist genau dasselbe wie das
Nicht-Erzeugen. Unterstützt durch diese reale Erfahrung können wir das
Nicht-Erzeugen des Unrechten vollständig erkennen (und durchdringen).“
Dōgen macht klar, dass es
ein Irrtum ist zu glauben, dass Unrecht zwangsläufig nach dem Gesetz von
Ursache und Wirkung entsteht. Dasselbe gilt für das Rechte, denn beides ist
genau im Augenblick richtiges oder falsches Handeln. Nishijima Roshi erläutert,
dass ein solches Handeln im Augenblick vollständig frei von allem ist und dass
es weder im Zeitablauf erscheint noch ewig ist, dass es nicht verborgen und
nicht geleugnet werden kann. Dōgen verabschiedet sich von der zu stark
vereinfachenden Vorstellung, dass bestimmte Ursachen und Bedingungen
zwangsläufig bestimmte unrechte Wirkungen und Ergebnisse hervorbringen würden.
Wenn man auf das Handeln abstellt, ist die fast dinghafte Vorstellung von Recht
und Unrecht überholt, da beide demselben Prinzip des Augenblicks gehorchen.
Nishijima Roshi kommentiert
dies so: „Falsches und Unrechtes sind einfache Tatsachen im gegenwärtigen
Augenblick, und sie sind genau das, was man lassen
kann. Der Zustand, dass das Unrecht nicht erzeugt wird, wird nur durch unsere
klare Sichtweise erkannt.“ Die Zazen-Praxis ermöglicht das klare Erkennen des
unrechten Handelns und gibt uns die Kraft zum ethisch richtigen Handeln.
„Genau in diesem Augenblick, wenn die Wirklichkeit
als das Nicht-Erzeugen des Unrechten realisiert wird, entsteht kein Unrecht,
(und zwar) zu Beginn, in der Mitte und am Ende und nicht (zwangsläufig) durch
Ursachen und Bedingungen. Es ist nichts anderes als genau (die Varianten des
Unrechten) nicht zu erzeugen.“
Das
heißt, dass das Unrecht nicht gemäß der gedachten Ursachen und Bedingungen
entsteht oder nicht entsteht, sondern es kommt auf das ganz konkrete Handeln
an: Unrechtes nicht zu tun, ist nichts anderes, als genau das Unrechte zu
unterlassen. Dasselbe gilt für das ethisch
Richtige, denn es ist genau das richtige Handeln.
Nishijima
sagt klipp und klar: „Das Unrecht verschwindet nicht durch Ursache und Wirkung,
sondern im Gegenteil, weil es nicht begangen wird.“ Das Unrechte ergibt sich
nicht zwangsläufig durch bestimmte Ursachen. Wenn es nicht begangen wird, existiert
unrechtes Handeln nicht.
„Wenn das Unrechte im Gleichgewicht ist, sind die
Dharmas (Dinge und Phänomene) im Gleichgewicht. Jene Menschen sind zu bedauern,
die zwar erkennen, dass Unrechtes aus Ursachen und Bedingungen entsteht, aber
nicht sehen, dass diese Ursachen und Bedingungen und sogar sie selbst (die
Wirklichkeit) des Nicht-Erzeugens (des
Unrechten) sind.“
Dieses Zitat klingt zunächst
in sich widersprüchlich. Ich möchte folgende Interpretation vorschlagen: Wer
nicht im Sinne des Buddhismus im Gleichgewicht ist, hat kaum eine Chance, das
eigene unrechte Handeln und das anderer klar zu erkennen. Er wird auch keine
Kraft haben, unrechtes Handeln im Augenblick zu vermeiden. Viele Menschen
machen ihre Umgebung oder, wie es hier heißt, die „Ursachen und Bedingungen“,
für Unrechtes verantwortlich. Sie suchen immer außerhalb von sich selbst nach
den Gründen des Unrechten und sind fest davon überzeugt, dass sich daraus
zwangsläufig das Unrechte ergeben muss. Laut Dōgen kommt es aber darauf an,
selbst kein Unrecht zu erzeugen; dies sei zusammen mit den Ursachen und
Randbedingungen im Augenblick auch wirklich möglich.
Nishijima Roshi ergänzt
dazu, dass wir durch äußere und innere Bedingungen nicht fixiert sind, wenn wir
zum Beispiel mithilfe der Zazen-Praxis ein klares Gleichgewicht verwirklichen.
Wir erkennen dann, dass die Wirklichkeit kein Unrecht enthält. Dann sind die
Dinge und Phänomene im Gleichgewicht, und das Unrecht wird nicht erzeugt und
existiert nicht: „Falsches und Unrechtes sind einfache Tatsachen im
gegenwärtigen Augenblick, und sie sind daher immer im Gleichgewicht. In
ähnlicher Weise sind auch alle Dinge und Phänomene im gegenwärtigen Augenblick
im Gleichgewicht. Wenn die Menschen also meinen, dass das Unrecht nur durch
(unabänderliche) Ursachen und Umstände erzeugt wird, sind sie sehr
bedauernswert. Wenn sie nicht erkennen, dass die Ursachen und Umstände dasselbe
sind wie das Unrecht nicht zu erzeugen, und sie selbst auch (dasselbe) sind,
wie das Unrecht nicht zu erzeugen (sind sie sehr bedauernswert).“
Wesentlich
bei diesem Kommentar von Nishijima Roshi ist wie bei Dōgen der Ausdruck „nicht
erzeugen“. Nach der buddhistischen Lehre sind wir selbst und der Kosmos im
natürlichen Zustand, wenn wir im Gleichgewicht sind; wir haben dann einen
klaren Geist und sind im Augenblick voll handlungsfähig. Wenn wir also
natürlich handeln, erzeugen wir kein Unrecht, das zum Beispiel anderen Menschen
schadet, die Natur über die Maßen ausbeutet oder sogar zerstört, und vor allem
werden wir nicht von Gier, Hass und Verblendung getrieben. Die natürlichen
Ursachen und Umstände widersprechen also unrechtem Handeln, und sie
widersprechen nicht unserer wahren Buddha-Natur.
Die wahren Bedingungen sind die
Buddhaschaft
In
diesem Abschnitt behandelt Dōgen den Zusammenhang zwischen äußeren und inneren
Bedingungen sowie der Buddhaschaft.
„Die Samen der Buddhaschaft entstehen aus
(natürlichen) Bedingungen, und da dies so ist, entstehen die Bedingungen aus
den Samen der Buddhaschaft.“
Hier verknüpft Dōgen die
Bedingungen und die Buddhaschaft, also das Erwachen und Gleichgewicht,
wechselseitig miteinander. Durch die Umkehrung in der Formulierung
unterstreicht er, dass die Buddhaschaft aus den besonderen natürlichen
Bedingungen entsteht und sich gleichzeitig aus der Buddhaschaft die Bedingungen
ergeben. Buddhaschaft und Bedingungen können nicht voneinander abweichen und
bilden eine Einheit. Die wahren Bedingungen im Universum sind immer im Einklang
mit der Wirklichkeit und können als Buddhaschaft bezeichnet werden. Sie sind
gleichzeitig die Ursache für richtiges Handeln im Hier und Jetzt.
„Es ist nicht so, dass das Unrechte nicht existiert. Es ist nichts anderes
als Nicht-Erzeugen. Es ist nicht so, dass Unrechtes existiert, es ist nichts anderes als Nicht-Erzeugen. Die Varianten
des Unrechten sind nicht immateriell, sie sind Nicht-Erzeugen. Die Varianten
des Unrechten sind nicht materiell, sie sind Nicht-Erzeugen. Unrechtes ist auch
nicht (der Begriff) ‚Nicht-Erzeugen‘, es ist nichts anderes als Nicht-Erzeugen
(nämlich Handeln).“
Damit schiebt Dōgen der Theorie einen Riegel vor,
dass Unrechtes wie eine Idee wirkliche Existenz oder Nicht-Existenz sein
könnte, so wie es Idealisten meist verstehen. Begriffe oder Vorstellungen wie
„Existenz“ oder „Nicht-Existenz“ sind völlig ungeeignet, um Unrechtes als
Wirklichkeit, nämlich als Handeln, zu beschreiben. Unrechtes ist auch kein
böser Geist, der mit oder ohne Körper und Materie in der Welt ist und angeblich
sein Unwesen treibt. Solche Vorstellungen sind nach Dōgen bestenfalls
gleichnishaft zu verstehen.
Besonderen Wert legt er
darauf, dass Unrechtes weder materiell noch immateriell ist. Viele Marxisten
neigen zu der materialistischen Vorstellung, dass es äußere konkrete materielle
Ursachen dafür gibt, dass Unrecht geschieht. So argumentieren sie zum Beispiel,
dass durch die materielle Ungerechtigkeit in der Industriegesellschaft
notwendigerweise Unrecht geschieht. Idealisten machen dagegen meistens
immaterielle Gründe dafür verantwortlich, dass Unrecht in der Welt vorhanden
sei. Dōgen lehnt beide Ansichten ab, weil sie nur die halbe Wahrheit seien. Die
vielen Varianten des Unrechten werden ganz einfach vermieden, indem nicht
unrecht gehandelt wird: Ein vom Handeln unabhängiges Unrecht gibt es nicht.
Dafür bringt er Beispiele aus der Natur:
„Kiefern im Frühling sind weder Nicht-Existenz noch
Existenz, sie sind Nicht-Erzeugen (von Unrecht). Herbst-Chrysanthemen sind
weder Existenz noch Nicht-Existenz, sie sind Nicht-Erzeugen (von Unrecht).“
Diese Aussagen über die Natur wirken nach westlichem
Verständnis seltsam, aber im Buddhismus und vor allem bei Dōgen haben sie eine
ganz besondere Bedeutung. Blumen und Bäume erzeugen in der Tat kein Unrecht,
sie sind, wie sie sind. Sie fallen nicht unter eine Theorie von Existenz oder
Nicht-Existenz, erklärt Dōgen, denn das wären absolute, gedachte und dauerhafte
Zustände. Sie sind als Wirklichkeit im Augenblick vorhanden. Er argumentiert in
diesem Teil des Kapitels damit, dass das Unrecht als solches nicht existiert,
sondern allein durch Handeln erzeugt wird. Ein unrechtes Handeln gibt es aber
tatsächlich nicht für Kiefern und Chrysanthemen. Überhaupt ist jede moralische
Frage nach Recht oder Unrecht für die Natur irrelevant. Die Natur ist, wie sie
ist.
In einem großartigen Kapitel beschreibt Dōgen, dass
die Natur den Dharma lehrt, also die Wahrheit und Wirklichkeit.[xviii]
Kiefern und Chrysanthemen sind ganz einfach da, sie hegen keine bösen
Absichten, sie sind im Gleichgewicht und werden nicht von der Gier nach Profit,
Ruhm und Macht gesteuert. So man kann sagen, dass sie kein Unrecht erzeugen und
deshalb wirklich sind.
Anschließend erweitert er die Aussage auf die
Buddhas, die im Gleichgewicht leben und im Augenblick handeln: Sie sind
„Nicht-Erzeugen“ von Unrecht und haben daher keine von der Zeit unabhängige
Existenz oder Nicht-Existenz. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie kein
Unrecht erzeugen und ethisch handeln. Auch die
tagtäglichen Dinge des Klosters, wie die Pfeiler der Tempel, die Steinlaternen
in der Klosteranlage oder die Gegenstände der buddhistischen Zeremonien, sind
keine zeitunabhängigen Entitäten, sondern werden im Handeln des Augenblicks, in
der Einheit mit dem Praktizierenden zur Wirklichkeit. Ihre moralische Reinheit
ergibt sich daraus, dass sie kein Unrecht erzeugen, keine von Gier gesteuerten
Absichten haben und als Wirklichkeit so sind, wie sie sind.
Das erwachte
Selbst erzeugt kein Unrecht
Nun kommt Dōgen auf unser
Selbst zu sprechen, das er von dem isolierten und von Gier gesteuerten Ego
unterscheidet.[xix]
Er lehnt jede Vorstellung eines dauerhaft existierenden und vor allem
isolierten Ich ab, denn das wäre identisch mit dem Atman des Brahmanismus.
Demgegenüber bezieht sich das Selbst auf dessen Handeln in der Gegenwart des
Augenblicks. Im Kapitel über das verwirklichte Universum[xx]
erläutert er ausführlich seine grundlegende Lehre des Handelns im Augenblick,
das die Wirklichkeit des Selbst und der Welt erschafft.
Weder subjektives Denken des
Idealismus noch objektfixiertes Denken des Materialismus sind in der Lage, die
volle Wirklichkeit des Lebens und Universums zu realisieren. Idealismus und
Materialismus beruhen auf der Vorstellung eines Ich und der Trennung von
Subjekt und Objekt, während das Selbst erwacht und offen ist. Deshalb müssen
wir angelernte und fixierte Denk- und Gefühlsstrukturen vergessen und wegfallen
lassen, wir müssen uns im Augenblick in der Zazen-Praxis öffnen und uns auf den
Weg des Buddha-Dharma begeben. Auch theoretisches Lernen allein reicht nicht
aus: Dōgen verwendet deshalb den Ausdruck „Lernen in der Praxis“. Die
Sichtweise des Subjekts und Objekts kann zwar nützlich und der Ausgangspunkt
weiterer Überlegungen sein, aber sie bleibt eine Teil-Perspektive:
„Das
Selbst ist weder Existenz noch Nicht-Existenz. Es ist (das vielfältige
Unrechte) nicht zu erzeugen. In der Praxis auf diese Weise zu lernen, ist das
verwirklichte Universum, und es ist die universale Verwirklichung. Wir bedenken
es von dem Standpunkt des Subjekts, und wir bedenken es von dem Standpunkt des
Objekts.“
Nishijima Roshi bringt diese Ausführungen auf den
Punkt: „Das Selbst übersteigt Vorstellungen von Existenz und Nicht-Existenz,
und es ist genau das Nicht-Erzeugen des Unrechts im gegenwärtigen Augenblick.
Wenn wir eine solche Situation erkennen, ist es genau das verwirklichte
Universum, und es ist das Universum, das verwirklicht worden ist.“
Wenn wir wirklich bedauern, etwas Unrechtes erzeugt
zu haben, keine Ausreden suchen oder alles vertuschen wollen, können sich
daraus erhebliche psychische Energien entwickeln, um derartiges Handeln in
Zukunft zu vermeiden. Dann gewinnen wir eine größere Klarheit, was im
Augenblick ethisch wirklich zu tun ist. Das ist ein wichtiger Schritt zur
Befreiung.
„Wenn der Zustand schon so geworden ist, ist auch das
Bedauern ‚Ich habe das erzeugt, was nicht erzeugt werden musste‘ nichts anderes
als die Energie, die aus der Anstrengung entsteht, (Unrechtes) nicht zu
erzeugen.“
Zusammenfassend kann man sagen: Wenn wir richtig
handeln, erzeugen wir kein Unrecht und sind im Einklang mit der Ethik und den
Gesetzen des Universums; das ist Lernen in der Praxis und keine abgehobene
Theorie oder starre Ideologie. Dann gibt es keine Dualität von Ich und Du,
keine Abgrenzung gegenüber der Welt und dem Universum. Durch dieses Lernen in
der Praxis verwirklicht sich das Universum.
Wenn wir absichtlich Unrecht erzeugen, könne man
dieses Verhalten damit vergleichen, dass wir nach Süden gehen wollen und in
Wirklichkeit nach Norden wandern, sagt Dōgen. Dann zitiert er einen tiefgründigen
Vergleich, um das Unrecht und dessen Nicht-Erzeugen zu beleuchten und deren
unauflösbare enge Einheit und Wechselwirkung hervorzuheben:
„(Die Beziehung zwischen) Unrechtem und dem
Nicht-Erzeugen ist nicht nur so, wie wenn ein Brunnen einen Esel anschaut,
(sondern auch) wie wenn der Brunnen den Brunnen anschaut, ein Esel den Esel
anschaut, ein Mensch einen Menschen anschaut und ein Berg einen Berg anschaut.
Weil es diese ‚Lehre des Prinzips wechselseitiger Beziehungen‘ gibt, ist
Unrechtes genau dessen Nicht-Erzeugen.“
In diesem Zitat bezieht sich Dōgen auf ein berühmtes
Kōan-Gespräch[xxi],
in dem es heißt, dass der Esel den Brunnen ansieht und umgekehrt der Brunnen
den Esel ansieht. Auf diese Weise wird die Einheit von Brunnen und Esel
verdeutlicht. Die Trennung von Subjekt und Objekt ist damit überwunden. Dōgen
fügt hinzu, dass ein Brunnen den Brunnen ansieht, ein Esel den Esel ansieht,
ein Mensch den Menschen ansieht und ein Berg den Berg ansieht. Diese Sätze
verweisen auf das Selbst, das so ist, wie es ist, und dem nichts künstlich
hinzugefügt oder weggenommen werden darf. Brunnen, Esel, Mensch und Berg sind
sich genug und sowohl auf sich selbst fokussiert als auch gleichzeitig völlig
im Universum integriert.
Menschen neigen dazu, durch Bewertungen auszuwählen,
was sie mögen, und wegzulassen, was sie nicht mögen. Das ist aber nicht die
ganze Realität. Emotional gesteuerte Fantasien fügen Gedachtes, Erhofftes oder
Gefürchtetes hinzu. Wenn jedoch die Wirklichkeit unverändert und unverstellt
zum Zuge kommen soll, müssen diese psychischen Tätigkeiten durchschaut und
entsprechende Verzerrungen ausgeschaltet werden.
Die Reinheit der Natur
„Buddhas
wahrer Dharma-Körper
ist genau wie der Raum.
Er offenbart seine Form entsprechend den Dingen,
wie der Mond (sich) im Wasser (spiegelt).“
Hierzu erklären Nishijima und Cross, dass der
Dharma-Körper das „spirituelle oder abstrakte Gesicht der Wirklichkeit“ ist,
während der Raum die physikalische Dimension darstellt, als materielles Element
nach der altindischen Tradition. Der Raum ist daher das materielle Gesicht der
Wirklichkeit.[xxii]
Damit sind die beiden wichtigen Seiten der Wirklichkeit angesprochen, nämlich
die buddhistische Lehre und die konkreten materiellen Dinge.
Das Symbol des im Wasser reflektierten Mondes behandelt
Dōgen ausführlich im Kapitel über die Wirklichkeit des Mondes.[xxiii]
Darin beschreibt er den Mond und seine Spiegelung als Gleichnis für das
Erwachen: Das Bild des Mondes teilt das Wasser nicht, wühlt es nicht auf und
beeinträchtigt es auch sonst in keiner Weise.
Dōgen verknüpft das Bild des
Mondes und der Natur mit dem ethisch richtigen Handeln im Augenblick, das kein
Unrecht erzeugt. Er spricht vom Klatschen der Hände und meint damit genau das
wahre Handeln, das nicht durch unklare oder eigennützige Absichten verfremdet
ist. Ein solches Handeln findet immer an einem bestimmten Ort im Raum statt,
ganz konkret im Hier und Jetzt.
Beim Bild des gespiegelten
Mondes klingt noch eine andere symbolische buddhistische Bedeutung an: Das Bild
des Mondes ist vom Wasser umgeben; in gleicher Weise ist ein Individuum von den
objektiven Gegebenheiten der konkreten Welt umgeben. Das Wasser kann in diesem
Fall als materielles Element verstanden werden, das den Mond als Symbol für das
Erwachen umgibt. So ist auch der Mensch von materiellen Dingen umgeben, die mit
ihm eine Einheit bilden. In der Gesamtheit des Bildes von Wasser und Mond kommt
laut Nishijima und Cross[xxiv]
die Einheit von Subjekt und Objekt besonders klar zum Ausdruck. So grenzen sich
Wasser und Mond einerseits voneinander ab, sind aber andererseits gerade eine
Einheit.
An diesem Beispiel aus der Natur wird abermals
deutlich, dass es im Universum nichts Unrechtes gibt und dass die Reinheit der
Natur als Wirklichkeit da ist, ohne dass sie durch unrechtes Handeln beeinträchtigt
und beschmutzt wird. Trotzdem gibt es leider in der Welt der Menschen
zweifellos unrechtes und sogar kriminelles Handeln.
Das Rechte ist nicht relativ
Dann greift Dōgen noch
einmal den Inhalt der zweiten Zeile des Gedichts auf, das er zu Beginn des Kapitels
zitierte: Wir sollen die vielen Arten des Rechten praktizieren. Wie erwähnt
gibt es grundsätzlich die drei Bereiche des Rechten, des Unrechten und des
Neutralen. Allerdings handelt es sich hierbei um recht abstrakte Begriffe. Das
Rechte gibt es also ebenfalls nicht von vornherein und abstrakt als Entität,
sondern es verwirklicht sich genau beim rechten Handeln
im Augenblick und genau am Ort, an dem gehandelt wird:
„Es
gab niemals irgendeine Art des Rechten, das vorher verwirklicht wurde und dann
auf jemanden wartet, der es tut.“
Die folgende Aussage
beschreibt ebenfalls überzeugend und sehr anschaulich, wie das Rechte sich im
Handeln realisiert und damit Wirklichkeit wird.
„(Handeln
und Form) kommen genau am Ort des Tuns schneller zusammen als Eisen und ein
Magnet und mit stärkerer Kraft als die legendären Vairambhaka-Winde.“
Auch die Erde, die Berge,
die Flüsse, die Welt und sogar das angesammelte Karma können laut Dōgen ein
solches Zusammentreffen im Handeln nicht verhindern. Wenn man sich allerdings
nur auf das gedankliche Erkennen stützt, gibt es sehr viele verschiedene
Sichtweisen der Welt. In den buddhistischen Schriften wird dabei oft das
Beispiel des Wassers angeführt, das die Fische als Palast, die Götter als eine
Kette von Perlen, die Menschen als Wasser und die Dämonen als Blut oder Eiter
ansehen. Dōgen erläutert damit, wie wir die Relativität verschiedener
Sichtweisen in Bezug auf das Rechte verstehen sollen und betont, dass wir durch
Denken allein dieses Problem letztlich nicht lösen können.
Was aber wirklich als
Rechtes erkannt wird, kann auch mit Worten beschrieben werden, wie es zum
Beispiel die Buddhas der drei Zeiten tun, wenn sie den Dharma lehren. Sie
lehren einerseits einen ungeteilten Dharma der großen Einheit und andererseits
den Augenblick, in dem die Wirklichkeit selbst da ist. Wie die Buddhas und die
Natur den Dharma lehren, behandelt Dōgen eingehend in einem gesonderten
Kapitel.[xxv]
Maßgeblich dabei ist, dass keine verzerrenden, negativen oder positiven
Emotionen das Gleichgewicht des Lehrenden und des Zuhörenden steuern oder
beherrschen.
Im ostasiatischen Buddhismus
gab und gibt es recht verschiedene Linien und Schulen, zum Beispiel die des
Reinen Landes, die auf Glauben beruht, und die Zen-Schulen, die auf der
Zazen-Praxis oder auf der Bearbeitung von Kōans aufbauen. Diese Schulen
unterscheiden sich jedoch nur äußerlich, erklärt Dōgen, denn im Hinblick auf
das richtige Handeln könne man keine Differenz feststellen. Der Unterschied
zwischen dem frühen Buddhismus mit dem Erwachen der Hörer des Dharma
(Shravakas) und den Gelöbnissen der Bodhisattvas sei daher ganz und gar
unwesentlich. Wenn der Shravaka seine Gelöbnisse einhält, ist das rechtes
Handeln, und wenn der Bodhisattva die Gelöbnisse verletzt, handelt er nicht
richtig.
„Die
vielen Arten des Rechten entstehen nicht aus Ursachen und Bedingungen, und sie
verschwinden nicht entsprechend der Ursachen und Bedingungen. Die Varianten des
Rechten sind wirkliche Dharmas, aber wirkliche Dharmas sind nicht Varianten des
Rechten.“
Das Rechte ist keine
relative Angelegenheit, die von bestimmten Bedingungen und Ursachen abhängig
ist. Das Rechte ist die Natur dieses Universums im Augenblick des Handelns.
Damit sind die Varianten des Rechten identisch mit den Dharmas, also den Dingen
und Phänomenen.
Richtiges Handeln ist am
Anfang, in der Mitte und am Ende korrekt. Ein schlechter Anfang mit falschem Handeln
wird kaum zu einem guten Ende führen können. Deswegen ist es so wichtig, auch
bereits vor dem Augenblick des Handelns das Richtige zu tun.
Dōgen unterscheidet den
Menschen als Person radikal vom Tun und Handeln, also von den Aktionen. Er
unterstreicht, dass beide nicht identisch sind, denn das Handeln ist als Tun
die Wirklichkeit im Augenblick. Das Handeln ergibt die wesentlichen und
wirklichen „Basiselemente“, aus denen wir uns den Menschen als Abstraktion
denken und damit erschaffen. Der Mensch ist also eine Abstraktion, während die
Handlungen wirklich sind. Es sei nicht unbedingt notwendig, dass der Mensch
sich verstandesmäßig dessen voll bewusst ist, dass und wie er selbst handelt
und wie andere handeln, erklärt Dōgen. Die Wirklichkeit des Handelns gibt es
unabhängig vom Denken und der Reflexion.[xxvi]
Man könne das richtige Handeln niemals vollständig durchschauen, denn es sei im
Kern unfassbar.
Dōgen sagt über das eigene
Selbst im Verhältnis zu anderen Menschen, dass im Zustand des guten und
richtigen Tuns „auf diese Weise kraftvolle Augen, in der Sonne und im Mond“
existieren. Damit meint er, dass wir das Selbst und die anderen sehen und
erkennen können, wenn wir richtig handeln. Daraus ergibt sich eine unauflösbare
Verknüpfung mit dem Augenblick und mit dem Handeln selbst. Die Sonne und der
Mond als Teile des Kosmos sind Symbole für die Natur, die sich im Gleichgewicht
befindet und damit eine Einheit mit dem Dharma bildet. Dann existiert das
verwirklichte Universum[xxvii],
das aber „nicht eine Erzeugung des Universums ist“ und auch nicht den Charakter
einer ewigen Existenz hat, sondern sich im Augenblick verwirklicht.
„Recht
zu handeln, ist gutes Tun, aber es ist nichts, was verstandesmäßig ausgelotet
werden kann. Gutes in der Gegenwart zu tun, ist ein kraftvolles Auge, aber es
ist jenseits von intellektueller Überlegung.“
Damit arbeitet Dōgen die
Begrenztheit des Denkens weiter heraus. Gerade beim Thema „Moral“ sind den verstandesmäßigen Überlegungen ganz
wesentliche enge Grenzen gesetzt. Das ist den argumentierenden Menschen meist
überhaupt nicht bewusst. Rechthaberei sucht nach spitzfindigen Argumenten und
versucht, den anderen damit „fertigzumachen“. Die wechselseitig zugefügten
Verletzungen tragen wiederum dazu bei, dass eine konkrete Klärung des ethischen
Handelns überhaupt nicht mehr möglich ist. Kraftvolle erwachte Augen, welche die
Wirklichkeit des ethischen Handelns klar erkennen, sind daher nicht identisch
mit der Theorie des Buddhismus, sondern gehen darüber hinaus. Die Augen und das
Sehen sind im Buddhismus oft eine Metapher für ganzheitliches klares Erkennen,
das im Gegensatz zu linearem Denken steht.
„Die
vielen Arten des Rechten sind jenseits von Existenz und Nicht-Existenz, von
Materiellem und Immateriellem usw. Sie sind ganz genau nichts anderes als gutes
Tun und Handeln.“
Tiefschürfende
philosophische Überlegungen zur Existenz von Moral und Ethik führen demnach
nicht weiter. Das Gute zeigt sich laut Dōgen direkt im Handeln und nicht in der
abgehobenen Abstraktion.
Es gibt sehr vielfältige
Arten und Möglichkeiten des richtigen Handelns, und dies ist das verwirklichte
Universum selbst, das hat Dōgen eindrucksvoll im Shōbōgenzō herausgearbeitet.[xxviii]
Da die Wirklichkeit der Augenblick des Handelns ist, sind Überlegungen zum
Entstehen und Vergehen des Guten wenig hilfreich und oft sogar irreführend.
Gleiches gilt für Ursachen und Bedingungen, die genau im Augenblick wirksam
sind, aber als abstrakte Theorie nicht weiterführen. Dies ist bei moralischen
Diskussionen ein sehr wichtiger Ansatz, denn häufig werden falsche oder
übertriebene Ursachen herangezogen, und weit hergeholte Spekulationen, die vor
allem die eigene Position stützen, werden mit realen Bedingungen und Ursachen
verwechselt. Gerade falsche Verursachungsketten schaden der Klarheit beim
ethischen Handeln, das im Buddhismus als das Natürliche erfahren wird und sich
im Einklang mit der jeweiligen Situation befindet. Im Kapitel über das
Bodhisattva-Handeln[xxix]
hat Dōgen hierzu ungewöhnlich präzise Formulierungen gefunden.
Beim Handeln stehen die
alltäglichen Angelegenheiten im Mittelpunkt, wie zum Beispiel stehen, weggehen
und ankommen; damit ist gutes Tun direkt gekoppelt. Bei den vielen Arten
richtigen Handelns geht es jeweils um das einzelne richtige Tun – im Einklang
mit dem ganzen Dharma, dem umfassenden Körper und dem realen Land, in dem wir
leben.
Genau im Augenblick gibt es
auch beim Rechten die Einheit von Ursache-und-Wirkung. Die Ursachen liegen beim
wahren Erleben zeitlich nicht vor den Wirkungen, denn ein zeitliches
Nacheinander kann nicht erfahren werden.
Im Folgenden behandelt Dōgen
noch einmal die dritte Zeile des eingangs zitierten Gedichts: Richtiges Handeln
„reinigt natürlich den Geist“. Wichtig ist dabei, dass nicht der isolierte
denkende Geist gemeint ist, sondern der Herz-Geist und die Einheit von
Körper-und-Geist. Das Natürliche ist identisch mit dem Nicht-Erzeugen des
Falschen und Unrechten. Dōgen meint dies ganz konkret, im Hier und Jetzt.
Häufig versteht man im Westen den Geist, der bedeutsam denkt und reflektiert,
als Gegensatz zum Natürlichen und Natur-Gegebenen. Das ist jedoch im Zen nicht
der Fall. Indem wir nicht unrecht handeln,
reinigen wir unseren Körper und Herz-Geist. Dann „ist der Geist gutes Tun. Was
reinigt, ist gutes Tun, der (konkrete Zustand) ist gutes Tun, und was natürlich
ist, ist gutes Tun“, hält Dōgen fest.
Auf der Basis seiner
tiefgründigen Untersuchungen in diesem Kapitel gelingt ihm eine sehr kompakte
Interpretation – eine profunde Analyse des richtigen ethischen Handelns.
Moralische Empörung, zumal auf abstrakter Ebene, verfällt allzu leicht in aufgeregte
Emotionen und bezichtigt andere Menschen vielleicht sogar der Sünde, also des
Vergehens gegen Gott. Damit werden diese aber ausgegrenzt. Dōgens Analyse zum
ethisch richtigen Handeln ist dagegen meines Erachtens außerordentlich
fundiert, sachlich und überhaupt nicht aufgeregt.
Auf die vierte Zeile des
Gedichts kommt er ebenfalls noch einmal zu sprechen; sie lautet: „Dies ist die
Lehre der Buddhas.“ Auch bei den Buddhas steht das konkrete Handeln im
Mittelpunkt, und es geht nicht um abstrakte Vorstellungen, abgehobene Lehren
und generalisierte heilige, moralische Gefühle.
Dōgen erläutert, dass der
indische Gott Shiva ein Buddha sein
kann, wenn er wie dieser handelt, aber nicht alle Shivas seien immer Buddhas.
Dasselbe gelte für die legendären Könige, die das Rad rollen: „Wir sollten
Tatsachen wie diese bedenken und sie in der Praxis erlernen.“ Die Leiden
unseres Lebens sollten wir nicht einfach als unabänderlich hinnehmen, sondern
uns an dem Handeln der Buddhas und großen Meister orientieren. Indem wir selbst
ähnlich handeln, tun wir das Rechte und erzeugen kein Unrecht. Dabei benötigen
wir Geduld und Ausdauer und müssen Schwierigkeiten überstehen, die uns manchmal
vielleicht sogar sinnlos erscheinen.
Am Ende dieses großartigen
Abschnitts zitiert Dōgen einen markanten Zen-Satz aus einem Kōan-Gespräch
zwischen Meister Chokei und Meister Reiun Shigon (Lingyun Zhiqin). Es
ist auch in der Kōan-Sammlung Shinji
Shōbōgenzō[xxx]
enthalten.
„Nichts
(Unrechtes) zu erzeugen und Gutes zu tun, ist die Angelegenheit des Esels, der
nicht fortgegangen, und ist die Angelegenheit des Pferdes, das hereinkommt.“
Mit der Angelegenheit des
Esels und des Pferdes ist das alltägliche Handeln im damaligen China gemeint.
Die Wirklichkeit des moralischen Handelns erweist sich nämlich im täglichen
Leben der Menschen – bei ihren Aufgaben, Verpflichtungen, Bindungen und
Verantwortungen, kurz: im Tun und Handeln selbst.
Eine Kōan-Geschichte über unrechtes und rechtes
Handeln
In einer bekannten Kōan-Geschichte fragte der
berühmte Dichter Haku Kyo-i[xxxi],
ein buddhistischer Laie, Meister Dorin:
„Was ist die große Absicht des Buddha-Dharma?“
Der Meister antwortete: „Kein Unrecht zu erzeugen und
die vielen Arten des Rechten zu praktizieren.“
Der Dichter, der später auch ein bedeutender Gouverneur
wurde, bemerkte daraufhin etwas abfällig: „Wenn das so ist, kann dies sogar ein
dreijähriges Kind sagen.“
Nun erwiderte Meister Dorin: „Ein dreijähriges Kind
kann die Wahrheit sagen, aber ein alter Mann von 80 Jahren kann sie nicht
(konkret) verwirklichen.“
Der Dichter dankte daraufhin zwar dem Meister mit
einer Niederwerfung, aber den tieferen Sinn der Aussage konnte er, wie Dōgen
sagt, nicht erfassen. Er war als Genie wegen seiner dichterischen Qualitäten
berühmt und wurde im Kreise der Schriftsteller und Dichter außerordentlich
verehrt. Den umfassenden Sinn der Zen-Worte, dass man in der Praxis und im
Alltag kein Unrecht erzeugen und das Rechte tun solle, verstand er jedoch nur
als verbale Aussage, er war also auf der Wort- und Denkebene gefangen. Dies
ist, wie Dōgen feststellt, nicht verwunderlich, weil er eben ein Mann des
Wortes und der Dichtung und nicht ein Mann des Handelns war: „(Der Dichter) hat
keinen Fuß in den Bereich des Buddha-Dharma gesetzt. Er hat nicht die Kraft des
Buddha-Dharma.“
Wesentlich seien die Praxis und das Handeln, und
diese unterscheiden sich leider häufig vom Reden und Denken. Sein hohes
dichterisches Können hatte offensichtlich für Haku Kyo-i zur Folge, dass er von
der buddhistischen Praxis des Zazen und des Alltags noch weit entfernt war. In
der Tat ist es sehr leicht zu sagen, was moralisch sinnvoll und richtig ist,
und es trifft sicher zu, dass bereits ein Kind, das gelernt hat, vernünftige
Sätze zu bilden, dies sagen kann. Die Verwirklichung
dieses ethischen Vorsatzes durch Handeln erfordert jedoch eine ganz andere
Dimension des Lebens. Selbst die Erfahrung eines sehr langen Lebens und das
Lernen auf dem Weg des Dharma reichen oft nicht aus, um dies vollständig zu
verwirklichen. Dafür ist eine intuitive Klarheit und umfassende Kraft des
Handelns im Augenblick erforderlich.
Die Wirklichkeit, kein Unrecht zu erzeugen, ist von
entscheidender Bedeutung, wenn wir zum Beispiel davor warnen, vorsätzlich
Unrechtes zu tun, und wenn wir jemanden ermutigen, in Klarheit das Rechte zu
praktizieren. Der Buddha-Dharma, den wir beim rechten Handeln verwirklichen,
ist immer derselbe, unabhängig davon, ob wir ihn unter Anleitung eines wahren
Lehrers erlernt oder ihn in einem Zustand der Klarheit und des Gleichgewichts
selbst erfahren haben. Wenn Menschen das Rechte tun, verwirklichen sich ihr Wesen,
ihre Form, ihr Körper und ihre positive Kraft.
„(Die
Wirklichkeit von) Ursache-und-Wirkung ist im Buddhismus jenseits einer
Diskussion von (Theorien wie) ‚verschiedene Reifung‘ oder ‚gleiche Ströme‘.“
Hier spricht Dōgen eine
bekannte Theorie an, die erklärt, dass moralisches und unmoralisches Verhalten
unterschiedliche Wirkungen erzeugt; diese Theorie wird als „Reifung“
bezeichnet. Über diesen theoretischen moralischen Aspekt der Karma-Lehre geht
Dōgen jedoch hinaus, indem er die Praxis durch rechtes Handeln im Augenblick
integriert.
Reine Theorien, die keine
Beziehung zur praktischen Ethik haben, hält Dōgen nicht für sinnvoll. Das
Gesetz von Ursache und Wirkung hat dabei keinen Bezug zu Recht oder Unrecht,
sondern wird als Automatismus jenseits der Ethik verstanden. Dann sind alle
menschlichen Regeln ethisch gleichwertig und
damit indifferent. Aber nach der buddhistischen Lehre, die Dōgen hier
vorstellt, geht es ganz konkret sowohl bei den Ursachen als auch bei den
Wirkungen um das rechte oder falsche Handeln im Augenblick – nicht mehr und
nicht weniger.
Meister Dorin sprach
zweifellos die Wahrheit, betont Dōgen. Selbst wenn das gesamte Universum immer
wieder scheinbar von Unrecht durchdrungen ist, und selbst wenn „das Unrecht den
ganzen Dharma (scheinbar) immer wieder verschlungen hat“, gebe es die Befreiung
durch richtiges Handeln im Augenblick und dadurch, dass man unrechtes Handeln
schlicht unterlässt. In jedem Augenblick kann also umgeschaltet werden: aus
übermächtig erscheinendem Unrecht und Verbrechen in humanistisches, rechtes
Handeln. Dieses ethische Handeln könne überhaupt nicht zerstört werden, ganz
gleich wie lange das Unrecht vorgeherrscht habe.
Die vielen Varianten des
Rechten seien rechtes Handeln, zu Beginn, in der Mitte und am Ende, so lautet
eine Formulierung aus dem Lotos-Sūtra. Und Dōgen fügt hinzu: „Gutes Tun hat die
Natur, die Form, den Körper, die Energie usw. verwirklicht, wie sie sind.“ Im
Gegensatz dazu sei der Dichter Kyo-i niemals auf den Spuren des rechten
Handelns und des Buddha-Dharma gegangen, und er habe nicht die Übertragung von
einem wahren Meister erfahren.
Dōgen fragt dann, warum der
Dichter das dreijährige Kind gering schätzt, wenn es bereits solche klaren
Aussagen über Rechtes und Unrechtes machen könne. Und tatsächlich: Wer kennt
wirklich ein solches Kind, wer kennt sogar ein neugeborenes Kind und wer kennt
überhaupt einen Menschen, wenn er selbst im Denken, Reden und Dichten gefangen
ist? Es ist einleuchtend, dass ein Dichter die Sprache über alles schätzt, aber
damit löst er sich allzu leicht von der Wirklichkeit ab. Die tiefe Achtung und
Bescheidenheit gegenüber der Wirklichkeit können auf der verbalen Ebene
vollständig verloren gehen.
Häufig geht es bei
Schriftstellern vor allem darum, beim Leser starke künstliche Emotionen zu
erzeugen, die fesselnd und faszinierend sind. Das muss mit der Wirklichkeit
nicht viel zu tun haben. Gerade fantastische dramatische und nicht zuletzt
abgründige Verbrechergeschichten sind bei vielen Lesern besonders beliebt. Auch
im Fernsehen herrschen sie heute vor, denn sie sollen das Bewusstsein
okkupieren und können von den Problemen der Menschen ablenken, die dabei jedoch
ungelöst bleiben.
Wenn jemand nicht die eigene Erfahrung des
Buddha-Dharma hat, nützt es nicht viel, dass er einen authentischen Meister von
Angesicht zu Angesicht kennt, erläutert Dōgen im Hinblick auf den Dichter.
Umgekehrt heißt es aber nicht unbedingt, dass einem der Zugang zum wahren
Buddha-Dharma verwehrt ist, wenn man keinen authentischen Meister direkt erlebt
hat. Denn es kommt auf das rechte Handeln im Augenblick an und darauf, dass wir
kein Unrecht erzeugen. Oft haben die von der Gesellschaft hoch gerühmten und
gefeierten Menschen große Schwierigkeiten, die Wahrheit und Wirklichkeit des
Buddha-Dharma zu erahnen und bescheiden festzustellen, dass sie einen
fundamentalen Lernprozess beginnen müssten.
„Wer dazu gekommen ist, ein einziges Atom zu kennen,
der kennt das ganze Universum, und wer einen wirklichen Dharma durchdrungen
hat, hat die unzähligen Dharmas durchdrungen.“
Das Kleine, das hier als einzelnes
Atom bezeichnet wird, und das Große, also das Universum, bilden eine Einheit.
Dieses Kleine dürfen wir nicht vernachlässigen, um das Große zu durchdringen.
Wer also große fantasievolle Poesie verfasst, sollte ein dreijähriges Kind oder
ein Neugeborenes nicht für unwesentlich halten. Wenn die Schüler des Buddhismus
das Leben, die Wirklichkeit und die Welt bis zum Ende durchdrungen haben, so Dōgen,
können sie gerade oder erst die Einzelheiten und vielfältigen Dinge und
Phänomene sehen. Erst dann lernen sie die Wirklichkeit des ganzen Universums.
„Es
ist sehr töricht zu denken, dass ein drei Jahre altes Kind nicht den
Buddha-Dharma ausdrücken könne, und zu
behaupten, was ein drei Jahre altes Kind sagt, müsse simpel sein.“
Die große Aufgabe jedes
Buddhisten ist, darüber Klarheit zu gewinnen, was das Leben und was der Tod
ist.[xxxii]
Solche Fragen müssen uns auch und gerade dann bewegen, wenn es um ein dreijähriges
Kind geht, anstatt sich von ihm abzugrenzen und sich dem eigenen Hochmut
hinzugeben, wie es der Dichter in diesem Kōan tut. Schließlich zitiert Dōgen hierzu Meister Nāgārjuna:
„Genau
in der Zeit deiner Geburt nahmen wir teil an dem Löwengebrüll (der
buddhistischen Lehre).“
Das heißt, schon bei unserer
Geburt sind wir auf dem Weg des Buddha-Dharma. Die Lehren und Vorträge von
Gautama Buddha werden in der buddhistischen Literatur bisweilen als
Löwengebrüll bezeichnet. Dieses Löwengebrüll eines Kindes versteht der Dichter
offensichtlich nicht und bezeichnet es als unwichtiges Geplapper, weil er die
Wirklichkeit des rechten Handelns nicht kennt. Wenn man am Brüllen des Löwen
teil hat, „ist dies die Tugend des Tathāgata, der das Dharma-Rad dreht, oder es
ist das Drehen des Dharma-Rades selbst“, erklärt Dōgen.
Der berühmte Meister Engo Kokugon (Yuanwu Keqin)
bezieht diese Kōan-Geschichte direkt auf Leben-und-Sterben sowie auf
Kommen-und-Gehen; sie seien der wirkliche menschliche Körper.[xxxiii]
Damit sind das Handeln im Alltag und die großen Wirklichkeiten des Lebens
gemeint. Es sei völlig absurd, derartige tiefgründige Wirklichkeiten als simpel
abzutun, denn sie gelten bei jedem Menschen und nicht zuletzt bei einem
dreijährigen Kind. Und Zen-Geist ist Anfänger-Geist.[xxxiv]
Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen dem Handeln und den Motiven der
Buddhas der drei Zeiten und denen eines Kindes, aber auch das Kind hat teil an
der großen Wahrheit und am Löwengebrüll.
Die Stimme von Meister Dorin ist laut Dōgen
lebendiger als der Donner, wenn er betont: „Auch ein Kind von drei Jahren kann
(die Wahrheit) ausdrücken“. Wenn der Dichter daran zweifelt und die Aussage des
Meisters abwertet, bedeutet das nichts anderes, als dass er den Meister Dorin
selbst infrage stellt und sich überheblich von ihm abgrenzt. Er kann das
lebendige Löwengebrüll des großen Meisters und des Kindes nicht hören, obgleich
der Zen-Meister das Dharma-Rad dreht. Der Dichter verbringt wertvolle
gemeinsame Zeit mit ihm, ohne in seiner Eitelkeit zu erkennen, welch großen
Wert dies für sein eigenes Leben gehabt hätte.
Dōgen fordert uns auf,
Dorins Aussage über das Kind gründlich zu erforschen und in der Praxis zu
durchdringen. Wir sollen auch sorgfältig untersuchen, ob und wann ein
erfahrener Mann von 80 Jahren die Wahrheit verwirklicht. Möglicherweise komme
es dabei zu verschiedenen Interpretationen. Die Wirklichkeit des alten Mannes
und des Kindes unterliegen jedoch keiner subjektiven Interpretation und keiner
Einschätzung. Sie sind genau die Wirklichkeit, und sie handeln selbst direkt im
Augenblick des Jetzt.
[i] Shobogenzo,
deutsche Fassung, Bd. 1, S. 121 ff.; englische Fassung, Bd. 1, S. 97 ff.
[ii] Kap. 10, ZEN
Schatzkammer, Bd. 1, S. 100 ff.: „Erzeugt kein Unrecht und erlangt die
Freiheit! (Shoaku makusa)“
[iii] Shobogenzo, engl.
Fassung, Bd. 1, S. 97
[iv] ebd.
[v] vgl. Kap. 5
von Teil II dieses Buches
[vi] vgl. Seggelke,
Yudo J.: Erwachen und Erleuchtung im
ZEN, S. 87 f.
[vii] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[viii] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[ix] Shobogenzo, engl. Fassung, Bd. 1, Fußnote S. 99
[x] Zum Beispiel Kap. 1, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 26
ff.: „Ein Gespräch über das Streben nach der Wahrheit (Bendōwa)“; Kap. 3, ZEN Schatzkammer. Bd. 1, S. 43 ff.: „Das
verwirklichte Leben und Universum(Genjō-kōan)“; Kap. 11, ZEN Schatzkammer. Bd. 1, S.
110 ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[xi] vgl. Seggelke,
Yudo J.: Das Geheimnis der Buddha-Natur
[xii] vgl. Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.:
„Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[xiii] vgl. Kap. 4 von Teil II dieses Buches und Kap. 33,
ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 80 ff.: „Der Bodhisattva des großen Mitgefühls und
des Helfens (Kannon)“
[xiv] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 1, S. 100
[xv] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“
[xvi] Kap. 76, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 147 ff.: „Die
große buddhistische Praxis und das Gesetz von Ursache und Wirkung (Dai-shugyō)“ und Kap. 89, ZEN
Schatzkammer, Bd. 3, S. 262 ff.: „Tiefes
Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung (Shinjin-inga)“
[xvii] Nishijima, G. W.; Seggelke, Yudo J.: Die Kraft der
ZEN-Meditation, S. 35 ff.
[xviii] Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die Natur
und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujō seppō)“
[xix] vgl. Jäger, Willigis: Das Leben endet nie: Über das
Ankommen im Jetzt
[xx] Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das
verwirklichte Leben und Universum (Genjō-kōan)“
[xxi] Shinji Shobogenzo, Buch 2, Nr. 7
[xxii] Shobogenzo, engl. Fassung, Bd. 1, S. 103, Fußnote 38
[xxiii] Kap. 42, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 43 ff.: „Die
Wirklichkeit des Mondes (Tsuki)“
[xxiv] Shobogenzo, engl. Fassung, Bd. 1, S. 103, Fußnote 41
[xxv] Kap. 53, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die
Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujō seppō)“
[xxvi] vgl. Kap. 4 von Teil II dieses Buches
[xxvii] Kap. 3, ZEN-Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das
verwirklichte Leben und Universum
(Genjō-kōan)“
[xxviii] ebd.
[xxix] Kap. 33, ZEN-Schatzkammer, Bd. 2, S. 80 ff.: „Der
Bodhisattva des großen Mitgefühls und des Helfens (Kannon)“
[xxx] Shinji-Shobogenzo,
Buch 2, Nr. 56
[xxxi] Haku Kyo-i starb 864. Kyo-i war sein Künstlername
als Dichter.
[xxxii] Kap. 17,
ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 152 ff.: „Lotos-Sūtra: Die Dharma-Blume der
Wahrheit dreht die Blume der Dharma-Welt (Hokke-ten-hokke)“
[xxxiii] Kap. 50, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 213 ff.: „Die
wirkliche Form aller Dharmas (Shohō jissō)“
[xxxiv] Suzuki, Shunryu: Zen-Geist, Anfänger-Geist