(Yudo J. Seggelke,
überarbeitet am 5.1.2017)
Das
Herz-Sûtra gilt als Kernaussage und kompakte Zusammenfassung des Mahâyâna- und Madhyamika-Buddhismus
und fasst die in vielen Bänden dargestellte buddhistische Lehre des Mahâyâna
zusammen. Aber das Herz-Sutra ist für die meisten von uns schwer zu verstehen
und ist voller Negationen dessen, was wir als normal ansehen und aus dem
authentischen frühen Buddhismus kennen. Ich möcht daher anregen, dass man es
nach Meister Nâgârjûna und seinem großen Hauptwerk des Mittleren Weges (MMK) gelesen werden,
das als Grundlage des Mahâyâna gilt. Vielleicht sind die unverständlichen
Paradoxien eher Abweichungen von Nâgârjûnas Philosophie, deren Verständnis auf
Fehler in der Überlieferung und Kommentierung zurückzuführen sind.
Ich
möchte hier zwei Übersetzungen vorstellen: eine nicht ganz wörtliche aber
besser verständliche und eine sehr wortgetreue aus dem Sanskrit. Sicher stimmen
Sie mir zu, dass beide aus sich heraus nicht gerade einfach zu verstehen sind,
obgleich sie auch heute in vielen Klöstern in verschiedenen Sprachen rezitiert
werden. Wie kann man nun einen sinnvollen Weg zum Inhalt und zu Bedeutung
finden? Mit der einfachen Behauptung, dass es für Unerleuchtete nicht zu verstehen ist, möchte ich mich nicht
abfinden. Das wäre im Übrigen sehr elitär. Benötigen die voll Erleuchteten den
überhaupt einen schriftlichen Text?
Um
weiterzukommen möchte ich später die charakteristischen Eckpunkte des Mahâyâna und
des MMK umreißen, die zugleich Entschlackung des authentisch frühen Buddhismus
von Gautama Buddha nach Nâgârjunâ sind und als Weiterentwicklung gelten. In
meinen Untersuchungen werde ich auf die enge Verbindung mit den ursprünglichen
Texten Gautama Buddhas hinweisen, denn es erscheint mir unsinnig, die genialen,
überragenden und weitgehend authentisch erhaltenen Texte Gautama Buddhas übertreffen
zu wollen. Damit folge ich besonders Nâgârjunâs De-Konstruktion des Buddhismus
seiner Zeit.
Vorher
möchte ich zwei Übersetzungen des Herz-Sutra wiedergeben, es bereitet in der
Tat einige Schwierigkeiten, deren Sinn zu begreifen.
1) Das Herz-Sutra
Übersetzung
aus dem Japanischen ins Englischen: G.W. Nishijima, Mike Cross; ins Deutsche
und mit Klammer-Zusätzen: Yudo J. Seggelke
Der Bodhisattva Avalokiteshvara betrachtet, dass die
fünf Skandhas (Komponenten des
Menschen) vollständig leer sind, als er
die tiefgründige intuitive Weisheit (prajna paramita) praktiziert, und
überwindet alles Leiden und falsches Tun.
Shariputra, das (wirklich) Materielle ist nicht
getrennt von (der Leerheit) des
Immateriellen und das Immaterielle ist nicht getrennt von dem (wirklichen) Materiellen. (Wirklich) Materielles ist (in Wechselwirkung) mit dem (wirklich) Immaterielle und daher nicht voneinander (total) getrennt oder isoliert. Dass selbe gilt
umgekehrt für das Immaterielle und das Materielle.
(Die
anderen Komponenten des Menschen, skandhas) Fühlen,
Wahrnehmen und Denken, Handeln und Bewusstsein sind genauso: (sie sind
Wechselwirkung und daher nicht voneinander getrennt, also leer).
Shariputra, diese wirklichen Dharmas (Dinge und Phänomene) sind (keine metaphysischen Entitäten oder unveränderliche
Substanzen, sie wären dann nur) reine
Manifestationen (der gedachten unveränderlichen Substanzen). Fühlen, Wahrnehmung und Denken, Handeln und
Bewusstsein sind genau so.
(Wenn
die Dharmas nach der falschen Doktrin von unveränderlichen Substanzen
verstanden werden, bedeutet das:) Sie
(wären unveränderlich und) erscheinen
nicht und vergehen nicht, (es gibt keine Ethik und sie) sind weder schmutzig noch rein, werden nicht größer und nicht kleiner.
Daher gibt es im Zustand der Leere (und Wechselwirkung) nicht (doktrinär falsch verstandenes) Materielles, Fühlen, Wahrnehmung und Denken, Handeln oder Bewusstsein.
(Es gäbe bei dieser falschen Doktrin) keine Augen, Ohren, Nase, Zunge, keinen
Körper, Geist, keine Sicht, keine Töne, Gerüche, Tastungen, Erregungen und
Eigenschaften. Er gibt weder einen Bereich der Augen noch andere (elementare
Bereiche): Es gibt keinen Bereich des
Geist-Bewusstseins.
Es gibt (bei
dem Glauben an eine unveränderliche Substanz wie den âtman) keine Unwissenheit, keine Ende der Unwissenheit, oder irgend einen
anderen: Es gibt kein Altern und keinen Tod und kein Ende von Altern und Tod.
Es gibt kein Leiden, keine Ansammlung, kein Aufhören oder Weg. Es gibt keine
Weisheit, und kein Erlangen, weil (der Zustand) Nicht-Erlangen ist.
Die Bodhisattvas beruhen auf prajna paramita und
daher hat ihr Geist keine Hindernisse. Sie haben keine Hindernisse und sind
ohne Angst. Sie lassen alle verwirrten Traumbilder weit hinter sich. Und
verwirklichen den höchsten Zustand des Nirvana (im Hier und Jetzt).
Die Buddhas der drei Zeiten beruhen auf prajna
paramita und daher erlangen sie annurara-samyak-sambodhi. Denke daher daran:
prajna paramita ist das große mystische Mantra, ist ein großen strahlendes
Mantra, es ist das höchste Mantra; es ist ein Mantra in dem unvergleichlichen
Zustand des Gleichgewichts (und der
Wirklichkeit). Es kann alle Leiden
wegnehmen. Es ist wirklich und nicht Nichts. Daher rufen wir das Mantra des
prajna paramita. Wir rufen es an wie folgt:
Gate, gate, paragate, parasangate. Bodhi svaha
(Gegangen, gegangen, hinüber gegangen, vollständig
hinüber zur Wirklichkeit) gegangen, wunderbar, großes Heil)
2) Prajnâpâramitâ:
Herz-Sûtra
Wörtliche
Übersetzung aus dem Sanskrit: Peter Gäng
Verehrung dem Allwissenden
Der Bodhisattva „edler
Avalokiteshvara“, der die Praxis in der tiefen
Prajnâpâramitâ praktiziert, blickte
herab. Er sah die fünf skandhas als leer von
einem Sein in und aus sich selbst.
Hier, Shâriputra: Form - Leere, Leere
- Form.
Von Form nicht getrennt Leere; von
Leere nicht getrennt Form.
|Was Form, das Leere; was Leere das Form.
Genau so Gefühl, Wahrnehmung,
Formkräfte, Bewusstseine
So, Shâriputra, haben alle Dharmas das
Merkmal von Leere, sind unentstanden,
unvergangen, ohne Flecken, frei von
Flecken, nicht weniger, nicht mehr.
Von daher, Shâriputra, in Leere nicht
Form, nicht Gefühl, nicht Wahrnehmung,
nicht formende Kräfte, nicht
Bewusstseine; Nicht Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Denkorgan;
nicht Form, Ton, Duft, Geschmack, Berührbares
- Dharma; nicht Augenbereich bis Denkorganbereich.
Nicht Wissen, nicht Nichtwissen, nicht
Schwinden von Wissen, nicht Schwinden von Nichtwissen bis Nicht Altern und
Sterben, nicht Schwinden von Altern und
Sterben, Nicht Leiden, Entstehen,
Auflösung, Weg, nicht Wissen, nicht
Erlangtheit.
|Und ein Bodhisattva, der sich auf die prajnâpâramitâ
gestützt hat, verweilt mit
einem Geist (zusammen ) mit
Hemmnissen. (Aber) aus der Nichtexistenz eines Geistes mit Hemmnissen ist er
ohne Schrecken, hat das Gegenteil erklommen, ist gestützt auf / gegründet im
Nirvâna.
Alle in den drei Wegen/Zeiten
wurzelnden Buddhas haben sich auf die
prajìâpâramitâ gestützt und sind in
das höchste rechte Erwachen völlig erwacht.
Deshalb soll erkannt werden das große
prajìâpâramitâ-mantra, das große vidyâ-mantra,
das allerhöchste Mantra, das alle
Leiden stillende, die Wahrheit die aus
der Nichtfalschheit kommt, das in der
prajìâpâramitâ gesprochene Mantra, und
zwar:
om
gate gate pâra-gate pâra-samgate bodhi svâhâ |
om gegangene, gegangene, hinüber
gegangene, völlig hinüber gegangene bodhi svâhâ
Im Folgenden möchte ich versuchen den
Quelltext des Herz-Sûtra durch eine Verbindung zum westlichen Denken
insbesondere zur westlichen Philosophie anzugehen. Bisher gibt es nur wenige
Versuche einer solchen Verbindung. Ich möchte dabei die Arbeit von Rolf Elberfeld: „Phänomenologie der Zeit
im Buddhismus, Methoden interkulturellen Philosophierens, nennen. Nachdem er
einen Grundriss und die Bedeutung der westlichen Philosophie von den Vor-Sokratikern bis zur Philosophie des
19. und 20. Jahrhunderts aufgezeigt hat, markiert er wesentliche Aspekte einer
„philosophischen Grammatik“ des alten China und Japan, um dann die
Phänomenologie der Zeit von Nâgârjûna zu Dôgen zu
behandeln.
Dôgen hat in einem
grundsätzlichen fulminanten Kapitel über die existentielle Zeit Ausführungen
vorgelegt, die bislang im Westen weitgehend unbekannt waren und meines
Erachtens noch viel zu wenig beachtet werden. Ein Vergleich mit den
Anknüpfungspunkten der Zeit von Platon bis Heidegger
arbeitet philosophische Übereinstimmungen und Gegensätze zum Verständnis der
Zeit heraus.
Ein zweites wichtiges Beispiel ist die
Arbeit von Wolfgang Welsch: „Immer
nur der Mensch?“ Indem er „die Rolle von Skepsis und Relativität bei Sextus,
Hegel und Dôgen behandelt. Er bezeichnet Dôgen als „den bedeutendsten Philosoph
des Zen – Buddhismus“ und arbeitet heraus, dass die oft leichtfertig genannten
Vorurteile des Westens in Bezug auf die östliche Philosophie nicht zutreffen.
Dôgen ist alles andere als außerhalb von Vernunft und Logos; beugt sich nicht
dem „Kult des `Unbegreifbaren`“, sondern ist philosophisch rational und fordert
in seinen Kapiteln den Leser immer wieder auf, eigenständige Fragen zu stellen
und eigenständiges Denken einzubringen: „Den Kult des Unverständlichen (dem
andere buddhistische Richtungen huldigen) setzte Dôgen sich scharf entgegen“.
Dôgen hat auch die falsche Romantik und den „Humbug“ der großen Erleuchtung sehr
nüchtern analysiert und pragmatisch beschrieben.
Gleichwohl sind philosophische Aspekte
aus meiner Sicht nur ein Teil von Dôgens Lehre, denn er versucht immer wieder
die Ebene des Denkens und der Sprache auszuweiten und zu überschreiten um auf
die Erfahrung der Wirklichkeit selbst hinzuweisen. Am ehesten sind poetische
Ausführungen geeignet um in diesen Bereich der Wirklichkeit vorzustoßen. Rein
philosophisches Denken ist dazu kaum in der Lage, wie auch von Heidegger und
Wittgenstein betont wird. Wittgenstein äußerte in seiner frühen Schrift
Traktatus Logikus: „Worüber man nicht reden kann, soll man schweigen“. Damit
zieht er die Grenze des wissenschaftlichen Denkens und der wissenschaftlichen
Sprache gegenüber einer Wirklichkeit, die bereits in seinen frühen Schriften
für ihn eine höhere Bedeutung als Denken und Sprache hat.
Im Folgenden möchte ich zunächst mit
den Methoden der westlichen Philosophie und Wissenschaft das Herz – Sûtra
analysieren. Dabei möchte ich die von Welsch genannten Gefahren bewusst umgehen,
um nicht in eine gläubige Wiedergabe angeblich authentischer Texte zu
verfallen. Typisch für derartige Aussagen sind z.B.: „Wir dürfen Leerheit und
Nihilismus nicht verwechseln, denn Leerheit ist nicht Nihilismus.“
Mir sind nur einige buddhistische
Schriften bekannt, in denen diese Aussagen im Einzelnen Schritt für Schritt
analysiert und begründet werden, sodass man als einigermaßen Kundiger den
Gedankengang ohne allzu große Schwierigkeiten folgen kann. Häufig wird als
zentrale Aussage einfach gesagt, dass man dieses nicht verstehen könne, wenn
man unerleuchtet ist. Dabei bleibt natürlich offen, ob der jeweilige Autor oder
die jeweilige Autorin wirklich selbst erleuchtet ist und damit die höchste
Weisheit, prajna paramita verwirklicht hat.
(Fortsetzung später in diesem Blog)