(Yudo J. Seggelke)
In dem fundamentalen Kapitel des Shôbôgenzô „Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung (Kap. 89, Shinjin-inga)“ bekräftigt Dōgen sein unerschütterliches Vertrauen in das
Gesetz von Ursache und Wirkung, dem Karma-Gesetz, im Buddhismus:
Wer Gutes
tut, hat eine glückliches Leben, in diesem oder einem der nächsten Leben. Und
das selbe gilt für falsches Tun: Wer Falsches tut, muss darunter leiden, in
diesem oder einem nächsten Leben.
Das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt danach nicht
nur für den materiellen oder, wie wir heute sagen würden, für den naturwissenschaftlichen Bereich der
Welt, sondern hat darüber hinaus ganz allgemein eine umfassende Gültigkeit für
uns, nicht zuletzt für Moral und Ethik.
Zweifellos ist das Karma-Gesetz ein Kernstück der buddhistischen Lehre, das auf
Gautama Buddha selbst zurückgeht.
Damit wird unsere Freiheit bekräftigt, dass wir uns für das Gute entscheiden: wir
übernehmen damit wirkliche Verantwortung für uns selbst. Schuldzuweisungen an
andere helfen uns nämlich wenig, es kommt auf unser eigenes Tun an. Im Rahmen unsere Möglichkeiten gut zu
handeln, das ist die Kernaussage des Karma-Gesetzes: ganz genau im Hier und
Jetzt und im gegenwärtigen Augenblick. Aber wie gewinnen wir die Klarheit, was
gut und was schlecht ist und woher bekommen wir die Kraft, danach zu handeln?
Gibt es eine Energie-Quelle in der Welt, die uns genau die Kraftmenge gibt, die
wir brauchen, etwa wie eine Energie-Tankstelle?
Können wir die Tür zur intuitiven Klarheit finden und öffnen? Darum geht es
beim Karma im Buddhismus und dafür geben Buddha und Dōgen die Antwort: durch
den Achtfachen Pfad, die Zen-Meditation und die buddhistische Lehre.
Noch einmal: Wie können wir das Gesetz von Ursache
und Wirkung aus der heutigen Sicht verstehen? Ist damit zwangsläufig die Frage
der Wiedergeburt verbunden oder gilt es auch und für unser heutiges Leben? Wie weit
unterliegt das Karma nur dem ganz subjektiven Meinen und Glauben oder gilt es
allgemein? Kann das Karma-Gesetz nicht besonders leicht für Unterdrückung,
Drohung und Abwertung anderer missbraucht werden, nach dem Motto: Dir geht es
schlecht, weil Du schlechtes Karma gemacht hast, damit musst du schon selbst
fertig werden. Mit diesen Fragen wollen wir uns vertieft im Berliner Gesprächskreis
beschäftigen und auf Dôgens Aussagen dieses grundlegenden Kapitels zurückgreifen.
Es gab und gibt immer wieder buddhistische Gruppen im
Zen-Buddhismus, die mit unterschiedlichen Begründungen das Gesetz von Ursache
und Wirkung entweder ganz leugnen oder zumindest als unwichtig beiseite
schieben. Es handelt sich dabei gewöhnlich um spitzfindige Beweisführungen, zum
Beispiel mit dem falsch verstandenen Begriff der „Leerheit“ des
Mahāyāna-Buddhismus oder auch mit einem zu eng verstandenen Zeitbegriff des
Augenblicks, der dann als Begründung dient, eine zeitliche Beziehung von Ursache und Wirkung zu bestreiten. Die
einzelnen Augenblicke der Zeit werden dabei fälschlich und nur theoretisch
total gegeneinander abgegrenzt. Es wird übersehen, dass es in der Wirklichkeit
eine Verbindung von der Vergangenheit zur Gegenwart und weiter in die Zukunft
gibt, die im Augenblick wirksam ist.
Dazu bedarf es der intuitiven Vernunft,
die uns wirklich helfen kann, sie geht über Gedanken hinaus. Das Gesetz von
Ursache und Wirkung gründet sich auf die unmittelbare Erfahrung des Lebens und
des Universums, ist also keine philosophische Spekulation, sondern beschreibt
laut Dōgen die Wirklichkeit selbst.
Die moderne Naturwissenschaft und Technik, die
zweifellos große Kulturleistungen des Westens sind und inzwischen die ganze
Welt erfasst haben, basieren wesentlich auf dieser Gesetzmäßigkeit von Ursache
und Wirkung. Sie gehören nach der buddhistischen Lehre von Nishijima Roshi zur zweiten
Lebensphilosophie, die alle materiellen Merkmale der sinnlichen Wahrnehmung
umfasst, also Form, Farbe, Geruch usw. Im Buddhismus werden dafür häufig die
Begriffe „Dharmas“ und „Form“ verwendet, wie z. B. im Herz-Sutra „Form - Leere, leere Form“. Für diesen Bereich der Naturwissenschaft wird niemand das
Gesetz von Ursache und Wirkung ernsthaft bestreiten. Jeder Planung und jedem
pragmatischen Vorgehen im Alltag liegt zweifellos die Logik von Ursache und
Wirkung zugrunde, auch dies ist gewiss unbestritten. Ähnliches gilt für alle
Lernprozesse, die gerade im Zen-Buddhismus so sehr geschätzt werden: wer sich
anstrengt und lernt, erfährt selbstverständlich eine positive Wirkung, z. B.
bei der Zazen-Praxis. Die hier geschilderten Wirkungen von anderen menschlichen
Ursachen sollten genau und sachlich von uns und anderen beobachtet werden. Wir
sollten uns also selbst ohne Vorurteile und Beschönigung beobachten, sicher
leichter gesagt als getan, aber unbedingt nötig. Wir müssen uns dabei selbst
auf die Schliche kommen, uns durchschauen:
Zen-Geist
ist Anfänger-Geist, und das ist
wirklich nichts Infantiles.
Wir müssen uns also zunächst auf die Suche nach den unbewerteten Wirkungen unseres Handelns machen.
Wie steht es nun mit den ethischen Fragen bei Ursache
und Wirkung? Dōgen kritisiert, dass im Zen-Buddhismus seiner Zeit manchmal die unauflösbare Koppelung von Ursache und
Wirkung abgelehnt oder vernachlässigt wird. das sei falsch. sogar ein Erleuchteter unterliegt dem Gesetz von Ursache
und Wirkung. Aber er hat die Kraft und Klarheit, selbst maßgebliche neue Ursachen
zu setzen, genau im Augenblick. Das schneidet bei ihm und auch bei uns das alte
schlechte Karma ab.
Wer das Karma-Gesetz ablehnt, vernachlässigt die Auswirkungen
der guten oder schlechten Taten des Verursachers, z.B. uns selbst. Solche Verdrängungen
erzeugen aber immer neue Probleme und Leiden, sie sind keine tragfähigen
Lösungen für psychische Probleme.
Mit dem Hinweis auf den sogenannten gesunden
Menschenverstand wird in der heutigen Zeit oft behauptet, dass Verbrecher
ungeschoren davonkommen, wenn sie nur geschickt seien und ihre unmoralischen
Handlungen verbergen können. Sie könnten daher die Vorteile ihres unmoralischen
Verhaltens ungestraft genießen: „der Ehrliche ist der Dumme“, wird gesagt. Dies
sei nun einmal die Realität der Welt und alles andere sei nur romantische
Träumerei. Kann das richtig sein? Wenn das zutreffend wäre, würde damit in der
Tat das Gesetz von Ursache und Wirkung außer Kraft gesetzt. Dann könnten
korrupte Regierungen und gierige Banker ein wunderbares Leben führen, mögen
andere auch darunter leiden, das kratzt sie dann wenig. Ich bin fest davon
überzeugt, dass das nicht stimmt und möchte auch nicht mit solchen Menschen
tauschen!
Nach der buddhistischen Lehre, die Dōgen in aller
Klarheit beschreibt, ist diese Ansicht total falsch. Es mag sein, dass die
negativen Wirkungen von unmoralischem Handeln nicht sofort einsetzen, sondern
erst verzögert auftreten. Nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung bestraft sich
jedoch der Handelnde durch seine schlechten moralischen Taten früher oder
später genau selbst. Dann schlägt die Wirkung seines Handelns wie bei einem
Bumerang genau dort wieder ein, von wo es ausgegangen ist.
Dōgen erläutert das Gesetz von Ursache und Wirkung ausführlich
auch in einem anderen Kapitel „Die große buddhistische Praxis und das Gesetz
von Ursache und Wirkung (Kap. 76, Dai-shugyô)“. Er zitiert das Gleichnis
eines alten Meisters, der in seiner früheren Lehrtätigkeit gegenüber seinen
Schülern dieses Gesetz als unwirksam für die wahre Praxis im Augenblick erklärt
hatte. Deshalb musste er in vielen Wiedergeburten als wilder Fuchs leiden. Der
alte Mann/Fuchs fragte schließlich einen späteren Meister, ob das Gesetz
wirklich gültig sei, und dieser antwortete: „Sei nicht unklar über Ursache und Wirkung“. Dadurch erlebte der alte
Mann/Fuchs das große Erwachen und konnte den Körper des Fuchses endlich
verlassen, er war damit befreit.
Was ist mit dem Satz „Sei nicht unklar über Ursache
und Wirkung“ gemeint? Dōgen macht deutlich, dass dieser Satz unmissverständlich
Klarheit darüber schafft, dass es überhaupt
keine Ausnahme und keine Abweichung von diesem Gesetz gibt. Wer das
leugnet, sei unklar. Nishijima Roshi bestätigt:
ein Buddhist sollte ein unerschütterliches Vertrauen in Ursache und Wirkung
haben.
Ein indischer Meister lehrte in diesem Zusammenhang,
dass es für das Gesetz von Ursache und Wirkung drei verschiedene Zeitspannen gibt.
Zum Beispiel werde häufig fälschlich behauptet, dass ein gewalttätiger und
aggressiver Mensch lange und auch angenehm lebt, während ein ethisch guter
Mensch schon bald sterben müsse. Daher könne das Gesetz von Ursache und Wirkung
nicht gelten. Dies ist aber nach dem indischen Meister ganz unrichtig, denn die
Wirkung folgt manchmal nicht sofort, sondern erst mittel- oder langfristig.
Dōgen betont, dass es besonders bedauerlich sei, wenn buddhistische Lehrer oder
gar „Meister“ ihren Schülern vermitteln, dass es Ausnahmen vom Gesetz von Ursache
und Wirkung gäbe, oder wenn „Erleuchtete“ für sich selbst eine solche Ausnahme
beanspruchen. Sie würden damit einen nicht wiedergutzumachenden Schaden
anrichten und viele Schüler in die Irre führen. Das ist verantwortungslos.
Manche Zen-Buddhisten, die nicht an die Wiedergeburt
glauben, sondern nur an den gegenwärtigen Augenblick, würden sich von diesem
Gesetz abwenden, da es für das jetzige überschaubare Leben nicht anwendbar sei.
Dōgen lässt eine solche Begründung nicht gelten. Er unterstreicht den
Grundsatz, dass wir mit Sicherheit eine ganz bestimmte Wirkung erfahren, wenn
die entsprechenden Ursachen von uns in Gang gesetzt worden sind.
Er zitiert den großen indischen Meister Nāgārjuna: Die gesamte buddhistische
Lehre des Erwachens und des Überwindens des Leidens würde ohne dieses Gesetz
zerstört werden. Wir könnten dann der Gier nach Profit, Ruhm und Macht, die so
viel Unrecht und Leid auf der Welt erzeugt, sowie der Beschränktheit des
Geistes nicht entkommen. Nach Nāgārjuna
gäbe es dann auch keine wirkliche Gegenwart, die den jetzigen Augenblick des
Handelns und damit die Wirklichkeit und Wahrheit offenbart. Deshalb sei es
notwendig, durch die Übungspraxis selbst die Wahrheit zu erfahren und einen
guten Lehrer für den Weg des Buddha-Dharma zu finden.
Der Begriff der Leerheit (shūnyatā) darf nach Dōgen auf keinen Fall dazu missbraucht werden,
das Gesetz von Ursache und Wirkung abzulehnen oder es nicht ernst genug zu
nehmen. Sonst würden wir, wie es ein alter Meister ausdrückt, „in einem Morast der Nachlässigkeit“
versinken und wegen großer Fehler selbst das Unglück gewaltig anziehen, das
dann seinen Lauf nimmt.
Um das eigene Handeln und Denken genau und
unverstellt zu betrachten, braucht man tatsächlich viel Mut und muss sich
manchmal einen kräftigen Ruck geben. Nur allzu leicht macht man sich selbst
etwas vor, beschönigt das eigene Handeln und entwickelt eine subjektive scheinbare
„gerechte“ Sichtweise zulasten der anderen, und ist fest davon überzeugt, dass
dies die objektive Wahrheit darstellt. Es ist aber nur eine subjektive
„Wahrheit“, die das eigene Ego schützen und erhöhen soll. Dies bestätigen auch
Psychologen. Wie können wir uns also wirklich auf die Schliche kommen?
Meist entstehen diese Irrtümer im Bereich der Ideen und des Denkens, betont Nishijima
Roshi. Die ethischen Fehler der anderen werden von uns Menschen oft besonders
klar gesehen und auch vergrößert, um dadurch das eigene Denken und Handeln
aufzuwerten. Dies bedeutet natürlich einen Rückschritt auf dem guten Weg des
Buddha-Dharma.
Dōgen beklagt am Ende dieses Kapitels, dass es bei
vielen Meistern und Kommentatoren wirklich am Verständnis für das Gesetz von
Ursache und Wirkung fehlt:
„Wenn man
die Praxis des Buddha-Dharma erlernt, ist es von höchster Priorität, das Gesetz
von Ursache und Wirkung zu klären.“
Wer diesen Zusammenhang leugne, erzeuge sehr
wahrscheinlich eine falsche Sichtweise, die nach Vorteil und Profit strebt und die guten Wurzeln des eigenen Lebens
zerschneidet. Ursache und Wirkung unterliegen nicht der Willkür eines Menschen
und sind nicht beliebig zu manipulieren. Nach Dōgen handelt es sich um ein
Gesetz von lebendiger Klarheit: Menschen, die Schlechtes begehen, sinken ab;
Menschen, die Gutes praktizieren, steigen auf. Dies gelte ohne Ausnahme und
ohne Abweichung.
Ohne das Gesetz von Ursache und Wirkung sei es
unmöglich, dass die Menschen überhaupt dem Buddha
begegnen und den Dharma hören. Wenn man den Zusammenhang von Ursache und
Wirkung ablehnt oder vernachlässigt, dringt das „Gift dieser falschen
Sichtweise“ in Körper und Geist ein. Es verdunkelt unser Leben, ohne dass wir
dies zunächst bemerken. Daher ist die eigene Klarheit über Ursache und Wirkung
so außerordentlich wichtig und steht am Anfang, in der Mitte und am Ende des
Buddha-Weges. Das Gesetz von Ursache und Wirkung ist unabhängig davon, ob wir
uns dessen bewusst sind oder nicht.
Schön denken und reden aber unmoralisch handeln können dieses Gesetz nicht täuschen. Um
das zu vermeiden gibt uns die Zazen-Praxis großer Kraft und Klarheit.