(Yudo J. Seggelke)
Das Gleichnis des Mittleren Weges hat eine zentrale Bedeutung im Buddhismus. Dieser Weg verspricht Gleichgewicht und Lebensfreude und wurde von Gautama Buddha selbst und vielen seiner Nachfolger erprobt. Er hat sich also bewährt.
Der Mittlere Weg vermeidet Extreme zum
Beispiel Niedergeschlagenheit und Depressivität auf der einen Seite und
Euphorie und unrealistische emotionale Steigerungen auf der anderen Seite.
Dämpft das die Lebensfreude und ergibt ein langweiliges Leben? Auf keinen Fall.
Das Gegenteil ist richtig: Indem die Extreme von Gier, Hass und Abhängigkeiten
vermieden werden, erhöht sich die Chance zur Selbststeuerung und
Selbstbestimmung des Menschen: hochaktuelle Themen der Gegenwart. Das ist
wiederum eng mit Lernprozessen und Kreativität verbunden.
Was möchte ich mit dem Begriff der
Moderne bezeichnen? Es ist üblich geworden von der Gegenwart als der Postmoderne
zu sprechen. Ich will mich aber dieser Formulierung nicht anschließen und folge
dem Philosophen v. Greifenfels, der die Moderne als Arbeitsbegriff so
definiert, dass sich das Denken radikal auf die Gegenwart und deren Probleme
und Chancen bezieht. Vergangenes Wissen der Philosophie muss daher auf die
Moderne bezogen werden, damit es Kraft und Lebendigkeit erhält.
Denken heißt damit, Neues zu bedenken
und nur ein solches Denken kann als wirklich und mit Realitätskraft
ausgestattet bezeichnet werden. Wenn also Hans-Peter Dürr der bekannte
theoretische Physiker fordert, dass wir in der heutigen Zeit ein neues Denken
brauchen, so kann man dem nur zustimmen. Aber es handelt sich nach dieser
Arbeitsdefinition schon fast um eine Tautologie, denn Denken ist immer etwas
Neues und bezieht sich immer radikal auf die Gegenwart. Auch der Philosoph
Heidegger geht über einen rein theoretischen Begriff des Denkens hinaus und
fordert Erleben, Erfahren und Innovation der Lebensentwürfe.
Es geht nicht darum, Wissen anzuhäufen.
Heidegger verbindet das mit sehr präziser Kritik an seiner eigenen Zunft der
Philosophen: es geht darum, die Lebensfragen und Lebensprobleme der Gegenwart
aufzuspüren und sich radikal von rückwärts gewendeten Festlegungen und
kulturelle wie psychische Fixierungen zu befreien. Damit ist bereits eine große
Nähe zum Buddhismus bezeichnet: gerade der Zen-Buddhismus distanziert sich von
blutleerer Theorie und stellt die unmittelbare Erfahrung und Praxis in den
Mittelpunkt. Heidegger spricht auch in diesem Zusammenhang Ereignis.
In der Kunst des Bogenschießens oder
beim Spiel der Bambusflöte Shakuhachi kommt dem denkenden Bewusstsein eine
geringe Bedeutung zu: das direkte Erleben und Handeln dieser Praxis gibt dem
Menschen Klarheit und Lebensenergie, genau im Augenblick des Tuns. Das bedeutet
allerdings keineswegs, dass der Zen-Buddhismus jede Lehre und Theorie ablehnt,
denn ohne die gesammelten Schriften der buddhistischen Sûtras und ohne das
lebende Wissen und die Erfahrung der jeweiligen Lehrer in den verschiedenen
historischen Epochen des Fortgangs des Buddhismus wäre es fast unmöglich, die
tiefen Erfahrungen und Erkenntnisse von Gautama Buddha selbst und den
nachfolgenden Meistern und Lehrern für die Gegenwart nutzbar zu machen.
Es ist bezeichnend, dass der große Zen-Meister
Dôgen seine Kritik an der Feindlichkeit gegenüber der Vernunft, oder des Logos
im Sinne Heraklits, in dem fulminanten Kapitel zur Natur ausdrückt: „Das Sûtra
der Berge und Wasser.“ Das heißt, dass ihm das tiefe und klare Erleben und
Einklang mit der Natur ohne die fundierte Lehre des Buddhismus schwierig oder
unmöglich erscheint.
Sicher würde man in der westlichen
Philosophie die Verteidigung der Vernunft nicht in einem Kapitel zur Natur und
Umwelt unterbringen, sondern losgelöst und abstrakt als philosophischen Traktat
oder philosophisches Lehrbuch formulieren. Die in der Moderne zu beobachtende
Ausbeutung der Natur und Zerstörung der ökologischen Gleichgewichte verweist
uns jedoch in aller Radikalität auf die Vernunft und die Überlebenschancen der
Menschheit.
Gerade der Umgang mit der Natur muss
daher einem hohen Maß der Vernunft genügen. Aber Dôgen geht noch über die
materielle Ökologie hinaus und beschreibt das tiefe gemeinsame Erleben von
Natur und Mensch, bei dem die übliche Trennung vom empfindenden Subjekt des
Menschen und der Natur als Objekt überwunden und damit der hemmende Dualismus
außer Kraft gesetzt wird.