Kaccānagotta
suttaṃ
(Aus meinem neuen Buch "Sternstunden des Buddhismus")
Wir
sind heute mehr denn je in Gefahr, von einem Extrem ins andere zu fallen, und
dabei werden wir immer unruhiger und zielloser. Die Extrem-Berichterstattung
der Massenmedien verunsichert dabei zusätzlich, gewollt oder nicht. Im Ausland
wird das die German Angst genannt,
aber solche latente permanente Angst gibt es sicher in allen Industrienationen,
gepaart mit dem geistigen Zerhacken des Multitasking und der Cyber-Sucht. Keine
Frage: Wir müssen unsere Mitte wieder-entdecken.
Was
kann nun der Buddhismus zur Lösung dieses Problems beitragen? Es heißt doch,
dass durch Buddha und den großen indischen Meister Nâgârjuna der Mittlere Weg gelehrt
wurde. Um der hoch brisanten Frage unserer verlorenen Mitte nachzugehen, haben ich den wohl wichtigsten Text Buddhas zu diesem Problem vertieft analysiert und bin dabei auf den Urtext des suttas der Lehre für Kaccāna zurückgegeangen. Peter Gäng hat mir dafür
dankenswerter Weise seine sehr wörtliche Übersetzung aus dem
altindischen Pali, der Sprache Buddhas, zur Verfügung gestellt,
die ich modifiziert und als Ausgangspunkt für diesen Text
verwendet habe. Ich halte diese Arbeitsweise der präzisen Übersetzung für sehr wichtig ja
notwendig, um unsachgemäße Verkürzungen und Veränderungen auszuschalten, die
sich in jeder Tradition oft unerkannt einschleichen. Der Buddhismus macht dabei
keine Ausnahme.
Wie
es heißt, begab sich ein Mitglied des Hauses Kaccāna zu Buddha, der in dem Ort Savatthi weilte, um ihn zur Bedeutung der rechten Sichtweise in seiner Lehre zu befragen. Der Ausdruck der
„rechten Sichtweise“ erscheint u. a. als erstes Glied des Achtfachen Pfades und
ist dort die wesentliche Grundlage der sieben weiteren Glieder. Und es fragt
sich in der Tat, was mit rechter
Sichtweise eigentlich gemeint ist. Auch im fundamentalen Text des Mittleren
Weges von Meister Nâgârjuna, MMK, kommt dieser Frage eine zentrale Bedeutung
zu, nicht zuletzt weil in einem Kapitel dieses fulminanten Werkes, und als
einziges explizit, auf diese sutta verwiesen wird. Es ist daher auch ein
wesentlicher Schlüssel für das ganze Werk des berühmten MMK. Die falschen Sichtweisen
und falsche Doktrinen aus der Sicht Buddhas werden zudem im MMK in anderen
Kapiteln beschrieben.
Die
rechte Sichtweise beschreibt konkret, genau das, was man mit dem rechten Geist
und der rechten Wahrnehmung in dieser Welt sieht und erkennt. Was Buddha mit
„recht“ ausdrückt, werde ich noch kurz erläutern. Im englischen Sprachraum wird
für eine derartige pragmatische Sichtweise häufig der Begriff „empirisch“ verwendet, der allerdings m.
E. im deutschen Sprachraum sehr eng für quantitative naturwissenschaftliche
Analysen und Forschung verwendet wird. Ich halte ihn daher für weniger
geeignet. Er wäre in der Lehre der vier Lebens-Philosophien Nishijima Roshis
die materielle Sicht, die als Teil-Wahrheit und Teil-Realität einzustufen ist.
Der
Gegensatz hierzu wird im englischen Sprachraum meistens als „metaphysisch“ bezeichnet und bedeutet
dort nicht empirisch oder pragmatisch
sondern spekulativ, ideologisch und
realitätsfremd. Metaphysische Zusammenhänge können in dieser Terminologie weder
beobachtet noch erfahren werden.
Ich
möchte im Deutschen dieses Begriffs-Paar nicht verwenden, da die Empirie in der kontinentalen Philosophie
eine andere und viel zu enge Bedeutung für Buddhas Texte hätte. Die Metaphysik wird im angelsächsischen
Bereich im Allgemeinen heftig, grundsätzlich kritisiert und wenig beachtet,
während sie in der europäischen Philosophie eine hohe Bedeutung hat und zur
Abgrenzung gegenüber der Naturwissenschaft und Technik verwendet wird. Wir
möchten daher in Deutsch den Begriff der Phänomenologie
verwenden, der eine sehr genaue Beobachtung beinhaltet aber nicht durch zu enge quantitative Aussagen nach
Zahl, Maß und Gewicht beschränkt ist.
Die
Phänomenologie verliert sich aber nicht in reinen Spekulationen und romantischen
Fantasien, die im englischen Sprachraum etwa mit Metaphysik gekennzeichnet
werden. Nâgârjuna geht nämlich im MMK recht pragmatisch und nüchtern vor, er
verfällt aber auch nicht in eine zu enge materielle Sicht und verliert sich
schon gar nicht in Spekulationen und romantischen Ideologien. Typische Begriffe
für ihn sind „wird nicht gefunden“ und
„wird gezeigt“ und kennzeichnet seine
pragmatisch nüchterne Beobachtung. Falsifizierungen, die in sich
widersprüchlich und unlogisch sind, werden bei ihm dagegen meistens als „passt
nicht“ gekennzeichnet.
Kernpunkte dieses suttas, was die rechte Sichtweise
ist, sind die Aussagen Buddhas über Existenz
und Nicht-Existenz.
Nun zum
authentischen Text:
Buddha
weilte in Sāvatthi.
Da nun
begab sich der ehrwürdige Spross aus dem Hause Kaccāna dorthin, wo der Erhabene
sich befand. Nachdem er sich dorthin begeben und den Erhabenen ehrfürchtig
begrüßt hatte, setzte er sich zu seiner Seite nieder.
An der
Seite sitzend, sprach nun der ehrwürdige Spross aus dem Hause Kaccāna zum
Erhabenen also:
"Rechte Sichtweise, rechte Sichtweise, Herr, sagt man.
Was, Herr, ist nun die rechte Sichtweise?"
Buddha
antwortete:
"Die Welt ist üblicherweise auf zwei Bereiche und Ansichten
gestützt, verehrter Kaccāna:
- auf die Ist-heit (unveränderliche Existenz)
- auf die Nicht-ist-heit (Nicht-Existenz, das Nichts).“
Im Buddhismus gibt es die Grundwahrheit, dass sich
alles verändert, im Wandel ist und dass es nichts Dauerhaftes und Ewiges gibt. Das
mag Idealisten und Romantiker vielleicht enttäuschen, aber leuchtet bei klarer
Betrachtung der Wirklichkeit direkt ein: besonders für Lebewesen, die sich
selbst dauernd verändern, einen Stoffwechsel haben, eine Informations-Verarbeitung
im zentralen Nervensystem oder auch nur steuernde Ganglien im Rückenmarks besitzen.
Aber die Veränderung gilt natürlich auch für die Materie. Wir wissen, dass
unsere Erde etwa sechs Milliarden Jahre alt ist und sich dauernd verändert.
Dazu gehören nicht nur Vulkanausbrüche, Wärme- und Kaltperioden, sondern auch
Katastrophen wie die Sturmfluten, Tsunamis, Hurrikans, Einschläge von
Meteoriten usw.
Jeder der die Welt beobachtet und nur etwas darüber
nachdenkt, wird dem zustimmen, dass es über längere Zeitperioden immer
Veränderungen gibt. Diese können beim Menschen Veränderungen zum Schlechteren, zum Beispiel bei
Krankheiten, Trennungen, depressiven Phasen oder Verarmungen sein, es können
aber auch Veränderungen zum Besseren
sein, zum Beispiel durch Lernprozesse, Befreiungsprozesse, materiellen
Fortschritt, eine neue gute Partnerschaft, Genesung usw..
Es ist klar, dass es keine dauerhafte unveränderliche Existenz in der Welt geben
kann, weder bei der Materie noch bei den Lebewesen. Nur wenn man sich eine
ideelle oder religiöse Andersartigkeit vorstellt, zum Beispiel einen Gott, den
Aristoteles den „Unbewegten Beweger“ nennt, gäbe es dauerhafte Existenz. Buddha
und Nâgârjuna konzentrieren sich jedoch auf diese Welt der Beobachtungen und
Erfahrungen unseres Lebens, in dem es eben keine
dauerhafte Existenz gibt.
Buddha
erläuterte dem verehrten Kaccāna nun
diese beiden extremen Alternativen, die sich vielleicht einfach anhören, aber
nicht so einfach zu verstehen sind, wie man zunächst annimmt. Sie sind für die
fundamentale Lehre des Mittleren Weges aber von größter Bedeutung und wesentliche
Grundlage des MMK von Nâgârjuna.
Buddha
erläuterte:
„Jemand betrachtet mit rechter Erkenntnis das Entstehen
der Welt, wie sie geworden ist. Für ihn ereignet sich richtiger Weise nicht
dasjenige, was in der Welt die Sichtweise der Nicht-Existenz genannt
wird. Es ereignet sich kein Entstehen aus der Nicht-Existenz.
Das wäre nämlich die extreme Ansicht des Nichts.“
Was mit der
extremen Ansicht der einseitigen Existenz
gemeint ist, die vermieden werden soll, wird noch genauer untersucht.
Philosophisch nicht weniger schwierig ist die Frage,
was es mit der Nicht-Existenz auf
sich hat. Das wäre nämlich das Nichts und
könnte unbemerkt in einen diffusen Nihilismus abgleiten. Aber lässt sich das
Nichts beobachten und erfahren?
Nach meiner Ansicht ist so ewas in der Wirklichkeit kaum möglich, sondern es
ist lediglich als Kontrast zu der Realität und als Idee und Denken in unserem Gehirn möglich. Das Nichts macht auf der
Wort- und Denk-Ebene Sinn als Gegenpol zur erfahrbaren Wirklichkeit. Es macht aber
wenig Sinn zu behaupten, es gebe überhaupt nichts
auf der Welt, es gebe daher keine Realität und keine Wahrheit. Ein solcher
Nihilismus ist zudem äußerst unpraktisch und führt in die Verwirrungen oder in
Schein-Argumentationen. Die Lösung des Nihilisten wäre nur der Suizid.
Schon Aristoteles empfahl, dass man mit einem
Nihilisten, der behauptet, es gäbe keine Wirklichkeit, ins Gebirge an eine
steile Schlucht gehen solle und ihm sagen: Es gibt wie Du sagst keine
Wirklichkeit, dann mach doch einen Schritt vorwärts, weil es ja den Abgrund und die steile Klippe vor dir
gar nicht gibt. Kein Mensch, der nicht Suizid begehen will, würde einen solchen
Schritt tun. Wenn er aber den Schritt nicht tut, hat er seine eigene
Weltanschauung eines Nihilisten ad absurdum geführt.
Buddha
erläutert die Nicht-Existenz in dem ersten Teil seiner Antwort für den jungen Kaccāna. Er
benutzt dabei die Begriffe „rechte Erkenntnis des Entstehens in der Welt“, hat
daher ein Weltbild der positiven Veränderungen und Prozesse und nicht der unveränderlichen
Entitäten und Substanzen zu Grunde gelegt. Dies nennt er die rechte Erkenntnis
des Entstehens.
Die
Sichtweise der Nicht-Existenz lehnt Buddha hier eindeutig ab und präzisiert,
dass dies besonders wichtig ist, wenn man das Entstehen bedenkt und es genau beobachtet.
Es ist also nicht sinnvoll, wenn wir
sagen, es entsteht irgendwas aus dem
Nichts und aus der Nicht-Existenz.
Denn in den Prozessen und Abläufen auf der Welt gibt es immer ein Vorher, aus
dem sich das Nachfolgende entwickelt. Dies gilt insbesondere im wechsel-wirkenden
Entstehen, das in der Präambel des MMK genannt wird. Wenn man daher das
Entstehen in dieser Welt beobachtet und selbst erfährt, ist es unsinnig zu
sagen, dass es sich aus einer Nicht-Existenz
entwickelt.
Buddha
fährt fort:
„Jemand betrachtet mit rechter Erkenntnis das Vergehen
der Welt, wie sie geworden ist. Für ihn ereignet sich richtiger Weise nicht
dasjenige, was in der Welt die Sichtweise der Existenz genannt wird. Es
ereignet sich kein Vergehen aus der Existenz.“
Etwas dauerhaft
Existierendes, also die Sichtweise der Existenz, ist ebenfalls nicht zu
beobachten und nicht erfahrbar. Daher ist es unsinnig zu sagen, dass etwas
vergeht, das vorher eine dauerhafte Existenz hatte, denn dieses ist ein
Widerspruch in sich: Wenn etwas existiert und dauerhaft da ist, kann es sich
nicht verändern und nicht vergehen. Nâgârjuna untersucht an vielen Stellen im
MMK die Weltanschauungen einer dauerhaften Existenz oder Substanz, die unveränderlich sei und zudem isoliert für sich allein
existieren könne. So etwas ist nicht zu beobachten und kann auch nicht erfahren
werden.
Das wäre
nämlich die extreme Sicht einer ewigen dauerhaften Ich-Substanz wie der
altindische Glaube des âtman.
Eine solche
extreme Sichtweise der Existenz ist ebenfalls zu vermeiden
Beide
Extreme der Nicht-Existenz und der Existenz müssen in der Lebenspraxis vermieden werden. Sie sind
Denk-Konstrukte unseres Gehirns, die sich von der Wirklichkeit und der
Wahrnehmung entfernt haben und können bei genauer Beobachtung ohne Vorurteile
in der Welt nicht gefunden werden.
Eine solche Sichtweise und gründliche Analyse möchten wir phänomenologisch nennen. Dass MMK ist also die Phänomenologie des Mittleren Weges ohne die Extreme der Existenz
und Nicht-Existenz.
Diese beiden Extreme können in der Welt nicht
beobachtet werden und sind real nicht erfahrbar. Gleichwohl ist immer wieder
eine Tendenz festzustellen, in diese beiden Extreme zu verfallen und damit die
Prozesshaftigkeit und Vernetzung zur Welt außer Acht zu lassen. Das ist nicht
zuletzt eine Fiktion, die vor Allem durch unsere Sprache bedingt ist. Durch diese
mangelnde Fähigkeit, die Realität zu sehen und zu erfahren wie sie ist,
entstehen für uns Menschen große Gefahren, die zu Leiden und Schmerz führen.
Unseres Erachtens ist dies genau der Grund, warum Gautama Buddha die
altindische Vorstellung eines unveränderlich existierenden Selbst, des
Ich-âtman, abgelehnt hat. Sie schadet den Menschen viel mehr als sie nützt.
Buddha
erläutert weiter:
„Kaccāna, diese Welt ist ja zumeist durch Aufsuchen,
Ergreifen und Dabei-Verharren gefesselt.
Jemand hat aber nun die rechte Sichtweise, der jenes
Aufsuchen und Ergreifen, das Darauf-Richten und Einengen des Denkens, sein
Eindringen und Darin-Beharren gerade nicht aufsucht, nicht ergreift, und sich
nicht darauf richtet.
Denn die rechte Sichtweise ist: „Dies ist nicht mein Ātman“
und nicht meine dauerhaften Selbst-Existenz oder Ich-Substanz.
Buddha fasst noch einmal zusammen, dass es der
prozesshaften realen Welt nicht entspricht, wenn wir etwas als Dauerhaftes ergreifen wollen und uns damit
der natürlichen Veränderung entgegenstemmen. Eine solche Weltanschauung erlaubt
selbstverständlich keine Lernprozesse, deren typisches Merkmal ja gerade die
positive Veränderung zum Besseren ist.
Der Glaube oder die Sucht nach Unveränderlichkeit und
Dauerhaftigkeit ist also eine Sackgasse, die zu Leiden, Verkrampfungen und psychischen
sowie physischen Schmerzen führen muss. Das Gegenteil davon ist eine lebendige
Entwicklung, die heute gern als Flow bezeichnet wird. Dabei ist entscheidend,
dass der Mensch sich in diesem Fließen und in dieser Veränderung wohl fühlt und
vor allem Entwicklungs-Prozesse nicht nur laufen lässt, sondern aktiv und auch
bewusst steuert: Wir brauchen für unsere Veränderungen eine wirkungsvolle
Selbst-Steuerung.
Buddha
fährt zu Kaccāna gewandt fort:
„Leiden ist eben, was entstehend entsteht, Leiden ist
eben, was vergehend vergeht.“
Leiden ist
also kein Ding und keine dauerhafte Entität und entsteht und vergeht bei dem
Prozess des Leidens.
„Dies ist rechte Sichtweise für jemanden, der nicht unsicher
ist, nicht zweifelt und dessen Wissen nicht von Anderem abhängig oder durch
Andere bedingt ist.
Buddha kommt damit auf das Leiden zu sprechen und
sagt, dass es wie jeder lebende Prozess
entsteht und vergeht. Das bedeutet, dass wir das Entstehen soweit wie irgend möglich frühzeitig beobachten und
vermeiden und das Vergehen des Leidens aktiv
erlernen und unterstützen sollten. Diese Prozesse werden von Buddha den erstarrten Weltanschauungen von Existenz und
Nicht-Existenz gegenüber gestellt. Wer erkannt und wirklich realisiert hat,
dass es derartige Veränderungen zum Besseren gerade beim Leiden gibt, braucht
zudem Stabilität und innere Sicherheit, um sinnvoll zu leben. Diese Stabilität
lernt man vor Allem durch regelmäßige Meditation. Ein solcher Mensch ist also
nicht unsicher und zweifelt nicht, ist nicht von anderen abhängig und nicht
durch Ideologien und starre Weltanschauungen festgelegt.
„'Alles existiert', Kaccāna, ist das eine extreme Ende. 'Alles existiert
nicht', ist das andere extreme Ende. Diese beiden Extreme vermeidend,
verkündet der Tathāgata seine Lehre der Mitte zwischen diesen beiden
extremen Enden“:
Und wie
entwickelt sich nun die gesamte Masse des Leidens
aus dem Nichtwissen und aus den beiden Extremen?
- Das Nichtwissen bedingt die formenden Kräfte
- die formenden Kräften bedingen das Bewusstsein,
- Bewusstsein bedingt Name und Form,
- Name und Form bedingen den sechsfachen Bereich der Wahrnehmung,
- der sechsfache Bereich bedingt die Berührung,
- die Berührung bedingt Gefühl und Empfindung,
- Gefühl und Empfindung bedingen den Durst,
- der Durst bedingt das Anhaften,
- das Anhaften bedingt das Werden,
- das Werden bedingt die Geburt,
- die Geburt die ganzen Nöte und Störungen von Altern und
Sterben,
Kummer, Klagen,
Leiden.
- So geschieht das Entstehen der gesamten Masse des
Leidens.“
Nachdem
Buddha geklärt hat, dass die Weltanschauung sowohl der Existenz und als auch
der Nicht-Existenz unbrauchbar sind und dass Abhängigkeiten und gieriges Ergreifen
ebenfalls ins Unglück führen, erläutert er in der folgenden Einteilung und
Abfolge von zwölf Gliedern die Zusammenhänge im realen Leben der Menschen. Er
spricht zunächst davon, wie Menschen sich in ihrer Entwicklung verengen,
verhärten, erstarren und wie die „gesamte
Masse des Leidens“ entsteht.
Diese
Kette von Zusammenhängen wird in einigen Traditionen mit dem Glauben an eine
Wiedergeburt und eine Folge verschiedener Leben verbunden. Mir erscheint es
allerdings stimmiger und praktikabler die Abfolge auf ein einziges Leben
beziehen. Das hat den Vorteil, dass wir die Schritte der Abhängigkeiten oder im
Gegenteil der Befreiung klarer beobachten und erfahren können. Sicher ist für
die meisten von uns ein wirklich sonnenklares Wissen aus früheren Leben kaum
erreichbar. Auch Buddha selbst hat uns eindringlich davor gewarnt, uns viel mit
den beiden Fragen zu beschäftigen: „Was war ich im früheren Leben“ und „was
werde ich im nächsten Leben sein“. Das führt leider schnell zu ausufernden
Spekulationen und auch zum Macht-Missbrauch spiritueller Eliten.
Dieser
Ablauf, der ins Leiden führt, wird in einigen Traditionen von den obigen
Aussagen Buddhas dieses Textes abgekoppelt. Dem folge ich nicht. Denn der negative
Ablauf vollzieht sich nach diesem sutta gerade, wenn wir von den Ideologien der
Extreme von Existenz und Nicht-Existenz abhängen und wenn wir durch die drei
buddhistischen Gifte Gier, Hass und Verblendung unsere Selbst-Steuerung
verloren haben und erstarren. Wenn diese beiden Voraussetzungen der Existenz
und des Anhangens entfallen, findet der negative Ablauf dieser Zwölf Glieder
nicht statt, sodass unser Leben nicht ins Leiden führt. Im Gegenteil, das ist
der Weg der Befreiung.
Die Aussage zur Geburt in der obigen Aufzählung hat
sicher eine wesentliche Bedeutung beim Glauben an die Wiedergeburt und mehrere
Leben. Ich halte es jedoch für plausibel, dass Buddha dabei auch und gerade die
Teufelskreise und zwanghaften
Wiederholungen von Fehlern in unserem jetzigen
Leben benennt. Gerade psychische Verfestigungen und Wiederholungs-Zwänge von
falschem unethischen Handeln sind maßgebliche Gründe für das Leiden und die
fehlende Selbststeuerung in unserem Leben.
Besonders deutlich wird dies natürlich bei
Suchtabhängigen, die zum Beispiel dem Alkohol, Drogen, aber zunehmend auch
digitalen Süchten, die zu digitaler Demenz führen, verfallen sind. Man denke
nur an digitale Spielsysteme, die ganze Familien materiell, geistig und ethisch
zerstören oder an das Suchtverhalten bei den sog. sozialen Netzen, die eine
schwere Bedrohung für die menschliche Kommunikation im lebenden Dialog der
Empathie sind.
Dann ist der Weg der Befreiung in zwölf Gliedern
versperrt.
Aber wie
entwickelt sich aus der Auflösung des Nichtwissens und dem Vermeiden der beiden
Extreme die Befreiung?
„- Aus dem restlosen Verschwinden und dem Vergehen des
Nichtwissens
entsteht die Befreiung der formenden Kräfte;
- befreit von diesen formenden Kräften entsteht die
Befreiung des Bewusstseins,
- befreit von diesem Bewusstsein entsteht die Befreiung von
Name und
Form,
- befreit von diesem Namen und dieser Form entsteht die
Befreiung des
sechsfachen Bereichs der Wahrnehmung,
- befreit von diesem sechsfachen Bereich entsteht die Befreiung
der
Berührung,
- befreit von dieser Berührung entsteht die Befreiung von
Gefühl und
Empfindung,
- befreit von diesem Gefühl und dieser Empfindung entsteht
die Befreiung
vom Durst,
- befreit vom Durst entsteht die Befreiung vom Anhaften,
- befreit vom Anhaften entsteht die Befreiung von Werden,
- befreit vom Werden entsteht die Befreiung von Geburt,
- befreit von der (Angst der) Geburt entsteht
- die Befreiung von den ganzen Nöten und Störungen von
Altern und
Sterben, Kummer, Klagen, Leiden.
So geschieht die Auflösung der gesamten Masse des
Leidens.“
Von zentraler Bedeutung für die unglücklichen
Veränderungsprozesse zum Leiden sind die von Buddha genannten falschen Extreme
der totalen Existenz und der totalen Nicht-Existenz, also dem Anhaften an Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit
im Leben oder an dem Nichts und dem
Nihilismus. Dabei sind die treibenden Kräfte die Unwissenheit über die
Wirklichkeit und nicht zuletzt Gier und Hass.
Wenn unser Geist und unsere Gefühle aber nicht von
den Extremen der Existenz und Nicht-Existenz besetzt sind und uns keine fatalen
Abhängigkeiten und kein fixiertes Anhaften kettet, kann es „restloses Verschwinden und Vergehen des
Nicht-Wissens“ geben und daraus „entsteht
die Befreiung der formenden Kräfte“, die maßgeblich für Antrieb, Willen und
Handeln in unserem Leben sind. Für eine sinnvolle Selbst-Steuerung ist eine
solche Befreiung von zentraler Bedeutung.
Buddha nennt in diesem Sinne die Zwölf Glieder der
Befreiung und der Auflösung des Leidens. Dabei werden die verschiedenen
Bereiche des Menschen genannt: formenden Kräfte, Körper und Form, Namen und
Bezeichnungen, Wahrnehmung, Berührung und vor allem das Gefühl und die
Empfindung. Wenn die fixierenden Gefühle wie Gier und „Durst“ zur Ruhe gekommen
sind, kann der Befreiungsprozess jeweils weitergehen, wir sind dann vom
Anhaften und dem „Werden“ in Teufelskreisen befreit.
Zusatz vom 24.12.2018
In dem neuen Heft von Buddhismus Aktuell (BUDDHISMUS AKTUELL 1/2019, S. 58 ff.)
behandelt der bekannte Buddhologe Johannes Litsch die wichtige Frage, wie verlässlich wir eigentlich die Wirklichkeit erkennen. Er formuliert: "Wie wir unsere Wirklichkeit erschaffen". Er geht dabei ebenfalls detailliert auf das hier interpretierte sutta des Kaccâna ein, das die rechte Sichtweise und die Vermeidung von irrealen Extremen beinhaltet.
Zusatz vom 24.12.2018
In dem neuen Heft von Buddhismus Aktuell (BUDDHISMUS AKTUELL 1/2019, S. 58 ff.)
behandelt der bekannte Buddhologe Johannes Litsch die wichtige Frage, wie verlässlich wir eigentlich die Wirklichkeit erkennen. Er formuliert: "Wie wir unsere Wirklichkeit erschaffen". Er geht dabei ebenfalls detailliert auf das hier interpretierte sutta des Kaccâna ein, das die rechte Sichtweise und die Vermeidung von irrealen Extremen beinhaltet.