Freitag, 20. September 2013

Karma, die Kraft des Handelns heute


(Yudo J. Seggelke)

In dem fundamentalen Kapitel des Shôbôgenzô „Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung (Kap. 89, Shinjin-inga)“ bekräftigt Dōgen sein unerschütterliches Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung, dem Karma-Gesetz, im Buddhismus:
Wer Gutes tut, hat eine glückliches Leben, in diesem oder einem der nächsten Leben. Und das selbe gilt für falsches Tun: Wer Falsches tut, muss darunter leiden, in diesem oder einem nächsten Leben.

Das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt danach nicht nur für den materiellen oder, wie wir heute sagen würden, für den naturwissenschaftlichen Bereich der Welt, sondern hat darüber hinaus ganz allgemein eine umfassende Gültigkeit für uns, nicht zuletzt für Moral und Ethik. Zweifellos ist das Karma-Gesetz ein Kernstück der buddhistischen Lehre, das auf Gautama Buddha selbst zurückgeht. Damit wird unsere Freiheit bekräftigt, dass wir uns für das Gute entscheiden: wir übernehmen damit wirkliche Verantwortung für uns selbst. Schuldzuweisungen an andere helfen uns nämlich wenig, es kommt auf unser eigenes Tun an. Im Rahmen unsere Möglichkeiten gut zu handeln, das ist die Kernaussage des Karma-Gesetzes: ganz genau im Hier und Jetzt und im gegenwärtigen Augenblick. Aber wie gewinnen wir die Klarheit, was gut und was schlecht ist und woher bekommen wir die Kraft, danach zu handeln? Gibt es eine Energie-Quelle in der Welt, die uns genau die Kraftmenge gibt, die wir brauchen, etwa wie eine Energie-Tankstelle? Können wir die Tür zur intuitiven Klarheit finden und öffnen? Darum geht es beim Karma im Buddhismus und dafür geben Buddha und Dōgen die Antwort: durch den Achtfachen Pfad, die Zen-Meditation und die buddhistische Lehre.

Noch einmal: Wie können wir das Gesetz von Ursache und Wirkung aus der heutigen Sicht verstehen? Ist damit zwangsläufig die Frage der Wiedergeburt verbunden oder gilt es auch und für unser heutiges Leben? Wie weit unterliegt das Karma nur dem ganz subjektiven Meinen und Glauben oder gilt es allgemein? Kann das Karma-Gesetz nicht besonders leicht für Unterdrückung, Drohung und Abwertung anderer missbraucht werden, nach dem Motto: Dir geht es schlecht, weil Du schlechtes Karma gemacht hast, damit musst du schon selbst fertig werden. Mit diesen Fragen wollen wir uns vertieft im Berliner Gesprächskreis beschäftigen und auf Dôgens Aussagen dieses grundlegenden Kapitels zurückgreifen.

Es gab und gibt immer wieder buddhistische Gruppen im Zen-Buddhismus, die mit unterschiedlichen Begründungen das Gesetz von Ursache und Wirkung entweder ganz leugnen oder zumindest als unwichtig beiseite schieben. Es handelt sich dabei gewöhnlich um spitzfindige Beweisführungen, zum Beispiel mit dem falsch verstandenen Begriff der „Leerheit“ des Mahāyāna-Buddhismus oder auch mit einem zu eng verstandenen Zeitbegriff des Augenblicks, der dann als Begründung dient, eine zeitliche Beziehung von Ursache und Wirkung zu bestreiten. Die einzelnen Augenblicke der Zeit werden dabei fälschlich und nur theoretisch total gegeneinander abgegrenzt. Es wird übersehen, dass es in der Wirklichkeit eine Verbindung von der Vergangenheit zur Gegenwart und weiter in die Zukunft gibt, die im Augenblick wirksam ist. Dazu bedarf es der intuitiven Vernunft, die uns wirklich helfen kann, sie geht über Gedanken hinaus. Das Gesetz von Ursache und Wirkung gründet sich auf die unmittelbare Erfahrung des Lebens und des Universums, ist also keine philosophische Spekulation, sondern beschreibt laut Dōgen die Wirklichkeit selbst.

Die moderne Naturwissenschaft und Technik, die zweifellos große Kulturleistungen des Westens sind und inzwischen die ganze Welt erfasst haben, basieren wesentlich auf dieser Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung. Sie gehören nach der buddhistischen Lehre von Nishijima Roshi zur zweiten Lebensphilosophie, die alle materiellen Merkmale der sinnlichen Wahrnehmung umfasst, also Form, Farbe, Geruch usw. Im Buddhismus werden dafür häufig die Begriffe „Dharmas“ und „Form“ verwendet, wie z. B. im Herz-Sutra „Form - Leere, leere Form“. Für diesen Bereich der Naturwissenschaft wird niemand das Gesetz von Ursache und Wirkung ernsthaft bestreiten. Jeder Planung und jedem pragmatischen Vorgehen im Alltag liegt zweifellos die Logik von Ursache und Wirkung zugrunde, auch dies ist gewiss unbestritten. Ähnliches gilt für alle Lernprozesse, die gerade im Zen-Buddhismus so sehr geschätzt werden: wer sich anstrengt und lernt, erfährt selbstverständlich eine positive Wirkung, z. B. bei der Zazen-Praxis. Die hier geschilderten Wirkungen von anderen menschlichen Ursachen sollten genau und sachlich von uns und anderen beobachtet werden. Wir sollten uns also selbst ohne Vorurteile und Beschönigung beobachten, sicher leichter gesagt als getan, aber unbedingt nötig. Wir müssen uns dabei selbst auf die Schliche kommen, uns durchschauen:
Zen-Geist ist Anfänger-Geist, und das ist wirklich nichts Infantiles.
Wir müssen uns also zunächst auf die Suche nach den unbewerteten Wirkungen unseres Handelns machen.

Wie steht es nun mit den ethischen Fragen bei Ursache und Wirkung? Dōgen kritisiert, dass im Zen-Buddhismus seiner Zeit manchmal die unauflösbare Koppelung von Ursache und Wirkung abgelehnt oder vernachlässigt wird. das sei falsch. sogar ein Erleuchteter unterliegt dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Aber er hat die Kraft und Klarheit, selbst maßgebliche neue Ursachen zu setzen, genau im Augenblick. Das schneidet bei ihm und auch bei uns das alte schlechte Karma ab.
Wer das Karma-Gesetz ablehnt, vernachlässigt die Auswirkungen der guten oder schlechten Taten des Verursachers, z.B. uns selbst. Solche Verdrängungen erzeugen aber immer neue Probleme und Leiden, sie sind keine tragfähigen Lösungen für psychische Probleme.

Mit dem Hinweis auf den sogenannten gesunden Menschenverstand wird in der heutigen Zeit oft behauptet, dass Verbrecher ungeschoren davonkommen, wenn sie nur geschickt seien und ihre unmoralischen Handlungen verbergen können. Sie könnten daher die Vorteile ihres unmoralischen Verhaltens ungestraft genießen: „der Ehrliche ist der Dumme“, wird gesagt. Dies sei nun einmal die Realität der Welt und alles andere sei nur romantische Träumerei. Kann das richtig sein? Wenn das zutreffend wäre, würde damit in der Tat das Gesetz von Ursache und Wirkung außer Kraft gesetzt. Dann könnten korrupte Regierungen und gierige Banker ein wunderbares Leben führen, mögen andere auch darunter leiden, das kratzt sie dann wenig. Ich bin fest davon überzeugt, dass das nicht stimmt und möchte auch nicht mit solchen Menschen tauschen!

Nach der buddhistischen Lehre, die Dōgen in aller Klarheit beschreibt, ist diese Ansicht total falsch. Es mag sein, dass die negativen Wirkungen von unmoralischem Handeln nicht sofort einsetzen, sondern erst verzögert auftreten. Nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung bestraft sich jedoch der Handelnde durch seine schlechten moralischen Taten früher oder später genau selbst. Dann schlägt die Wirkung seines Handelns wie bei einem Bumerang genau dort wieder ein, von wo es ausgegangen ist.
Dōgen erläutert das Gesetz von Ursache und Wirkung ausführlich auch in einem anderen Kapitel „Die große buddhistische Praxis und das Gesetz von Ursache und Wirkung (Kap. 76, Dai-shugyô)“. Er zitiert das Gleichnis eines alten Meisters, der in seiner früheren Lehrtätigkeit gegenüber seinen Schülern dieses Gesetz als unwirksam für die wahre Praxis im Augenblick erklärt hatte. Deshalb musste er in vielen Wiedergeburten als wilder Fuchs leiden. Der alte Mann/Fuchs fragte schließlich einen späteren Meister, ob das Gesetz wirklich gültig sei, und dieser antwortete: „Sei nicht unklar über Ursache und Wirkung“. Dadurch erlebte der alte Mann/Fuchs das große Erwachen und konnte den Körper des Fuchses endlich verlassen, er war damit befreit.

Was ist mit dem Satz „Sei nicht unklar über Ursache und Wirkung“ gemeint? Dōgen macht deutlich, dass dieser Satz unmissverständlich Klarheit darüber schafft, dass es überhaupt keine Ausnahme und keine Abweichung von diesem Gesetz gibt. Wer das leugnet, sei unklar. Nishijima Roshi bestätigt: ein Buddhist sollte ein unerschütterliches Vertrauen in Ursache und Wirkung haben.
Ein indischer Meister lehrte in diesem Zusammenhang, dass es für das Gesetz von Ursache und Wirkung drei verschiedene Zeitspannen gibt. Zum Beispiel werde häufig fälschlich behauptet, dass ein gewalttätiger und aggressiver Mensch lange und auch angenehm lebt, während ein ethisch guter Mensch schon bald sterben müsse. Daher könne das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht gelten. Dies ist aber nach dem indischen Meister ganz unrichtig, denn die Wirkung folgt manchmal nicht sofort, sondern erst mittel- oder langfristig. Dōgen betont, dass es besonders bedauerlich sei, wenn buddhistische Lehrer oder gar „Meister“ ihren Schülern vermitteln, dass es Ausnahmen vom Gesetz von Ursache und Wirkung gäbe, oder wenn „Erleuchtete“ für sich selbst eine solche Ausnahme beanspruchen. Sie würden damit einen nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten und viele Schüler in die Irre führen. Das ist verantwortungslos.

Manche Zen-Buddhisten, die nicht an die Wiedergeburt glauben, sondern nur an den gegenwärtigen Augenblick, würden sich von diesem Gesetz abwenden, da es für das jetzige überschaubare Leben nicht anwendbar sei. Dōgen lässt eine solche Begründung nicht gelten. Er unterstreicht den Grundsatz, dass wir mit Sicherheit eine ganz bestimmte Wirkung erfahren, wenn die entsprechenden Ursachen von uns in Gang gesetzt worden sind.

Er zitiert den großen indischen Meister Nāgārjuna: Die gesamte buddhistische Lehre des Erwachens und des Überwindens des Leidens würde ohne dieses Gesetz zerstört werden. Wir könnten dann der Gier nach Profit, Ruhm und Macht, die so viel Unrecht und Leid auf der Welt erzeugt, sowie der Beschränktheit des Geistes nicht entkommen. Nach Nāgārjuna gäbe es dann auch keine wirkliche Gegenwart, die den jetzigen Augenblick des Handelns und damit die Wirklichkeit und Wahrheit offenbart. Deshalb sei es notwendig, durch die Übungspraxis selbst die Wahrheit zu erfahren und einen guten Lehrer für den Weg des Buddha-Dharma zu finden.
Der Begriff der Leerheit (shūnyatā) darf nach Dōgen auf keinen Fall dazu missbraucht werden, das Gesetz von Ursache und Wirkung abzulehnen oder es nicht ernst genug zu nehmen. Sonst würden wir, wie es ein alter Meister ausdrückt, „in einem Morast der Nachlässigkeit“ versinken und wegen großer Fehler selbst das Unglück gewaltig anziehen, das dann seinen Lauf nimmt.
Um das eigene Handeln und Denken genau und unverstellt zu betrachten, braucht man tatsächlich viel Mut und muss sich manchmal einen kräftigen Ruck geben. Nur allzu leicht macht man sich selbst etwas vor, beschönigt das eigene Handeln und entwickelt eine subjektive scheinbare „gerechte“ Sichtweise zulasten der anderen, und ist fest davon überzeugt, dass dies die objektive Wahrheit darstellt. Es ist aber nur eine subjektive „Wahrheit“, die das eigene Ego schützen und erhöhen soll. Dies bestätigen auch Psychologen. Wie können wir uns also wirklich auf die Schliche kommen?

Meist entstehen diese Irrtümer im Bereich der Ideen und des Denkens, betont Nishijima Roshi. Die ethischen Fehler der anderen werden von uns Menschen oft besonders klar gesehen und auch vergrößert, um dadurch das eigene Denken und Handeln aufzuwerten. Dies bedeutet natürlich einen Rückschritt auf dem guten Weg des Buddha-Dharma.
Dōgen beklagt am Ende dieses Kapitels, dass es bei vielen Meistern und Kommentatoren wirklich am Verständnis für das Gesetz von Ursache und Wirkung fehlt:
„Wenn man die Praxis des Buddha-Dharma erlernt, ist es von höchster Priorität, das Gesetz von Ursache und Wirkung zu klären.“
Wer diesen Zusammenhang leugne, erzeuge sehr wahrscheinlich eine falsche Sichtweise, die nach Vorteil und Profit strebt und die guten Wurzeln des eigenen Lebens zerschneidet. Ursache und Wirkung unterliegen nicht der Willkür eines Menschen und sind nicht beliebig zu manipulieren. Nach Dōgen handelt es sich um ein Gesetz von lebendiger Klarheit: Menschen, die Schlechtes begehen, sinken ab; Menschen, die Gutes praktizieren, steigen auf. Dies gelte ohne Ausnahme und ohne Abweichung.

Ohne das Gesetz von Ursache und Wirkung sei es unmöglich, dass die Menschen überhaupt dem Buddha begegnen und den Dharma hören. Wenn man den Zusammenhang von Ursache und Wirkung ablehnt oder vernachlässigt, dringt das „Gift dieser falschen Sichtweise“ in Körper und Geist ein. Es verdunkelt unser Leben, ohne dass wir dies zunächst bemerken. Daher ist die eigene Klarheit über Ursache und Wirkung so außerordentlich wichtig und steht am Anfang, in der Mitte und am Ende des Buddha-Weges. Das Gesetz von Ursache und Wirkung ist unabhängig davon, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Schön denken und reden aber unmoralisch handeln können dieses Gesetz nicht täuschen. Um das zu vermeiden gibt uns die Zazen-Praxis großer Kraft und Klarheit.