Dienstag, 24. Oktober 2023

Yudo Jürgen Seggelke ist gestorben


Am 4. August, wenige Monate nach seinem 85. Geburtstag, ist Yudo Jürgen Seggelke gestorben. Zum Jahreswechsel war überraschend eine schwere Krankheit diagnostiziert worden. Diese Diagnose und sein Tod waren und sind für seine Familie, Freundinnen und Freunde, Schülerinnen und Schüler ein Schock. Denn er war ein kraftvoller Mensch und buddhistischer Lehrer, der sich nach dem Ausscheiden aus seinem Beruf intensiv der Aufgabe widmete, Zen in der Tradition von Meister Dogen im deutschen Sprachraum zu vermitteln. Er starb in seinem Berliner Zuhause, auch in den letzten Wochen begleitet von seiner Frau Barbara.

Eher ungewöhnlich in den Nachkriegsjahren, beschäftigte sich Yudo Jürgen Seggelke früh mit Buddhismus, zunächst über Bücher, schließlich fand er in Berlin eine Gruppe. Vor allem Zen und die damit verbundene Kultur begeisterten ihn. Während einer beruflichen Reise 1996 nach Tokio arrangierten seine Gastgeber deshalb ein Treffen mit Gudo Wafu Nishijima, der sein Lehrer werden sollte. Diese Begegnung, die anschließenden mehrfachen Aufenthalte in dessen Zendo in Tokio, die formale Ausbildung in der Dogen-Sangha, aber auch die persönliche Freundschaft und kurz sogar eine Wohngemeinschaft mit Nishijima prägten sein weiteres Leben. Die Übertragung des Dharma durch ihn sah Yudo Jürgen Seggelke immer als Auftrag, das Werk von Nishijima weiterzuführen.

Nishijima und Ritsunen Gabriele Linnebach planten um die Jahrtausendwende eine deutsche Ausgabe von Dogen Zenjis Shobogenzo. Da Yudo Jürgen Seggelke als Mitübersetzer von buddhistischen Texten einer koreanischen Meisterin bereits entsprechende Erfahrung hatte, konnte er an der Übertragung der ersten drei Bände der im Kristkeitz verlegten Ausgabe mitarbeiten. Diese intensive Beschäftigung mit Dogens Hauptwerk wurde zugleich zur Grundlage für viele seiner weiteren Bücher und Vorträge.

In den Folgejahren hat er zunächst einen Verlag gegründet. Dort erschienen neben seinen Kommentaren zu allen 95 Faszikeln des Shobogenzo auch von ihm übersetzte Texte, Radiovorträge und Aufsätze seines Lehrers Nishijima. In weiteren Büchern fasste er einzelne Kapitel des Shobogenzo thematisch zusammen, etwa zur Buddhanatur, zur buddhistischen Ethik oder zum Erwachen, und erläuterte ausführlich deren Bedeutung für die Gegenwart.

Als 2011 Nishijimas englische Ausgabe des Mulamadhyamakakarika, der Lehrstrophen über die grundlegenden Lehren des Mittleren Weges, erschien, dieses Hauptwerkes des buddhistischen Philosophen und Lehrers Nagarjuna, entschloss sich Yudo Jürgen Seggelke, den Text direkt aus dem Sanskrit neu zu übersetzen und ihn mit Bezug auf den Kommentar seines Lehrers sowie ausführlichen eigenen Erläuterungen für Interessierte vorzulegen. Unterstützt wurde er dabei von Elisabeth Steinbrückner. Die Arbeit an diesem Werk sollte sieben Jahre beanspruchen und drei Bände mit etwa 1 000 Seiten und abschließend eine für eine breitere Öffentlichkeit gedachte Zusammenfassung zum Ergebnis haben.

Seit etwa 15 Jahren nutzte Yudo Jürgen Seggelke die Möglichkeiten des Internets, beschrieb seine Erfahrungen beim Zazen und veröffentlichte Beiträge zum Bogenschießen (kyudo), zum Spiel der japanischen Bambusflöte (shakuhachi) sowie über Mystik in der christlichen Tradition, besonders zu Franz von Assisi.

Seine Energie reichte, dass er wenige Wochen vor seinem Tod noch sein nun letztes großes Projekt zu Ende bringen konnte: die Übersetzung und Kommentierung eines Lehrgedichtes von Vasubandhu, einer der einflussreichsten Persönlichkeiten des Mahayana. Es wird ein besonderes Vermächtnis sein.

Yudo Jürgen Seggelke war, bei allem Einsatz für ein verbessertes Verständnis von Zen aus der Tradition Dogen Zenjis, kein doktrinärer Eiferer. In den Beschreibungen seiner Begegnungen mit den für ihn wichtigen Menschen, Büchern und Traditionen schwingt die Offenheit mit, die ihn am Zen-Weg begeistert hat. Wer ihn kennenlernen durfte, hat auch ihn als begeisternd erlebt.


Eberhard Gensa Kügler

Montag, 22. Mai 2023

Die Wahrheit mit Körper und Geist erlernen, Shinjin gakudō

 

Dieses Kapiteltitel besagt, dass man nach der buddhistischen Lehre die Wahrheit und Befreiung dadurch erlernen kann, dass man sowohl den Geist als auch den Körper und die Psyche schult und entwickelt.[i] Dadurch befreit man sich von doktrinären Denkmustern, die zu Täuschungen führen. Wir müssen uns immer im Klaren darüber sein, dass Körper, Geist und Psyche in der Wirklichkeit unauflösbar zusammengehören und eine Wechselwirkung mit den angeblich isolierten Objekten der Außenwelt bilden.

Während in der westlichen Philosophie der Intellekt und Geist meist völlig losgelöst vom Körper des Menschen behandelt werden, schätzt man eine solche Trennung im Buddhismus als sinnlos für die eigene Befreiung ein. Wenn Dōgen in diesem Kapitel des Shōbōgenzō zunächst die Befreiung von doktrinären Denkmustern des Geistes und dann den Lernvorgang des Körpers untersucht, wählt er diesen Weg aus didaktischen Gründen, um die jeweiligen Bereiche möglichst klar herausarbeiten zu können. Der Lehre vom ethischen Handeln und Tun, die immer Veränderungen beinhaltet, kommt im Buddhismus eine sehr große Bedeutung zu, und zum Handeln gehören immer sowohl der Geist als auch der Körper.

Dōgen betont zu Beginn seiner Ausführungen den klaren Entschluss, den Buddha-Weg zu gehen und fixierte Vorurteile und Doktrinen überwinden zu wollen. In einem anderen Kapitel heißt es, dass wir den Bodhi-Geist bei uns erwecken müssen, um in den Lernprozess des Buddhismus einzutreten.[ii] Auch bei den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad Gautama Buddhas steht am Anfang die klare Entscheidung, den Buddha-Weg zu gehen, um das Leiden zu überwinden. Dōgen bemerkt hierzu: „Wenn ihr euch nicht entschließen könnt, die Wahrheit zu erlernen, entfernt sie sich immer mehr von euch.“ Das bedeutet, dass man durch diesen Entschluss zwar noch nicht zur Wahrheit erwacht ist, aber dass man sich ohne eine solche grundsätzliche Entscheidung in seinem Leben immer mehr verirrt und sich zum Beispiel im Materialismus oder in Doktrinen verliert. Wesentlicher Teil dieses Wahrheitsweges ist ethisches Denken und Handeln. Dōgen zitiert hierzu Zen-Meister Nangaku: „Es gibt die Praxis, und es gibt die Erfahrung, aber wenn sie nicht rein sind, kann man (die Wahrheit) nicht verwirklichen.“

Die Ethik darf natürlich nicht im Denken und bei den Ideen und Absichten stehen bleiben, sondern muss durch das Handeln umgesetzt und im Hier und Jetzt verwirklicht werden. Gleichwohl ist der Entschluss zum ethischen Handeln zunächst im Geist und Willen angesiedelt. Dies ist dann der Beginn eines Lebens auf einem neuen Weg in eine neue Richtung.

Dōgen geht auf verschiedene Arten des Geistes ein, die nicht zuletzt aus der altindischen Buddha-Lehre nach China übernommen wurden: Zum Beispiel bedeutet citta Vernunft und Intellekt, hridaya heißt das denkende Herz, in dem Gefühle und mentale Aktivitäten zusammengefasst sind, und vriddha bezeichnet den gesammelten und ausgeglichenen Geist. Er warnt uns jedoch davor, dies nur rein theoretisch zu verstehen, und fordert uns stattdessen auf:

„Dann erlernt und erforscht ihr es im tätigen Handeln, das selbst das Erwachen des Bodhi-Geistes ist.“

„Ihr solltet deshalb fest darauf vertrauen und annehmen, dass dieser Geist sich auf natürliche Weise von selbst daran gewöhnt, die Wahrheit zu erlernen. Dies nennen wir das Erlernen der Wahrheit mit dem Geist.“

Aus diesen Worten spricht sein tiefes Vertrauen zum Leben im Buddhismus. Für ihn handelt es sich um einen natürlichen Lern- und Entwicklungsvorgang, wenn man auf dem Buddha-Weg das Erwachen oder die Erleuchtung und damit Befreiung erlebt. Aber nicht eine gewaltige einmalige Willensanstrengung ist maßgebend, sondern das stetige Üben als Handeln selbst, also die Zazen-Praxis als vollkommenes Tun im halben oder ganzen Lotos-Sitz und im Gleichgewicht. Dabei lassen wir in der Leerheitsmeditation ohne Doktrinen und Affekte „den Körper und Geist fallen“. Das ist im Zen die Praxis shikantaza, was bedeutet „nichts als sitzen“.

Das Erwachen ist deshalb auch kein „übernatürlicher“ Vorgang, sondern gerade das Gegenteil, etwas Natürliches, das sich allerdings nach Dōgen nicht ohne Übung und Praxis verwirklichen kann. Nishijima Roshi empfiehlt in diesem Zusammenhang jedem von uns, zweimal am Tag Zazen zu praktizieren und sich keine Sorgen darum zu machen, ob dies zur großen Erleuchtung führt oder nicht. Er sagt schlicht, die richtige Zazen-Praxis ist bereits die erste Erleuchtung, und es gibt keinen Unterschied zwischen Handeln und einem Ziel, das erreicht werden soll. Außerdem ist es notwendig, Schritt für Schritt Zugang zur umfassenden buddhistischen Lehre zu bekommen.

Neben der Zazen-Praxis ist das Handeln im Alltag mit den Pflichten und Aufgaben des Menschen ein wesentlicher Teil des Buddha-Weges. Dabei darf man sich nicht entmutigen lassen, wenn es Rückschläge gibt oder wenn der Lernprozess „in Stücke zerfällt“, sondern wir sollen vertrauensvoll in den jeweiligen Situationen unseres Lebens nach der Buddha-Lehre handeln. Auch der von Angst gesteuerte Gedanke an den kommenden Tod oder an eine grauenvolle Wiedergeburt führt nicht weiter, sondern wirkt meist wie ein Hindernis für das Handeln im gegenwärtigen Augenblick, denn das Leben gehört dem Leben und nicht dem Tod. Zum Leben in einer wechselvollen Welt sagt Dōgen:

„Die Worte sind im Gleichgewicht, der Geist ist im Gleichgewicht, und die Welt ist im Gleichgewicht.“ 

Dōgen geht dann auf den Lernvorgang des Körpers ein und bezieht sich ganz konkret auf unseren jetzigen Körper, den wir jeweils haben. Das Körperliche ist unverzichtbar für den buddhistischen Weg und wird als wertvoll und äußerst wichtig angesehen. Hierin unterscheidet sich der Buddhismus von der westlichen Philosophie und auch von einigen idealistischen Religionen. Allerdings lehnt Dōgen die ausschließlich materialistischen und naturalistischen Strömungen ab, die den Genuss durch den Körper in den Mittelpunkt stellen. Die Vertreter solcher Strömungen behaupten, dass es keiner Übung und keines Lernvorgangs bedarf, weil man von Natur aus schon rein und frei sei. Dies ist mit der ethischen Lehre und dem moralischen Handeln im Buddhismus jedoch nicht vereinbar.

An anderer Stelle beschreibt Dōgen, dass „der Körper (von Meister) Nāgārjuna die Rundheit des Mondes und die Buddha-Natur“ ist.[iii] Der Körper offenbart den Buddha-Dharma im Gleichklang mit der Sprache der Dharma-Rede. Die helfenden Bodhisattvas werden zum Beispiel so im Lotos-Sūtra beschrieben, dass sie einen Körper annehmen, der jeweils bei der Hilfe für die anderen richtig und nützlich ist. Dadurch wird der Körper in den Dienst des Bodhisattva-Handelns gestellt, und dies überschreitet die Selbstsucht des Ich. Nach buddhistischer Vorstellung besteht der Körper auch aus den vier materiellen Elementen Erde, Feuer, Wasser, Luft und aus den fünf Komponenten des Menschen (skandhas). Aber Dōgen erweitert diesen Gedanken noch:

„Dies ist die Wahrheit, dass der wahre Körper des Menschen das ganze Universum der zehn Richtungen ist.“[iv]

Mit dem Körper handelt man selbst aktiv oder lässt etwas geschehen, das in die Umgebung und Situation eingebettet ist. Im Handeln selbst liegen die Wirklichkeit und Wahrheit, und man sollte sich vor doktrinären Bewertungen wie richtig oder falsch, echt oder falsch, Recht oder Unrecht usw. hüten. Am Ende dieses Kapitels zitiert er einen Meister mit folgendem Gedicht:

„Das Leben ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.

Der Tod ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.

Sie erfüllen den ganzen Raum.

Der reine Geist ist immer im Augenblick.“

Diese tiefgründigen Worte sollen wir laut Dōgen gründlich erforschen und erfahren. Sie beziehen sich nicht zuletzt auf das tägliche Handeln jedes Menschen, der in seine Pflichten und Aufgaben eingebunden ist. Dōgen rät uns dringend, alle erlernten verengenden Theorien und Doktrinen wieder abzuschütteln und unmittelbar im Gleichgewicht des Hier und Jetzt zu leben und ethisch zu handeln. Damit spricht er auch die Doktrinen an, die einen ātman oder eine unveränderliche Ich-Substanz annehmen. Wir müssen also den Substantialismus überwinden und zur Ruhe kommen lassen.



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 280ff.

[ii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 3, S. 302ff.

[iii] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 280ff.

[iv] ZEN Schatzkammer, Kap. 37, Bd. 2, S. 110ff.: „Die Wahrheit mit Körper und Geist erlernen (Shinjin gakudō)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 280ff.

Dienstag, 2. Mai 2023

Der Geist hier und jetzt ist Buddha und Natur

 

Im Kapitel Soko shin ze butsu des Shōbōgenzō grenzt Dōgen die buddhistische Lehre von der altindischen Philosophie und Doktrin des unveränderlichen ātman ab, die zur Zeit Gautama Buddhas beispielhaft von dem Brahmanen Senika vertreten wurde.[i] Mehrere Streitgespräche zwischen Buddha und Senika stellen die wesentlichen Kernpunkte der damals neuen buddhistischen Lehre der Veränderlichkeit und Wechselwirkung sowie den Befreiungsweg treffend dar und zeigen die Unterschiede zur Lehre des Brahmanismus und auch des falsch verstandenen Buddhismus auf.

Senika vertrat den Glauben, es gebe einen ewigen unveränderlichen Seelenkern, eine unveränderliche Existenz oder einen essenziellen unveränderlichen Geist im Menschen. Ein solcher substantialer, aber unsichtbarer Kern sei vom jeweiligen Körper unabhängig und würde durch die verschiedenen Wiedergeburten als unsichtbare unveränderliche Ich-Substanz von einem Körper zum anderen wandern. Dies sei die einzige große Wahrheit, die man leicht verstehen und erkennen könne, und allein durch diese Lehre vom ewigen unveränderlichen Geist würde man ohne Mühe und ohne anstrengende Übungspraxis sofort frei und glücklich werden. Das klingt wirklich verführerisch! Laut Senika kann diese unveränderliche Geist-Substanz zwischen Leid und Freude, Wärme und Kälte, Schmerz und Verwirrung unterscheiden. Sie sei vom Körper völlig unabhängig, absolut selbstständig und könne ohne Schwierigkeiten durch Wände und Materie wandern. Sie würde also nicht durch irgendwelche Dinge, zum Beispiel durch Materie und die materielle Umgebung, eingeschränkt oder behindert.

Senika zufolge durchdringt ein solcher ewiger Geist-Kern sowohl die Seelen der normalen als auch der heiligen Menschen. Habe man erst einmal das ganze Wissen dieses unveränderlichen selbstständigen Geistes erlangt, so sagt er, dann gäbe es keine Täuschungen mehr über Körper und Seele und keine Irrwege. Man erlange absolutes umfassendes Wissen, sei also allwissend. Dann sei man sofort und ohne Anstrengung frei und müsse nicht mehr leiden. Dadurch könne man auch sein eigenes ursprüngliches, spirituelles Ich-Bewusstsein klar erkennen. Diese geistige Essenz sei ewig und durchdringe alle Welten und alle Zeiten. Demgegenüber seien die Dinge dieser Welt und des Universums vergänglich, sie würden kommen und gehen und hätten keine Beständigkeit. Letztlich seien sie sekundär und auch von geringerem Wert.

Man könne diese Geist-Essenz auch das spirituelle Bewusstsein oder das wahre Selbst nennen. Wer diese ursprüngliche Essenz durch das große Wissen erlangt hat, kann gemäß Senikas Lehre in die Ewigkeit zurückkehren und ist nicht mehr gezwungen, im Kreislauf der Welt erneut unter Leiden wiedergeboren zu werden. Wenn dann der Geist in die Ewigkeit eingehe, sei der Leidenskreislauf von Leben und Tod endgültig beendet, und die Geist-Substanz gehe im unendlichen Ozean in der Essenz auf. Dies sind die Kernaussagen und der Glaube des Brahmanen.

Was sagt nun Meister Dōgen dazu, und wie kennzeichnet er demgegenüber die Lehre des Buddha-Dharma? Im achten Jahrhundert n. Chr. hatte der Buddhismus in China seine Blütezeit erreicht, die wesentlich auf den großen Meister Daikan Enō (Hui Neng) zurückzuführen ist, der ein sechster Nachfolger in China war. Die Kultur im nördlichen China hatte im Buddhismus einen besonders hohen Stand erreicht und unterschied sich damit von dem weniger entwickelten Süden, der damals auch Teile von Kambodscha und Vietnam umfasste. Dōgen berichtet, dass der Buddhismus im Süden weniger klar gewesen sei als im Norden und dass die Lehrmeinungen der sogenannten Meister oft der Lehre des Brahmanen Senika insofern bedenklich nahe gekommen seien, als der Geist oder die geistige Essenz einfach mit Buddha gleichgesetzt wurde. Dōgen lehnt diese Lehre mit Nachdruck ab und erläutert dies anhand des berühmten Satzes „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“. Es geht ihm dabei nicht um Glauben, Wünsche, abstrakte Vorstellungen und eine unsichtbare Geist-Essenz, sondern um die reale Wirklichkeit hier und jetzt, ob wir sie nun mögen oder nicht. Aber diese Wirklichkeit können wir entscheidend mitgestalten. Und eine Flucht aus der Wirklichkeit in schöne Wunschträume oder unbeherrschbare Ängste sei vor allem eine Ursache für das Leiden und die Schmerzen der Menschen. Dies betont nicht zuletzt auch der Psychologe Sigmund Freud.

Was bedeutet nun der zitierte Satz, dass der Geist hier und jetzt Buddha sei? In der Aufzeichnung eines Gesprächs des Nachfolgers von Meister Daikan Enō, der den Ehrennamen großer Landesmeister Daishō hatte und den Dōgen sehr hoch schätzte, wird die falsche oder zumindest sehr ungenaue Lehre des Buddha-Dharma aus dem Süden Chinas anhand der Aussagen eines reisenden Buddhisten wiedergegeben. Dieser erläuterte dem großen Landesmeister, dass die Dharma-Lehrer im Süden sagten, der Satz „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“ kennzeichne nur das Bewusstsein, aber nicht den Körper. Geist und Bewusstsein werden also gleichgesetzt und so konzipiert, dass sie vom Körper getrennt sind. Der Körper habe nur untergeordnete Bedeutung.

Ein solches Bewusstsein habe nach dieser Lehre die wesentliche Eigenschaft, dass es die Essenz des Sehens, Hörens, Wahrnehmens und des Wissens sei. Es steuere dabei exakt alle Handlungen des Menschen und vor allem sein Denken und werde daher auch das „wahre, allumfassende Wissen“ genannt. Die Handlungen und der Körper folgten mit absoluter Genauigkeit diesem Geist. Ein Mensch, der dies erreicht habe, sei daher allwissend. Dieses umfassende Wissen sei der große Buddha, und außer diesem wunderbaren Wissen gäbe es nichts anderes. Das Wissen sei also gemäß dieser Lehre das Höchste und zugleich die Essenz des Universums, und alles andere wie die Materie und der Körper seien dem untergeordnet und weniger wichtig. Der Geist und dieses Wissen seien unvergänglich und verlassen den Körper nach dem Tod. Dies gleiche einem Menschen, der einfach aus seinem brennenden, unbrauchbaren Haus fortgeht, oder einer Schlange, die sich häutet und die alte Haut zurücklässt, um eine neue zu benutzen.

Nach diesen Erläuterungen des Mannes aus dem Süden Chinas sah der große Landesmeister Daishō seine Meinung bestätigt, dass dort irrige Lehren des Buddha-Dharma verbreitet würden. Er bedauerte, dass dadurch die Schüler der jeweiligen sogenannten Meister in unklarer Weise unterrichtet würden und eine völlig falsche Richtung auf dem Buddha-Weg einschlagen müssten. Damit sei der wahre Buddha-Dharma im Süden verloren gegangen, und die Schüler seien in großer Gefahr, da die Überwindung des Leidens völlig verstellt sei. Im Gegensatz dazu überschreite die wahre Lehre gerade das Wissen, das Bewusstsein und die sinnlichen Wahrnehmungen wie Sehen, Hören, Fühlen usw. Allein mit dem intellektuellen Verstand oder mit unseren Sinnesorganen könnten wir die viel zu engen Grenzen des Denkens nicht überschreiten und hätten keinen Zugang zum wahren Buddha-Dharma. Die Lehre des Südens sei also das eigene zweifelhafte Wunschdenken, der einseitige subjektive Glaube und die Doktrin der dortigen Meister. Diese können die große unfassbare Wahrheit nicht annähernd ausloten, die von Gautama Buddha und den großen Vorfahren im Dharma gelehrt und übermittelt wurde.

Nishijima Roshi bezeichnet den Bereich des Denkens und der Ideen als Idealismus und den Bereich der Wahrnehmung und der Sinnesreize als Materialismus. Beide Lebensphilosophien sind für sich genommen zwar nicht ganz falsch, solange sie nicht verabsolutiert und dogmatisch verhärtet sind, aber sie sind einseitig und eindimensional und können der Vielfalt des wunderbaren wirklichen Lebens im Universum und dessen umfassender Wahrheit nicht gerecht werden. Wer sich also in seinem Leben nach einer dieser beiden einseitigen Lebensphilosophien richtet, wird nicht aus dem dauernden Kreislauf des Leidens und der oberflächlichen Scheinfreuden herauskommen, seien sie ideell oder materiell. Er klammert sich an einen Strohhalm, der bei ehrlicher Betrachtung überhaupt nicht tragen kann. Daher muss nach Nishijima Roshi unbedingt die dritte Lebensphilosophie des ethischen Handelns im Hier und Jetzt, also im gegenwärtigen Augenblick, hinzukommen. Die vierte, höchste buddhistische Lebensphilosophie umfasst dann die drei bereits genannten, geht aber darüber hinaus und wird Erwachen, Erleuchtung oder auch Leerheit genannt. Auf dieser höchsten Stufe gibt es die unbedingte Ganzheit und Harmonie mit der Ethik und den Gesetzen des Universums.

Wenn man den Geist nur im Sinne des Idealismus, also als Idee, und daher in einer sehr begrenzten Dimension versteht, kann auch der Satz „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“ nicht mehr umfassend verstanden werden. Hier bedeutet räumlich genau an diesem Ort, und jetzt bedeutet genau in diesem Augenblick. Dieser Ansatz ist auch die zentrale Aussage des Sūtra der Grundlagen der Achtsamkeit. Geist und Buddha sind nicht unabhängig von Raum und Zeit. Der Buddha-Dharma ist die Einheit von Theorie und Praxis und umfasst damit auch das Handeln und die Übungspraxis des Zazen im Hier und Jetzt. Er ist unauflösbar mit der Ethik verbunden und beinhaltet die Gegebenheiten der Wirklichkeit und Wahrheit, so wie sie sind. Der Buddha-Dharma überschreitet die ideologischen Extreme von „es ist“ oder „es existiert“ und „es ist nicht“ oder „es existiert nicht“. Dabei wird nichts durch Glaubensfantasien, spekulatives Denken und Illusionen hinzugefügt, aber auch nichts weggenommen, ausgewählt und selektiert.

Dies wird im Buddhismus mit einem klaren Spiegel verglichen, der alles reflektiert, was vor ihm erscheint, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. Es ist sicher kein Geheimnis, dass die Flucht der Menschen vor der Wirklichkeit und Wahrheit die Ursache der meisten geistigen und psychischen Leiden ist, die wir in der heutigen Zeit leider genauso beobachten wie früher. Dabei spielen die Massenmedien mit ihrer Berichterstattung und Werbung eine fatale Rolle. Auch die narzisstische Grandiosität des Ich ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Betroffenen haben den Zugang zur psychischen und sozialen Wirklichkeit verloren und leiden erheblich. Gautama Buddhas Lehre führt hinaus aus diesem Kreislauf des Leidens und öffnet uns für die umfassende Wirklichkeit.

Den wahren Buddha-Geist können wir also durch Denken allein nicht erfassen, sondern müssen ihn handelnd und meditierend erfahren und erforschen, wobei uns das Streben nach der Wahrheit wie ein Kompass auf den richtigen Weg führt. Dieser Geist ist weit mehr als das Denken, denn er umfasst laut Dōgen auch die Wirklichkeit des Bambus, der Berge, Flüsse, der Erde, der Sonne, des Mondes und der Sterne, also auch der Dinge, die wir im Allgemeinen nur als Form und aus materialistischer Sicht betrachten. Dieser im Buddhismus gemeinte umfassende Geist ist also das Leben und Sterben selbst, ist das Kommen und Gehen, die Zazen-Praxis und das alltägliche Leben. Der Zen-Buddhismus lehrt ganz klar, dass wir lernen müssen, unsere Vorstellungen, Ideen, unser Denken und unsere Begriffe von der Wirklichkeit selbst zu unterscheiden und beides nicht miteinander zu verwechseln. Dōgen sagt daher:

„Wenn wir den Willen (zur Wahrheit) niemals erweckt, das Praxis-Training niemals durchlaufen, den Bodhi-Geist niemals (verwirklicht) und Nirvāna niemals (erfahren) haben, dann gibt es keinen (Zustand) ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“

Dieser Wille zur Wahrheit müsse nur in einem einzigen Augenblick oder in einem einzigen Atom des Körpers vorhanden sein, damit er wirksam werden könne und sich der wahre Buddha-Geist verwirkliche. Dieser ist also viel umfassender als die sogenannte „Geist-Essenz“ des Brahmanen Senika und die Lehrmeinungen der damaligen sogenannten Meister im Süden Chinas. Der wahre Geist wird nicht zuletzt durch das Tun mit dem Willen zur Wahrheit im Einklang mit ethischem Handeln verwirklicht.

 



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 74ff.

Montag, 17. April 2023

Zazen ist Gleichgewicht und gibt neue Lebenskraft

 


Meister Kodo Sawaki

Im Zen werden für die Befreiung aus dem Leiden besondere Schwerpunkte auf das Handeln und die Meditation, Zazen, gelegt. Nicht alle Linien des Buddhismus betonen das achtvolle und ethische Handeln gleichermaßen wie der japanische Zen. Dies mag daran liegen, dass sich der Buddhismus in der späteren monastischen Abgeschiedenheit und an den buddhistischen Universitäten theoretisch und intellektuell zwar hoch weiterentwickelte aber das praktische Handeln den Laien überlassen wurde. Buddhismus ist ganzheitlich und nicht nur die Kultivierung des Geistes. Das bestätigt besonders der große indische Meister Vasubandhu. Im Augenblick zu handeln, ermöglicht jedoch die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit im Jetzt ohne hemmende oder verzerrende Doktrinen, ohne Blockaden durch Angst und ohne unrealistische Blütenträume für die Zukunft. Handeln und Zazen sind ist ein sehr wirksames Mittel, um das Leiden zu vermindern und zur Ruhe kommen zu lassen und das eigene Leben heilsam zu gestalten. Besonders bewährt beim Achtfachen Pfad zur Überwindung des Leidens hat sich die Zazen-Praxis.

 

Handeln auf dem Achtfachen Pfad – unser wahres Handeln im Gleichgewicht

Dieses Kapitel des Shōbōgenzō (Gyōbutsu-yuigi) enthält die wichtigsten Ausführungen Dōgens über das Handeln.[i] Damit ist es von zentraler Bedeutung für den Buddhismus überhaupt, den man auch die Religion des Handelns nennen kann, denn der Achtfache Pfad zur Überwindung des Leidens wird vor allem durch Handeln, Ausdauer, Achtsamkeit und Meditation gegangen. Das Leiden zu überwinden bedeutet auch, das Leiden zu verlernen und neue Wege der Befreiung und Emanzipation zu entdecken. Nishijima und Cross bringen es auf den Punkt: „Es war Gautama Buddhas historische Aufgabe, die Wahrheit vom Handeln zu finden. Dadurch konnte er die idealistische Religion des Hinduismus und die materialistischen Theorien der sechs Nicht-Buddhisten integrieren und auf eine neue Stufe heben.“[ii]

Handeln ist das Leben selbst, also die Wirklichkeit und Wahrheit. Ohne Handeln gibt es keine Wirklichkeit und kein menschliches Leben, und man kann dem Leiden nicht entkommen. Sowohl das Denken als auch die Wahrnehmung sind mehr oder minder fehlerbehaftet und nur ein Teil oder Schatten der Wirklichkeit. Denken und Reden können sich von der Wirklichkeit völlig ablösen, und auch die sinnliche Wahrnehmung ist voller Täuschungen und Ungenauigkeiten. Das gilt auch und gerade für die Phänomenologie des Leidens. Nicht umsonst wird in den Naturwissenschaften eine ausgefeilte Methodik verwendet, um die Beobachtungen der empirischen Wirklichkeit gegenüber Fehlern und Ungenauigkeiten soweit wie möglich abzusichern. Denken und Wahrnehmung stellen immer nur Teildimensionen der Wirklichkeit dar.

 

Die heilende Bambusnadel des Zazen, richtig gesetzt

Bereits im alten China wurde die Akupunktur zu medizinischen Zwecken eingesetzt. Man verwendete dafür spitze Bambusnadeln.[iii] Der japansche Begriff für „Nadel“ lautet shin. Im übertragenen Sinn ist damit auch die Heilung von Körper-und-Geist gemeint, und nicht zuletzt bezeichnet shin eine Praxis, die den Menschen von physischen, psychischen und mentalen Leiden und Unwohlsein befreit – im Zen-Buddhismus also die Meditationspraxis des Zazen.

Außerdem verwendet man das Wort shin für kurze, markante Sätze und vor allem für Verse der buddhistischen Lehre, die in der Lage sind, den Menschen direkt zu helfen und einen Wandel zum Besseren herbeizuführen.

Dōgen zitiert und kommentiert im Kapitel Zazenshin ein berühmtes Kōan-Gespräch, das im Folgenden geschildert wird.

 

Ein Kōan-Gespräch mit Meister Yakusan Igen

Der große Meister Yakusan Igen (745–828) saß im Zazen, als ein Mönch ihn fragte: „Was denken Sie im stillen, stillen Zustand?“

Die Bedeutung des von Dōgen hier für den Zustand des Zazen benutzten japanischen Wortes Gotsu-gotsu-chi[iv] lässt sich am ehesten durch den Ausdruck „bewegungslos auf einem hohen Niveau“ wiedergeben. Der japanische Begriff bezeichnet ursprünglich einen majestätischen Tafelberg, der oben abgeflacht ist. Damit wird der Zustand des Gleichgewichts in der Zazen-Praxis beschrieben und gleichzeitig deren starke Kraft und ruhige Ausstrahlung gekennzeichnet.

Yakusan Igen antwortete dem Mönch mit einer der berühmtesten Aussagen des Zen-Buddhismus: „Den konkreten Zustand des Nicht-Denkens denken.

Der Meister benutzt in seiner Antwort ebenfalls den Begriff „denken“, aber er setzt ihn mit dem Zustand seines „Nicht-Denkens“ gleich. Das klingt zunächst paradox. Im Klartext heißt dies meines Erachtens: Der Mönch glaubt, dass der Meister etwas im erleuchteten Zustand denkt, während der Meister sagt, dass er nicht wie üblich denkt. Da der Mönch diese Antwort nicht verstand, fragte er weiter: „Wie kann der Zustand des Nicht-Denkens gedacht werden?“ Der Meister erwiderte darauf kurz und bündig: „Es ist Nicht-Denken.“

Das ist eine klare und eindeutige Antwort: Er denkt nicht im Zazen! Der Meister will damit das idealistische Denken des Mönchs ausschließen, das sich oft in wunderbaren Zuständen verliert und von dem realistischen, ganz konkreten Zustand des Hier und Jetzt wegführt, der so gar nicht vollkommen ist. Und er sagt damit, dass unser Leiden häufig durch Doktrinen und emotionalisiertes Denken erzeugt wird. Bei dem Begriff „stillen, stillen Zustand“ besteht bei dem Mönch die Gefahr, sich romantisierenden Vorstellungen hinzugeben und von einer ganz und gar heilen Welt im Zustand des Zazen zu träumen, der diese „böse, unvollkommene Welt“ überwunden hat. Er ist nicht im Augenblick, in dem „es ist, wie es ist“, ohne etwas durch verengte oder verengende Doktrinen und Konzepte wegzulassen oder hinzuzufügen.

An dieser Stelle verweisen Nishijima und Cross[v] auf ein Kōan, das in Dōgens Kōan-Sammlung Shinji Shōbōgenzō[vi] enthalten ist und von Nishijima kommentiert wurde. Der Inhalt ist identisch mit dem obigen Kōan. Nishijima Roshi erläutert hierzu, dass der Mönch seine Frage an den Meister aufgrund seiner eigenen idealistischen Vorstellung formuliert. Dieser erwidert, dass er das Nicht-Denken denkt und will damit ausdrücken, dass er nicht ideologisch zielgerichtet oder absichtsvoll zum Beispiel über eine spirituelle Frage nachdenkt. Seine Antwort ist natürlich auch ein gewisser Widerspruch in sich, denn entweder man denkt, oder man denkt nicht, beides ist nicht im selben Augenblick möglich und führt zu großen Verwirrungen, die unseren Geist spalten. Der Meister sagt, dass sich dieser Zustand vom Denken grundsätzlich unterscheidet, weil er einfaches Handeln ist, ohne ein uns bedrängendes ideelles, materielles und Angst erzeugendes Problem lösen zu wollen. Das Wortpaar Denken und Nicht-Denken ist sogar ungeeignet, um die Zazen-Praxis zu beschreiben; weder das eine Wort noch das andere kann das Handeln im Zazen wirklich erfassen. Das Wesentliche des Zazen ist einfach zu sitzen – Shikantaza. Es ist kein wunderbares, mysteriöses Denken aus einer angeblichen ganz neuen Tiefendimension des Bewusstseins, aus einem Ur-Wesen oder Ur-Zustand, wie manche Zen-Buddhisten fälschlich vermuten und bedeutungsvoll verkünden. All das führt früher oder später in die Sackgasse und ins Leiden. Diese Meditation führt auch nicht zur Allwissenheit, weil diese dem Menschen überhaupt nicht zugänglich ist.

Nishijima Roshi fügt hinzu, dass beim Zazen realistisch betrachtet durchaus irgendwelche ungesteuerten Gedanken im Bewusstsein auftauchen können, die jedoch wieder von alleine verschwinden, wenn wir uns nicht auf sie fixieren. Es sollen aber keinesfalls absichtsvolle, unterscheidende Gedankenoperationen durchgeführt werden, die mit ungesteuerten Affekten verbunden sind. Besonders emotionale Extreme müssen vermieden werden, da sie sehr schnell zum Leiden führen. Vor allem sollen die Gedanken oder Gefühle nicht vom starken Willen angetrieben werden. Die möglichen Gedanken im Zazen kommen, ziehen durch das Bewusstsein und lösen sich wie Wolken am Himmel wieder auf. Sie hinterlassen in der Psyche keine eingegrabenen Spuren. Zazen ist nichts als Sitzen, die Meditation der Leerheit und niemals denkerische Arbeit, es ist jenseits vom Denken. Zazen ist gegenstandslose Meditation. Je länger und natürlicher man im Zazen sitzt, desto leichter verschwinden die aufsteigenden Gedanken.

Im Kern heißt dies, dass durch die Zazen-Praxis verhindert wird, dass wir in unsinnige Ideenwelten oder unrealistische Illusionen abgleiten und uns von der Wirklichkeit mehr und mehr entfernen. Dabei geht es vor allem darum, die drei Gifte Gier, Hass und Verblendung zu vermeiden, denn sie bedeuten immer Leiden. Aber auch die Zazen-Praxis selbst darf nicht romantisch verklärt und idealisiert werden, wie es dem Mönch passiert, wenn er vom „stillen, stillen Zustand“ spricht. Wir können sicher davon ausgehen, dass seine eigenständigen, praktischen Erfahrungen des Zazen nicht weit gediehen und noch durch Denken verzerrt sind. Er sitzt noch nicht in der Wirklichkeit selbst, er ist beim Sitzen noch in der Denk-Welt von Doktrinen verhaftet.

Ich möchte hinzufügen, dass idealistische Doktrinen sich außerdem allzu leicht in Ideologien verkehren und dadurch große Gefahren für die Menschen heraufbeschwören. Gerade durch die konkrete Zazen-Praxis als einfaches Handeln lösen sich derartige Gedankennester, Emotionen, unheilsame Doktrinen und moralische Scheinwelten auf, und wir bekommen einen direkten Zugang zur Wirklichkeit und erhalten auf diese Weise mithilfe der Zazen-Praxis einfache Lösungen unserer Lebensprobleme. Dōgen betont:

„Wir sollten in der Praxis das wahrhaft stille Sitzen lernen, und wir sollten die authentische Übertragung des wahrhaft stillen Sitzens empfangen.“

Das heißt, dass es nicht möglich ist, nur durch Überlegungen und Theorien den Fesseln und Blockaden unseres Lebens und dem Leiden zu entkommen. Nach Dōgens eigener tiefer Erfahrung ist der Buddhismus ohne die Zazen-Praxis überhaupt nicht zu erlernen und tatsächlich zu leben. Das Sitzen im Zazen sollen wir deshalb genauer untersuchen und selbst einüben:

„Dies ist die Untersuchung des bergstillen Sitzens, das im Buddhismus (authentisch) übertragen wurde.“

Die vertiefte Untersuchung des Zazen ist also beim Sitzen als einfaches direktes Handeln ohne Doktrinen selbst zu leisten. Unser bewusster Verstand kann nur einen kleinen Teil dazu beitragen. Es geht um das Lernen in einer bewährten Übertragungslinie, in der die Erfahrung der alten Meister unmittelbar wirksam ist, ohne in Doktrinen und Ideologien zu verfallen. Es macht keinen Sinn, nur über die Zazen-Praxis nachzudenken und sich in sie noch so achtsam einzufühlen oder klug über sie zu reden. Man muss Zazen praktisch ausführen, denn nur so entstehen die positiven Wirkungen, die sich im Lauf der Übungspraxis immer weiter verfeinern, vertiefen und verstärken. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.

Die Antwort von Meister Yakusan Igen – „Den konkreten Zustand des Nicht-Denkens denken“ – verweist also nicht auf das unterscheidende, dualistische Denken in der herkömmlichen Form, das auf das denkende Gehirn beschränkt ist, sondern auf eine Vernunft und Klarheit, die unauflösbar mit der Zazen-Praxis selbst verbunden ist. Ich bezeichne es gern als mitlaufendes Bewusstsein, das gewissermaßen im Hintergrund bleibt und zum Beispiel auch beim Sport oder beim Spielen der Shakuhachi-Flöte vorhanden ist. Es handelt sich dabei um einen ganzheitlichen Körper-und-Geist-Zustand, den Dōgen als „bergstill“ bezeichnet. Mit diesem Bild soll die beeindruckende und ausgeglichene Situation eines Menschen beschrieben werden, der zur Ruhe gekommen ist und einem in sich ruhenden Tafelberg gleicht. Dies ist aber kein statischer, starrer Zustand, der keinerlei Veränderungen und Bewegungen kennt, denn in dem berühmten Kapitel „Das Sūtra der Berge und Wasser“[vii] erläutert Dōgen, dass auch die Berge sich dauernd bewegen. Durch eine solche Meditation werden gerade Prozesse der Veränderung und Emanzipation nachhaltig gefördert, während sich Angst und Leiden fortlaufend vermindern.

Durch die Zazen-Praxis öffnet sich der bisher nur isoliert denkende Geist zum intuitiven ganzheitlichen Wissen und Handeln. Dōgen sagt gerade nicht, dass Zazen ohne Bewusstsein und ohne Geist praktiziert wird – ein Irrtum, dem leider sogar einige Zen-Gruppen unterliegen. Auch Nishijima Roshi hat eine klare Meinung zu diesem Punkt: „Wir sind nur dann ohne Bewusstsein, wenn wir ohnmächtig oder tot sind“, so seine klaren Worte in einem persönlichen Gespräch mit mir im Jahr 2006. Er bezeichnet die Zazen-Praxis als reines und wahres Handeln im Gleichgewicht, im Augenblick und vor allem in der Wirklichkeit, ohne Mythos und Ideologie.

 

Denken im Zustand des Nicht-dualen-Denkens

Im Folgenden erläutert Dōgen selbst die Aussage von Meister Yakusan Igen[viii] „Den konkreten Zustand des Nicht-Denkens denken“.

Laut Dōgen geht es bei dieser Art des geistigen Handelns gerade nicht um den isolierten Verstand, sondern um die Einheit mit „Haut, Fleisch, Knochen und Mark“. Diese Aussagen zum Körper hängen unauflösbar mit dem ganzheitlichen „Denken des Nicht-Denkens“ zusammen und beschreiben die Dharma-Übertragung Bodhidharmas an seine vier Schüler am Anfang der Entwicklung des Zen-Buddhismus in China. Der klare intuitive Geist auf der Basis des Nicht-Denkens ist für Dōgen von zentraler Bedeutung bei der Zazen-Praxis.

Der scheinbare Widerspruch in Yakusan Igens Antwort lässt sich auf der nur logischen und verbalen Verstandesebene jedoch kaum erklären und auflösen. Ich vermute, dass er absichtlich einen scheinbaren Gegensatz formuliert, damit wir die Grenzen des unterscheidenden Denkens selbst erleben. Ein solcher pädagogischer Ansatz wird bei den Kōans im Zen-Buddhismus häufig angewendet. Es geht um ein umfassendes Tun von Körper-und-Geist bei der Zazen-Praxis, das genau im Augenblick stattfindet. Aus diesem Grund ist der isolierende Verstand nicht in der Lage, den Zustand vollständig und umfassend zu denken. Nishijima Roshi erläutert dazu, dass der Augenblick zu kurz für das verstandesmäßige Analysieren des Zustandes ist und dass genau im Augenblick die Einheit des Menschen mit der Wirklichkeit stattfindet. Im Kapitel über die Sein-Zeit hat Dōgen diese unauflösbare Verbindung von Wirklichkeit und Augenblick tiefgründig und ausführlich dargelegt.[ix] Er bedauert, dass so viele Menschen den Kern der Zazen-Praxis nicht verstehen:

„Und warum verstehen (die Menschen) den still-stillen Zustand, der jenseits (von Denken und Nicht-Denken) ist, nicht.“[x]

Dōgen wertet die oben zitierte Frage des Mönchs, wie es denn möglich sei, den Zustand des Nicht-Denkens zu denken, als wichtigen Indikator dafür, dass der Buddhismus in jener Zeit in China auf sehr hohem Niveau war. Gleichzeitig deutet er an, dass in seiner eigenen Zeit eine solche tiefgründige Frage überhaupt nicht gestellt werden könnte, weil der Buddhismus schon im Niedergang war. Dann erläutert er, dass wir das Nicht-Denken praktizieren, wenn wir im Zazen sitzen. Ein solcher Zustand, in dem wir frei von störenden und beunruhigenden Gedanken, Emotionen und vordergründigen Absichten sind, stellt sich automatisch ein, wenn wir die richtige Sitzhaltung des Zazen eingenommen haben und zur Ruhe und zum Gleichgewicht gekommen sind. Dies sollte jedoch nicht mit großer Willenskraft und Gewalt herbeigeführt werden, sondern sich natürlich ereignen, was tatsächlich möglich ist.[xi] Andernfalls wird gerade verhindert, dass wir die Zazen-Praxis als „Tor zum Frieden und zur Freude des Buddha-Dharma“ und damit zur Überwindung des Leidens erleben und erfahren können.

„Im Nicht-Denken gibt es jemanden, und (dieser) jemand bewahrt mich und beruht auf mir. Der still-stille Zustand ist nicht nur (intuitives) Denken, obgleich er das Selbst ist: Er hält den Kopf des still-stillen Zustandes empor.“

Hiermit beschreibt Dōgen aus eigener tiefer Erfahrung und sicher im Grenzbereich dessen, was überhaupt mit Worten gesagt werden kann, den Zustand in der Zazen-Praxis: Im nicht-dualistischen „Denken“ ist etwas, das mich als Menschen wesentlich ausmacht, mich bewahrt und das gleichzeitig auf mir selbst beruht. Ich bezweifle übrigens, ob der einseitige Geist überhaupt den Dualismus wirklich überwinden kann. Diese Überwindung ist aber von zentraler Bedeutung für die Befreiung und Emanzipation des Menschen. Nicht umsonst ist die Meditation und insbesondere die vierte Vertiefung der Leerheitsmeditation des Zazen notwendiges Glied des Achtfachen Pfades. Obgleich der still-stille Zustand nach Dōgen das umfassende Selbst ist, ist er gerade nicht auf das Denken beschränkt. Dieser Zustand im Gleichgewicht „hält den Kopf hoch“. Mit dieser Formulierung sollen meines Erachtens der körperliche Zustand der aufrechten Kopfhaltung bei der Zazen-Praxis und der Zustand jenseits des begrenzten unterscheidenden Denkens miteinander verbunden werden. Dieser Zustand des Gleichgewichts, den Dōgen still-still nennt, ist unser wahres Leben.

Aber wie kann dieser Zustand des Gleichgewichts sich selbst denken? Das klingt recht kompliziert. Ich verstehe es so, dass es ein wahres, natürliches, fast mysteriöses, aber doch klares Selbst im Menschen gibt, auf das wir vertrauen und das die Grundlage unseres Lebens und Handelns ist. Aber es ist nicht der isolierte unveränderliche ātman der vorbuddhistischen Zeit. Ein solches Selbst kann auch als Buddha-Natur bezeichnet werden, die gerade keine dinghafte Entität ist, sondern Handeln, Bewegung und Prozess: die Ganzheit von Ruhe und Bewegung. Es ist für mich das wunderbare Es, das uns jäh begegnet.[xii] Es verwirklicht sich erfahrungsgemäß besonders klar und auf wunderbare Weise in der Zazen-Praxis, in der wir das verstandesmäßige Denken mit seinen endlosen Gedankenketten verlassen und die Vorstellung und sogar den Willen zum Nicht-Denken überschreiten.[xiii] Dann macht das Leiden eine Pause. Weil dieser still-stille Zustand in unfassbarer Weise im Augenblick da ist, handelt es sich um unsere eigene Wirklichkeit, in Klarheit und Ganzeit. Diesen still-stillen Zustand des Gleichgewichts kann man sicher als göttlich bezeichnen, denn er ist sowohl unser wahres Leben als auch die Ganzheit mit dem Universum, mit anderen Lebewesen und dem Göttlichen.

Dōgen beantwortet dann seine eigene Frage, wie der still-stille Zustand denken kann:

„Der still-stille Zustand ist jenseits der intellektuellen Kapazität von Buddha, jenseits der intellektuellen Kapazität des Dharma, jenseits der intellektuellen Kapazität des Zustandes der Verwirklichung und jenseits der intellektuellen Kapazität, sich selbst zu verstehen.“

Hier grenzt er den Zustand des Zazen sogar vom intellektuellen Denken Buddhas, des Dharma, also der Lehre der Wahrheit und Wirklichkeit, und auch vom denkenden Zustand der Verwirklichung des Erwachens oder der Erleuchtung ab. Das heißt nichts anderes, als dass das dualistische Denken ungeeignet ist, um die volle Wirklichkeit Buddhas, seiner Lehre des Erwachens und unseres wahren Lebens zu erfassen.

Wir müssen uns allerdings davor hüten, den Zen-Buddhismus als anti-intellektuell einzustufen und zu meinen, dass die Vernunft beim Zen-Weg abgeschafft werden müsste und wir dadurch das Leiden überwinden könnten. Das Gegenteil ist richtig. Denn allein die 95 Kapitel des Shōbōgenzō verlangen von uns nicht unerhebliche geistige Anstrengungen. Wir müssen daher unsere verstandesmäßigen Möglichkeiten trainieren und so weit wie möglich ausschöpfen, um uns die von Dōgen beschriebene Lehre des Zen-Buddhismus erarbeiten zu können.

Im Kapitel „Das Sūtra der wirklichen Berge und Wasser“[xiv] distanziert sich Dōgen mit ungewöhnlich scharfen Worten von buddhistischen Gruppierungen, die den Zen generell für unlogisch erklären und behaupten, er sei mit der Vernunft in der Welt nicht zu vereinbaren. Das ist gerade nicht der Befreiungsweg Buddhas. Es handelt sich dabei aber um eine intuitive Vernunft und nicht um eine auf den unterscheidenden Verstand begrenzte intellektuelle Fähigkeit, die sich vom Körper, von den Gefühlen, der Psyche, der Ethik und vor allem von der Intuition entfernt hat. Eine solche Isolation des Geistes ist in der westlichen Philosophie, die auf den griechischen Philosophen aufbaut, durchaus üblich. Im Buddhismus kennen wir diese Abgrenzung und Einseitigkeit des Denkens jedoch nicht und halten es sogar für gefährlich, wenn die Einheit von Körper-und-Geist verloren geht. Nicht zuletzt dadurch ist die buddhistische Lehre so realitätsnah und nützlich für unser praktisches Leben.

 

Das natürliche Verschwinden der Gedanken und Gefühle

Dōgen kritisiert diejenigen buddhistischen Gruppen, die beim Zazen mit Anstrengung und Willenskraft ihren Geist massiv unter Druck setzen wollen, um den so sehr erstrebten Frieden zu erlangen. Er nennt diese Menschen töricht und unzuverlässig und benutzt für sie einen chinesischen Begriff, der im alten China für Autoren verwendet wurde, welche die Regeln der dichterischen Literatur verletzten. Wir würden sie heute wohl als „Pfuscher“ oder „Dilettanten“ bezeichnen. Als Beispiel für ihre falschen Ansichten zitiert Dōgen die folgende Aussage: „(Allein) in der Anstrengung des Zazen ist alles (vollständig enthalten), um den Frieden des Geistes zu erlangen. Genau dies ist der Zustand der Ruhe.“

Nur die Anstrengung wird hier also als das zentrale Moment verstanden und nicht der befreite Zustand und das erfüllte Handeln selbst. Das würde bedeuten, dass schon die willensmäßige Anstrengung ausreicht, um den Geist zu beruhigen und das Leiden in unserem Leben zu beenden. Aber Dōgen macht deutlich, dass dadurch ganz im Gegenteil das wahre Gleichgewicht und der Frieden verhindert statt ermöglicht werden. Vor allem gibt es dabei keine Entwicklung und Emanzipation des Menschen. Eine solche Willensanstrengung ist idealistische Doktrin und verfehlt daher das Ziel eines natürlichen Zustandes bei der Zazen-Praxis. Der Praktizierende hat dabei eine vorgefasste, mentale Absicht und setzt seine Kraft und seinen Willen ein, um alle Gedanken und die Vernunft mit Gewalt in seinem Geist zu töten – ein sehr unnatürlicher Zustand. Die Verminderung und Auflösung des Leidens kann damit nicht gelingen. Der Begriff „absichtslos“, der im Buddhismus verwendet wird, bedeutet dagegen, dass wir ohne Doktrinen handeln und ohne Einengungen denken. Die mentale Absicht kann unmöglich einen dauerhaften Zustand des Gleichgewichts von Körper und Geist erreichen. Der so erzielte Zustand des Friedens bleibt labil und an der Oberfläche, ist zeitlich begrenzt und verkrampft durch die Anstrengung. Meist schlägt er sogar in das Gegenteil um oder erzeugt spirituelle Arroganz und narzisstische Überheblichkeit.

Wir sollten die Gedanken und Gefühle beim Zazen zunächst einfach kommen und gehen lassen, weil sie bei richtiger Sitzhaltung und entspanntem Geist ohnehin schon bald an Energie verlieren. Sie beunruhigen uns dann nicht mehr, regen uns nicht auf und verschwinden schließlich ganz von selbst. Dōgen bezeichnet diesen Zustand auch als Shikantaza, was wörtlich übersetzt „nichts als Sitzen“ heißt. Schon diese Bezeichnung macht klar, dass es nicht um Willensanstrengungen, Beeinflussung oder Manipulation des Geistes oder des Denkens geht. Wir brauchen zwar Kraft, um regelmäßig jeden Tag Zazen zu praktizieren, aber wir müssen dann beim Sitzen keine übermäßige Willensenergie einsetzen, um den von Gedanken und Emotionen freien Zustand herbeizuführen. Es geht auch nicht um erlerntes unselbstständiges Wissen.

Zweifellos gibt es im Buddhismus sinnvolle Meditationspraktiken, die darauf abzielen, bestimmte heilsame Vorstellungen, Gedankengänge und Erkenntnisbereiche zu erarbeiten. Sie werden zum Beispiel im Sūtra über die Achtsamkeit[xv] von Gautama Buddha selbst beschrieben. Aber sie sind nicht identisch mit der Zazen-Praxis des Shikantaza!

Dōgen wendet sich dann gegen einen weiteren fundamentalen Irrtum im Zusammenhang mit der Zazen-Praxis und führt wieder ein entsprechendes Zitat an: „Im Zazen zu sitzen, ist (zwar) die zentrale Praxis für Anfänger und fortgeschrittene Lernende, um nach der Wahrheit zu streben. Aber es ist nicht notwendigerweise das Handeln der buddhistischen Meister und Vorfahren im Dharma. Für sie ist (schon) das Gehen Zen und das Sitzen auch Zen(-Praxis). Beim Reden und Schweigen, in Bewegung und Ruhe fühlt sich der Körper wohl. Bringe (die großen Meister) nicht ausschließlich mit dieser Anstrengung (des Zazen) in Verbindung.“[xvi]

Demnach wäre die Zazen-Praxis nur für Lernende, Anfänger oder vielleicht für einige Fortgeschrittene wichtig, nicht aber für erleuchtete Meister und die großen Vorfahren im Dharma, da sie permanent im höchsten Zustand des Gleichgewichts, also der Erleuchtung, leben würden. Ich kenne selbst einige sogenannte Meister, die behaupten, dass sie nicht mehr meditieren und Zazen praktizieren müssten, da sie bereits erleuchtet seien. Dōgen kritisiert eine solch dreiste Behauptung scharf und betont, dass gerade die Meister täglich Zazen praktizieren müssen. Nishijima Roshi vertritt ebenfalls diese Ansicht und hält Lehrer oder Meister, die nicht mehr praktizieren, für unzuverlässig und selbstgefällig. Ich kann mich dem nur anschließen. Er praktizierte jeden Morgen 45 und jeden Abend 30 Minuten.

Was ist ein Anfänger-Geist? Und was ist ein erfahrener Geist? Der Anfänger-Geist ist vielleicht viel offener für die große Wahrheit und lebendige Befreiung als der Geist des erfahrenen und oft selbstgerechten Experten. Die Zazen-Praxis ist laut Nishijima Roshi auch für Einsteiger die erste Erleuchtung.[xvii] Dōgen verdeutlicht dies so:

„Der (entscheidende) Punkt ist in manifester Form, dass der handelnde Buddha, der nicht erwartet ein Buddha zu werden, (wirklich) gegenwärtig ist. Weil der handelnde Buddha vollständig jenseits vom (erdachten) Buddha-Werden ist, wird das Universum verwirklicht.“ (...) „Der Körper-Buddha ist vollständig jenseits vom (erdachten) Buddha-Werden. (Aber) wenn die Netze und Käfige (der Täuschungen) zerrissen sind, hindert der sitzende Buddha überhaupt nicht den werdenden Buddha.“

Mit diesen scheinbar gegensätzlichen Aussagen unterstreicht Dōgen in seiner typischen Ausdrucksweise, dass es nicht auf das bewusste Ziel ankommt, ein erträumter Buddha zu werden und dafür gewaltige bewusste Anstrengungen aufzuwenden, sondern dass die Zazen-Praxis im Sitzen selbst das entscheidende Handeln ist, das wir Buddha nennen können. Und das bedeutet, den Achtfachen Pfad zu beschreiten. Dōgen betont dabei das Handeln und den Körper Buddhas in besonderer Weise und macht damit deutlich, dass es sich gerade nicht um einen idealistischen, „geistigen“ Buddha handelt, der durch Erwartungen und Doktrinen verzerrt und verstümmelt ist.

Von zentraler Bedeutung ist bei dieser Lehre des Zazen, dass sich der Zustand des Gleichgewichts und Erwachens von selbst einstellt, wenn wir richtig Zazen praktizieren. Bei jeder mentalen Idee, Anstrengung und Doktrin, ein Buddha zu werden und die Erleuchtung zu erzielen, wird jedoch gerade diese einfache Naturhaftigkeit verhindert, und es entsteht kein Gleichgewicht von Körper-und-Geist.

Wenn im alten China von Netzen und Käfigen die Rede war, meinte man damit einen in seinen Ideologien, Vorstellungen, Depressionen, Täuschungen und Doktrinen gefangenen Geist und Körper. Emotionale Blockaden, Verdrängungen, Abwehrmechanismen und Bewertungen machen den Menschen unfrei und schränken seine Handlungsfähigkeit ein. In diesem Zustand ist es fast unmöglich, das Wesentliche zu tun oder auch nur zu erkennen. Das Wesentliche ereignet sich beim Zazen:

„Genau in diesem Augenblick ist die Kraft ursprünglich anwesend, um durch Tausende von Zeitaltern und Zehntausende von Zeitaltern (in den Zustand des) Buddhas einzugehen oder (umgekehrt (!) der) Dämonen einzugehen.“

Was meint Dōgen mit diesem radikalen, kompromisslosen Satz? Er spricht die Kraft der Befreiung und Emanzipation an. Den Augenblick der Praxis beim Zazen hebt er im zweiten Teil dieser Aussage besonders hervor. Genau im Augenblick erscheint die ursprüngliche Kraft und Energie der Zazen-Praxis. Wenn ein solches Handeln gelingt, gehen wir in den Buddha-Zustand des Gleichgewichts ein. Das ist die Buddha-Natur. Wenn das ethische Handeln aber nicht gelingt, fallen wir mit großer Gewalt in den Zustand der Dämonen. Wir geraten dann in Unklarheiten, Verwirrungen und Täuschungen und werden vielleicht ein fanatischer Anhänger menschenverachtender Ideologien. Dōgen beendet diesen Abschnitt mit folgendem Zitat:

„Die Schritte vorwärts und die Schritte rückwärts besitzen direkt die Fähigkeit, Gräben zuzuschütten und Täler aufzufüllen.“

Ich interpretiere diesen Satz so, dass der Weg des Buddhismus ein aktives Vorwärtsschreiten oder ein aufmerksames und rückwärtsgerichtetes Bewegen ist. Auf dem Buddha-Weg können sogar Rückschritte auftreten, die sich aber letztendlich als ganz wichtig erweisen und überwunden werden, wenn wir unverdrossen weitergehen. Dadurch können die Gräben der Ideologien, Täuschungen, Vorurteile und Doktrinen zwischen den Menschen und Völkern eingeebnet werden, sodass diese zueinander finden und gemeinsam die schweren Aufgaben des Lebens bewältigen. Selbst eine menschliche oder gesellschaftliche Kluft, die so breit wie ein Tal sei und Leiden der Abgrenzung und Einsamkeit erzeugt, könne auf diese Weise behoben werden. Das ist heute im Zeitalter der Globalisierung wichtiger denn je, denn es existieren immer noch Gräben in den Köpfen und versteinerten Herzen der Menschen.

 

Dōgens Gedicht zum Zazen

Am Ende des Kapitels verfasst Dōgen ein Gedicht und beschreibt darin die einzigartige Kraft der Zazen-Meditation aus eigenem Erleben. Sie sei die heilende Bambus-Nadel, die das Leiden zur Ruhe bringt und das Herzstück des Zen-Buddhismus auf dem Weg der Befreiung von Leiden und Schmerzen für Anfänger, Fortgeschrittene und Meister. Dōgens Gedicht „Zazenshin“ lautet so:

„Zentrale Kraft eines jeden Buddhas.

Lebendiger Kern jedes wahren Meisters.

Jenseits des Denkens, Verwirklichung,

jenseits der Komplikation, Verwirklichung.

Jenseits des Denkens, Verwirklichung.

Die Verwirklichung ist natürlich und unmittelbar.

Jenseits der Komplikation, Verwirklichung.

Die Verwirklichung ist natürlich und ein Zustand der Erfahrung.

Die Verwirklichung ist natürlich und unmittelbar.

Es gab keine Beschmutzung.

Die Verwirklichung ist natürlich und ein Zustand der Erfahrung:

Es gab kein Richtiges und keine Abweichung.

Es gab keine Beschmutzung des Unmittelbaren.

Jenes Unmittelbare hängt von nichts ab, schon wird es frei.

Es gab kein Richtiges und keine Abweichung in der Erfahrung:

Der Zustand der Erfahrung ist ohne Plan, aber er macht Anstrengung.

Das Wasser ist rein, ganz bis zum Grund,

Fische schwimmen wie Fische.

Der Himmel ist weit, klar bis zum Himmel.

Und Vögel fliegen wie Vögel!“

 

Mit poetischer Kraft unterstreicht Dōgen in seinen Versen noch einmal die außerordentliche Wichtigkeit, im Zazen zu sitzen und zu praktizieren. Dies ist das zentrale Anliegen und Tun der Kinder und Enkel der großen buddhistischen Vorfahren im Dharma: „Dies ist das authentische Siegel, das empfangen und weitergegeben wird, von einem-zum-anderen.“

Zazen ist die direkte Verwirklichung und zugleich die Befreiung vom Leiden der Menschen. Diese Praxis sei einfach und erzeuge auch keine Komplikationen und geistigen Verwirrungen in unserem Leben. Sie ist nichts Künstliches, das zufällig entstanden ist und von uns in dieser Form gelernt wird, sondern sie ist natürlich und von unmittelbarer Direktheit. Sie ist keine ideologische Erfindung falscher Gurus, sondern kann ganz einfach von jedem Menschen sofort erfahren und erlebt werden. Wer keine eigenen praktischen Erfahrungen des Zazen habe, könne deshalb diese Praxis nicht erahnen, nicht beschreiben und nicht schätzen, betont Dōgen.

Bei der wahrhaftigen Zazen-Praxis gab es laut Dōgen niemals Verschmutzung, und es wird sie auch niemals geben. Da die Zazen-Praxis keine einseitige Ideologie ist, besteht dabei keinerlei Abhängigkeit von irgendetwas, auch nicht von einem Menschen, sondern sie ist von Anfang an frei, ohne dass es jedoch einen Anfang gibt, der als Start zur mental angestrebten Erleuchtung verstanden werden könnte. Daher existieren auch keine vordergründige Absicht und kein willentliches Erstreben des Zustandes der Erleuchtung. Aber es ist unbedingt erforderlich, sich beim Zazen anzustrengen, intensiv zu praktizieren und die genaue Sitzhaltung einzunehmen. So wird die Einheit von Körper-und-Geist erfahren, das ist bereits die erste Erleuchtung. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist die Überwindung und Befreiung von unnötigem Leiden und unnötigen Schmerzen und eine Heilung wie durch eine Bambus-Nadel.

 



[i] Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 62ff.
ZEN Schatzkammer, Kap. 23, Bd. 1, S. 202ff.: „Wahres und reines Handeln der Buddhas (Gyōbutsu-yuigi)

[ii] Dogen: Shobogenzo (englische Fassung), Bd. 2, S. 33

[iii] Vgl. ZEN Schatzkammer, Kap. 27, Bd. 1, S. 240ff.: „Die heilende Bambusnadel der Zazen-Praxis (Zazenshin)“
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 119ff.

[iv] Dogen: Shobogenzo (englische Fassung), Bd. 2, S. 91, Fußnote 2

[v] Shobogenzo (englische Fassung), Bd. 2, S. 91, Fußnote 3

[vi] Shinji Shobogenzo (englische Fassung), Bd. 2, Nr. 29, S. 178

[vii] ZEN Schatzkammer, Kap. 14, Bd. 1, S. 129ff.: „Das Sūtra der wirklichen Berge und Wasser (Sansui gyō)“, und: Umwelt-ZEN, S. 216ff.
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 194ff.

[viii] Yakusan Igen war Nachfolger von Meister Sekito Kisen.

[ix] ZEN Schatzkammer, Kap. 11, Bd. 1, S. 110ff.: „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“, und: Strahlende Zeit zum Handeln, S. 15ff.
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 1, S. 135ff.

[x] Vgl. Dōgens Analyse des Handelns nach dem Erlangen der Wahrheit: ZEN Schatzkammer, Kap. 28, Bd. 1, S. 249ff.: „Leben und Handeln jenseits von Buddha und Erleuchtung (Butsu kōjō no ji)

[xi] Warner, Brad: ZEN – Wrapped in Karma, Dipped in Chocolate, deutsche Fassung, S. 12

[xii] ZEN Schatzkammer, Kap. 29, Bd. 1, S. 261ff.: „Was ist das Etwas, das uns jäh begegnet, jenseits von Denken und Wahrnehmung? (Inmo)
Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (deutsche Übersetzung), Bd. 2, S. 151ff.

[xiii] In neuerer Zeit hat Mark Epstein eine Verbindung der westlichen Vorstellung des Denkens in der Psychologie mit dem Buddhismus vorgelegt: Epstein, Mark: Gedanken ohne Denker

[xiv] Seggelke, Yudo J.: Umwelt-ZEN. Im Auge des Zen, Bd. 3, S. 253f.

[xv] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 17ff.

[xvi] Ein Teil dieses Zitats stammt aus der Schrift Shodoka, die von Meister Yoka Genkaku verfasst wurde.

[xvii] Nishijima, Gudo Wafu: Aus meinem Leben, S. 49ff.