Samstag, 12. April 2014

Buddhismus und Moderne

(Yudo J. Seggelke)

Das Gleichnis des Mittleren Weges hat eine zentrale Bedeutung im  Buddhismus. Dieser Weg verspricht Gleichgewicht und Lebensfreude und wurde von Gautama Buddha selbst und vielen seiner Nachfolger erprobt. Er hat sich also bewährt.

Der Mittlere Weg vermeidet Extreme zum Beispiel Niedergeschlagenheit und Depressivität auf der einen Seite und Euphorie und unrealistische emotionale Steigerungen auf der anderen Seite. Dämpft das die Lebensfreude und ergibt ein langweiliges Leben? Auf keinen Fall. Das Gegenteil ist richtig: Indem die Extreme von Gier, Hass und Abhängigkeiten vermieden werden, erhöht sich die Chance zur Selbststeuerung und Selbstbestimmung des Menschen: hochaktuelle Themen der Gegenwart. Das ist wiederum eng mit Lernprozessen und Kreativität verbunden.

Was möchte ich mit dem Begriff der Moderne bezeichnen? Es ist üblich geworden von der Gegenwart als der Postmoderne zu sprechen. Ich will mich aber dieser Formulierung nicht anschließen und folge dem Philosophen v. Greifenfels, der die Moderne als Arbeitsbegriff so definiert, dass sich das Denken radikal auf die Gegenwart und deren Probleme und Chancen bezieht. Vergangenes Wissen der Philosophie muss daher auf die Moderne bezogen werden, damit es Kraft und Lebendigkeit erhält.

Denken heißt damit, Neues zu bedenken und nur ein solches Denken kann als wirklich und mit Realitätskraft ausgestattet bezeichnet werden. Wenn also Hans-Peter Dürr der bekannte theoretische Physiker fordert, dass wir in der heutigen Zeit ein neues Denken brauchen, so kann man dem nur zustimmen. Aber es handelt sich nach dieser Arbeitsdefinition schon fast um eine Tautologie, denn Denken ist immer etwas Neues und bezieht sich immer radikal auf die Gegenwart. Auch der Philosoph Heidegger geht über einen rein theoretischen Begriff des Denkens hinaus und fordert Erleben, Erfahren und Innovation der Lebensentwürfe.

Es geht nicht darum, Wissen anzuhäufen. Heidegger verbindet das mit sehr präziser Kritik an seiner eigenen Zunft der Philosophen: es geht darum, die Lebensfragen und Lebensprobleme der Gegenwart aufzuspüren und sich radikal von rückwärts gewendeten Festlegungen und kulturelle wie psychische Fixierungen zu befreien. Damit ist bereits eine große Nähe zum Buddhismus bezeichnet: gerade der Zen-Buddhismus distanziert sich von blutleerer Theorie und stellt die unmittelbare Erfahrung und Praxis in den Mittelpunkt. Heidegger spricht auch in diesem Zusammenhang Ereignis.

In der Kunst des Bogenschießens oder beim Spiel der Bambusflöte Shakuhachi kommt dem denkenden Bewusstsein eine geringe Bedeutung zu: das direkte Erleben und Handeln dieser Praxis gibt dem Menschen Klarheit und Lebensenergie, genau im Augenblick des Tuns. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass der Zen-Buddhismus jede Lehre und Theorie ablehnt, denn ohne die gesammelten Schriften der buddhistischen Sûtras und ohne das lebende Wissen und die Erfahrung der jeweiligen Lehrer in den verschiedenen historischen Epochen des Fortgangs des Buddhismus wäre es fast unmöglich, die tiefen Erfahrungen und Erkenntnisse von Gautama Buddha selbst und den nachfolgenden Meistern und Lehrern für die Gegenwart nutzbar zu machen.

Es ist bezeichnend, dass der große Zen-Meister Dôgen seine Kritik an der Feindlichkeit gegenüber der Vernunft, oder des Logos im Sinne Heraklits, in dem fulminanten Kapitel zur Natur ausdrückt: „Das Sûtra der Berge und Wasser.“ Das heißt, dass ihm das tiefe und klare Erleben und Einklang mit der Natur ohne die fundierte Lehre des Buddhismus schwierig oder unmöglich erscheint.

Sicher würde man in der westlichen Philosophie die Verteidigung der Vernunft nicht in einem Kapitel zur Natur und Umwelt unterbringen, sondern losgelöst und abstrakt als philosophischen Traktat oder philosophisches Lehrbuch formulieren. Die in der Moderne zu beobachtende Ausbeutung der Natur und Zerstörung der ökologischen Gleichgewichte verweist uns jedoch in aller Radikalität auf die Vernunft und die Überlebenschancen der Menschheit.


Gerade der Umgang mit der Natur muss daher einem hohen Maß der Vernunft genügen. Aber Dôgen geht noch über die materielle Ökologie hinaus und beschreibt das tiefe gemeinsame Erleben von Natur und Mensch, bei dem die übliche Trennung vom empfindenden Subjekt des Menschen und der Natur als Objekt überwunden und damit der hemmende Dualismus außer Kraft gesetzt wird.