(Yudo J. Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner)
Der
große indische Meister Nâgârjuna
verfasste etwa im ersten Jahrhundert nach der Zeitenwende das berühmte und
fundamentale Werk Zum Weg der Mitte und
zur Leerheit (in Zukunft MMK genannt),
das maßgebliche Grundlage des Mahâyâna-Buddhismus und nicht zuletzt des
tibetischen Buddhismus wurde und auch in Ostasien in neuerer Zeit zunehmend vertieft
analysiert wird. So haben G.W. Nishijima und
Brad Warner kürzlich eine Übersetzung
und Interpretation des MMK vorgelegt, die ganz neu ansetzt und sich von den
bisherigen traditionellen Fassungen des MMK deutlich unterscheidet. Die
Fachwelt hat entsprechend unterschiedlich reagiert: die Kommentare reichen von
begeisterter Zustimmung bis zu heftiger Kritik.
Mit
G. W. Nishijima habe ich selbst mehrere Jahre an dem Verständnis und der
Übersetzung des MMK gearbeitet. Als sein Dharma-Nachfolger sehe ich es als
meine Aufgabe an, diese Arbeiten fortzusetzen und mögliche Ungenauigkeiten zu
beheben, weil ich überzeugt bin, dass er auf der Grundlage seiner
jahrzehntelangen tiefen Erfahrung der buddhistischen Lehre und Praxis
Wesentliches für das Verständnis des MMK beizutragen hat.
Da
meine Sanskrit-Kenntnisse für diesen schwierigen Text des MMK nicht ausreichen,
habe ich eine Zusammenarbeit mit einer erfahrenen Indologin begonnen, um sicher
zu sein, dass sich bei der Übersetzung keine grammatikalischen Fehler
einschleichen und die Semantik der Schlüsselbegriffe korrekt wiedergegeben wird.
Bekanntlich weist Sanskrit eine für unsere Verhältnisse hohe Komplexität der
Grammatik auf: Es gibt z. B. acht Fälle in der Deklination. Zudem ist die
semantische Bandbreite der Sanskrit-Vokabeln ungewöhnlich weit aufgefächert,
und dies erklärt sicher nicht zuletzt die große Varianz der Übersetzungen und
Interpretationen des MMK. Ich folge dabei konsequent der Methode G. W. Nishijimas,
der sich auf die verlässlichen Lexika des Sanskrit stützt und nicht ungeprüft
die geläufigen tradierten Bedeutungen der Schlüsselbegriffe des MMK übernimmt.
Ein
zentraler Begriff des Buddhismus ist zweifellos pratitya samutpada, das üblicherweise als abhängiges Entstehen übersetzt wird. Wie Joanna Macy überzeugend nachgewiesen hat, ist diese Übersetzung
durchaus kritisch zu sehen, da sie eine Abhängigkeit nur in einer Richtung von einer Ursache zu einer Wirkung suggeriert,
also unidirektional ist. Unter
Verwendung der zeitgemäßen Systemtheorie, die z. B. in den Neurowissenschaften
aber auch in der Ökologie von zentraler Bedeutung ist, plädiert sie dafür, pratitya samutpada als Wechselwirkung zu verstehen, also eine Rückkopplung zu fordern und nicht nur
eine unidirektionale Wirkung zu unterstellen. Dies entspricht der
ursprünglichen Bedeutung in Pali und Sanskrit. Sie nennt diese Wechselwirkung mutual causality, das in Deutsch etwa mit
dem Begriff Wechselwirkung oder genauer wechsel-wirkendes
Entstehen bezeichnet werden kann. Ich möchte ihrer Argumentation folgen.
In
ähnlicher Weise arbeitet der Neurowissenschaftler, Systemtheoretiker und
Buddhist Francisco J. Varela in
seinem fundamentalen Werk „Der Mittlere Weg der Erkenntnis“ heraus, dass die
moderne Systemtheorie mit den wesentlichen Aussagen des Buddhismus und
insbesondere von Nâgârjuna übereinstimmt oder zumindest harmoniert. Bemerkenswert
ist dabei, dass Varela eng mit dem Dalai
Lama und auch mit dem deutschen Gehirnforscher Wolfgang Singer zusammenarbeitete. Er hatte zusammen mit Humberto R. Maturana vorher das Bahn brechende
Buch „Der Baum der Erkenntnis“ verfasst, das wesentliche Fortschritte der
Systemtheorie für lebende biologische Systeme erbrachte. Da sowohl Macy als
auch Varela tief im Buddhismus verankert sind, kann ihren Arbeiten zur
Modernisierung des Buddhismus durch die Neurowissenschaft und Systemtheorie
hohes Vertrauen entgegen gebracht werden. Ich möchte auch anmerken, dass Joanna
Macy wie ich selbst jahrzehntelang in der Ökologie und im Umweltschutz tätig
war.
Nâgârjuna
arbeitet im ersten Kapitel des MMK heraus, dass der Kosmos und alles uns
Bekannte immer in Wechselwirkung entstehen und niemals isoliert aus sich selbst
allein entstanden und erwachsen sind. Er verwendet dafür im Vorspann des MMK
den Begriff pratitya samutpada also
das Entstehen, Wachsen und Lernen in Wechselwirkung und in Vernetzung. Nach der
buddhistischen Lehre gibt es keinen unveränderlichen „Kern“ des Menschen, der
altindisch Atman genannt wurde,
sondern der Mensch besteht aus fünf veränderlichen Komponenten, den Skandas: Form, Gefühl, Wahrnehmung,
formende Kräfte/Handeln und Bewusstsein. Diese Komponenten sind wechsel-wirkend
vernetzt, also nicht isoliert und eigenständig überlebensfähig, sondern wirken
im Menschen immer zusammen.
Nâgârjuna
untersucht im zweiten Kapitel des MMK den scheinbar einfachen Vorgang des
Gehens, wahres Gehen, und entwickelt
daran grundlegende buddhistische Gedanken auf Grund praktischer Erfahrungen für
sein gesamtes folgendes Werk. Daher ist es von großer Bedeutung, dieses Kapitel
über wahres Gehen gründlich und sorgfältig zu analysieren und die
Fundamentalaussagen der lebendigen kreativen Wechselwirkung einzubeziehen, also
jede Art von unabhängigen isolierten Eigenwesen oder Selbst-Sein des Menschen zu vermeiden, in Sanskrit heißt dies svabhava. Dadurch würde die Wirklichkeit
des Menschen, der Erde und des Kosmos buddhistisch und systemtheoretisch
verengt, sodass wesentliche Zusammenhänge nicht mehr erkannt werden könnten und
vor allem der buddhistische Erlösungsweg blockiert wäre. Daraus ergibt sich
zwingend, dass der Mensch im sozialen Bereich und in seiner Umwelt ebenfalls
wechselwirksam vernetzt ist, also niemals isoliert leben und überleben kann.
In
der obigen Abbildung habe ich diese Zusammenhänge durch die jeweiligen Pfeile
dargestellt, die sowohl von der Umwelt als auch von dem Boden/Untergrund, auf
dem ein Mensch geht, in beiden Richtungen
zeigen. Dafür kann man z. B. für das Körperliche eine ganz einfache Erklärung
anführen: wenn man geht, braucht man einen Untergrund oder Boden, auf dem man
gehen kann, sonst können wir überhaupt nicht gehen, und wenn wir gehen, müssen
wir atmen, also die Luft aus der Umwelt einatmen, den Sauerstoff für unseren
Körper entnehmen und die verbrauchte Luft wieder auszuatmen. Aber die
Wechselwirkung mit der Umwelt geht natürlich weit darüber hinaus, insbesondere
wenn wir uns neben dem Körper die anderen Komponenten/Skandas anschauen z. B.
die Wahrnehmung. Wir können unseren Weg in der Welt nur finden, wenn wir sehen
oder anders wahrnehmen, wie der Weg begrenzt oder markiert ist, auf dem wir
gehen. Ohne Wahrnehmung also keine Bewegung, kein Gehen und kein
Vorwärtskommen. Gleiches gilt natürlich für die formenden Kräfte und das
Handeln beim Gehen selbst und für unser Bewusstsein, dass wir nämlich wissen
und erinnern, welches der richtige Weg ist und wie wir wieder zurück finden.
Wir
müssen nun die zentrale Frage stellen, ob es im wissenschaftlichen Sinne eine
Systemgrenze des Menschen gibt und wie er mit seiner Umwelt wechsel-wirkend
interagiert. Ich habe daher in der obigen Abbildung den Menschen symbolisch als
durchbrochenen offenen Kreis dargestellt und will damit ausdrücken, dass es
sowohl eine relative Abgrenzung gibt,
als auch eine notwendige Offenheit
und Durchlässigkeit zur Umwelt und zu anderen Menschen. Die Systemgrenze hat nach
Maturana/Varela also eine doppelte
Funktion, sie schützt in einem gewissen Maße die inneren interaktiven
Prozesse des Lebewesens und seiner inneren Teilsysteme selbst und ist auf der
anderen Seite existentiell zwingend mit der Umgebung und anderen Systemen gekoppelt.
Wenn sich z. B. ein Mensch hermetisch abschließt, muss er sterben und zwar sowohl
körperlich als auch sozial und psychisch. Umgekehrt ist eine völlig
hemmungslose Offenheit gegenüber allen Einflüssen der Umgebung falsch und führt
ebenfalls in die Katastrophe.
Es
muss also ein lebendiges gutes
Gleichgewicht zwischen Abgrenzung und Schutz einerseits und Offenheit und
Interaktion andererseits wirksam sein, und es ist sicher nicht unsinnig, dies
als Mittleren Weg und Gleichgewicht zu bezeichnen. Beide Extreme, die im Buddhismus und insbesondere bei Nâgârjuna immer
wieder als falsch herausgearbeitet werden, sind unsinnig: die totale Isolation
und die totale schutzlose Offenheit. Dabei wird bereits die spannende Frage
angerissen, dass es für die im Buddhismus gelehrte Offenheit gegenüber Allem in
der Welt und insbesondere anderen Menschen einer inneren Stärke und Ruhe bedarf, um nicht von zerstörerischen oder
kriminellen Kräften fundamental geschädigt zu werden. Der buddhistische
Entwicklungsweg hat also den wesentlichen Sinn durch Meditation,
Selbstbeobachtung und fortlaufendes Training die eigenen menschliche Kräfte und
Kapazitäten zu entwickeln, um die Offenheit, Hilfsbereitschaft zu stärken und
zu ermöglichen, die notwendig sind, für den Weg der Befreiung und
Unabhängigkeit.
Die
genannten Zusammenhänge habe ich in der obigen Zeichnung versucht zu
skizzieren. Dies mag zunächst einen naturwissenschaftlichen Anschein erwecken,
geht aber m. E. über eine enge materielle Sicht weit hinaus. Die dargestellte
Situation integriert die buddhistische Lehre von pratitya samutpada und den fünf Skandas
mit dem heutigen Wissen der Systemtheorie, Ökologie und Neurowissenschaften,
und dies ist nicht zuletzt das große Anliegen des Dalai Lama.
Wenn
also ein wahres Gehen im Sinne des Buddhismus und Nâgârjunas gelingt, muss dies
immer in der Einheit mit dem Boden und der Umwelt sein. Dabei wird im zweiten
Kapitel des MMK mehrfach herausgearbeitet, dass die Erinnerung an früheres
Gehen und zukünftiges zu erwartendes Gehen nicht so wesentlich ist, wie das
Gehen genau im jetzigen Augenblick: Erinnerung und Erwartung sind gerade kein wirkliches Gehen. Wichtig ist auch
zu erwähnen, dass wir etwas ganz Natürliches tun, wenn wir gehen, eine
natürliche Bewegung, die uns weitgehend überhaupt nicht bewusst ist.
Wir
wissen aus den Neurowissenschaften, welche gewaltige Leistungen der Informationsverarbeitung für den
einfachen Vorgang des Gehens erforderlich sind, nicht zuletzt weil das Gehen
selbst ein Gleichgewicht ist, das nur auf unseren zwei Beinen und zwei Füßen
zusammen mit dem Bewegungsablauf auch der Arme und anderer Teile des Körpers
geleistet wird., Wie haben bekanntlich nicht wie bei vielen Tieren vier oder
mehr Beine zur Verfügung, die eine physikalische Stabilität einfacher
ermöglichen. Gehen ist in seiner Funktion selbst immer ein Gehen im
Gleichgewicht, in einer Umwelt, die permanent einbezogen wird, ob wir davon
wissen oder nicht. Dies ist m. E. auch ein fundamentales
Gleichnis für den Buddhismus in der Praxis und Theorie selbst. Die
Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit des Gehens ist analog zu verstehen,
wie die unmittelbare Fähigkeit, Leid zu
erkennen und anderen zu helfen, die im Bodhisattva-Ideal
nicht zuletzt von Nâgârjuna selbst herausgearbeitet wurde: unmittelbares klares Handeln im
Augenblick.
In
der Systemtheorie wird für intelligente Systeme, die wechsel-wirkend vernetzt
sind, der Begriff der Selbstorganisation
verwendet. Er bedeutet, dass ein lebendes System sich genau so selbst
organisiert, dass es weiter lebt, sich also selbst in seiner lebenden Art und
Weise erhält. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass es im Detail immer identisch
bleibt, sondern dass lediglich eine gewisse Grundstruktur da ist. Alle
biochemischen und informationellen Prozesse verändern sich dauernd und sind mit
einander im Austausch. Wenn man also die wissenschaftliche
Dimension von pratitya samutpada
betrachtet, kann man dafür auch den Begriff der Selbstorganisation sinnvoll verwenden. Im buddhistischen Sinne geht
es darum, den Befreiungsweg in der Form der Selbstorganisation und dauernden
Veränderung zu gehen, sich also weiterzuentwickeln, die eigenen kreativen
Möglichkeiten zu entfalten und zerstörerische
Extreme zu vermeiden. Wenn Lebewesen in eine Extremsituation getrieben werden, können sie sich meistens nicht
regenerieren und müssen vorzeitig sterben. Selbstorganisation heißt daher auch
immer im Gleichgewicht zu interagieren.
Der
buddhistische Erlösungsweg der Mitte des MMK von Nâgârjuna geht über die
naturwissenschaftliche Dimension hinaus, allerdings verlaufen alle natürlichen
lebenden Prozesse nach meiner festen Meinung immer im Einklang mit den Naturprozessen, die zum Beispiel von der Naturwissenschaft
erforscht werden. In diesem Sinne behandelt Nâgârjuna im MMK keine Wundergeschichten, die dem
ganzheitlich verstandenen Logos widersprechen. Nishijima Roshi spricht in
diesem Zusammenhang gern von umfassender
intuitiver Intelligenz im Gegensatz zur linearen einfachen Intelligenz, auf
die wir im Westen so viel Wert legen.