Freitag, 6. März 2020

Die heilende Bambusnadel der Zazen-Praxis


Im alten China wurden Bambus-Nadeln bei der Heilmethode der Akupunktur verwendet. Sie mussten genau an der richtigen Stelle am Körper angesetzt werden, um die gute Heilwirkung zu erzeugen. Dōgen vergleicht im Kapitel 27, Zazenschin,  des Shobogenzo die Übungspraxis des Zazen mit einer solchen heilenden Bambusnadel in der Akupunktur Er umreißt damit nicht nur die allgemeine Heilwirkung des Zazen, sondern sagt auch, wo und wie genau die „Bambusnadel“ gesetzt wird.

Er hält es sogar (!) für ausgeschlossen, dass man überhaupt Zugang zum wahren Buddhismus findet, wenn man nicht Zazen (in Sanskrit Samādhi) praktiziert. Ritsunen Linnebach schreibt in diesen Sinne: „Als ich dann 1982 im Zen-Zentrum von Meister Deshimaru zum ersten Mal mit gekreuzten Beinen und geradem Rücken vor einer weißen Wand saß, fühlte ich intuitiv und sehr stark, dass es das war, was ich immer schon gesucht hatte“

Um richtige und wirkungsvolle Akupunktur ausführen zu können, bedarf es aber einer sehr gründlichen Ausbildung, langjähriger Erfahrung und genauer theoretischer Kenntnis der geeigneten Körperstellen. Vor allem muss großes praktisches Können hinzukommen, damit die gute Heilwirkung wirklich eintritt.

Zunächst erklärt Dōgen anhand eines Gesprächs zwischen dem großen Meister Yakusan und einem Mönch, dass die Praxis des Zazen etwas anderes als das übliche Denken ist und darüber hinausgeht. Auf eine entsprechende Frage des Mönchs, was der Meister „im stillen-stillen Zustand denkt“ antwortet dieser:
Den wirklichen Zustand des Nicht-Denkens zu denken…Es ist Nicht-Denken.“

Dôgen fügt hinzu: „Wir sollten in der Praxis das Berg-stille Sitzen lernen, und wir sollten die authentische Übertragung des Berg-stillen Sitzens empfangen.“

Man sitzt dabei ruhig wie ein Berg, und das (übliche) unterscheidende Denken und Fühlen sind verschwunden. Dann ereignet sich bei der Zazen-Praxis die erste Erleuchtung, wie Meister Nishijima dies nennt. Hat man aber während des Zazen den bewussten Willen, etwas Bestimmtes zu erreichen, und treibt damit Denken und Fühlen in diese Ziel-Richtung. Dann kann sich die Zazen-Praxis nicht richtig entfalten. Dann kann sich die erste Erleuchtung gar nicht ereignen! Beim Zazen kommt es also darauf an, sich nicht durch eine bewusste Denkanstrengung einzuengen oder sogar zu verkrampfen, nicht durch willentlichen Willen die natürliche Kraft der Mitte auszuschalten. Dōgen stellt die Frage:

„Wie kann es möglich sein, dass in dem ganz ruhigen, stillen Zustand kein Denken vorhanden ist. Und warum verstehen (die Menschen) nicht den still-stillen Zustand jenseits (von Denken und Nicht-Denken)?“

Beim stillen, ruhigen Sitzen in der Zazen-Praxis müssen wir nach Dogen genau auf die richtige körperliche Haltung achten, darauf kommet es wirklich an: Den Kopf nach oben strecken und dabei den Blick schräg nach unten richten und zum Beispiel auf die weiße Wand vor und schauen. Die Augen sind dabei halb geschlossen. Dann ereignet sich das Nicht-Denken und Nicht-Fühlen. In der Sôtô-Tradition sitzt man vor einer weißen Wand. Dieser Zustand und dieses Handeln im Zazen sind nach Dôgen sogar jenseits der Verstandestätigkeit eines Buddha, des Dharma, jenseits aller intellektuellen Möglichkeiten und Vorstellungen. Dies wird nicht zuletzt durch die unmittelbare Übertragung des Dharma mit Körper und Geist vom Meister auf den Schüler, der damit ebenfalls Meister wird, in Gang gesetzt.

Es ist aber falsch zu sagen, das bewusste Ziel des Zazen bestehe darin, diese Ruhe des Geistes als willentliches Wollen unbedingt zu erlangen. Das wäre eine falsche Konzentration auf ein bestimmtes Ziel, würde zu kurz greifen und wäre ein grundsätzliches Missverständnis. Es kommt nur als erster Schritt für den Einstieg zum Zazen in Frage. Dōgen lehnt „Konzentrations-Zen“ für die Zazen-Praxis grundsätzlich ab und hat dies auch explizit formuliert. Die Meditationsübungen, die zum Beispiel im großen Sûtra der Achtsamkeit von Buddha  genannt sind, sind aber ganz wichtige Lernschritte hin zum Zazen im Sinne von Dôgen und Kodo Sawaki. Es besteht sonst die Gefahr, dass der Geist einengt würde und nur illusionäre Zustände und spekulative Traum-Vorstellungen erzeugt werden. „Konzentrations-Zen“ ist gerade kein Nicht-Denken im Sinne Dōgens. Genauso falsch wäre es zu sagen, dass die Zazen-Praxis zwar für Anfänger und fortgeschrittenen Schüler des Buddhismus notwendig sei, dass die Meister selbst aber nicht mehr Zazen praktizieren müssten. Bei den Meistern, so die unrichtige Begründung, seien nämlich alle Tätigkeiten des Alltags wie Gehen, Stehen, Liegen, Sitzen usw. bereits buddhistische Übungspraxis. Dazu gehöre auch die Praxis, sich zu unterhalten, sich auszuruhen, sich zu bewegen usw., denn bei allen diesen Tätigkeiten fühle sich der Meister glücklich und frei, weil er ja schon erleuchtet sei.

Zazen-Praxis bedeutet dagegen direktes wirkungsvolles Buddha-Handeln, ohne sich mit dem bewussten Ziel anzustrengen, selbst Buddha werden zu wollen. Dieses Buddha-Handeln übersteigt also das vorgefasste Ziel, ein wunderbarer Buddha werden zu wollen, so zentral ein solcher Entschluss zu Anfang der Praxis sein mag. Buddha-Handeln ist bereits die verwirklichte Welt und das verwirklichte Universum. Wenn man mit Gewalt ein Buddha werden will, verstrickt man sich allzu leicht in gedankliche „Netze und Käfige“ und die Kraft des Augenblicks der Zazen-Paxis kann sich nach Dôgen dann nicht entfalten und verschwindet.

Dôgen gibt hierzu ein Gespräch der beiden Meister Nangaku und Baso wieder. Baso, Schüler von Meister Nangaku, wurde, als er noch Mönch unter seiner Leitung war, von diesem gefragt:
„Was möchtest du erreichen, und welches Ziel hast du, wenn du Zazen praktizierst?“
Baso antwortete, dass er durch Zazen ein Buddha werden möchte.

Aber gibt es aus der Erfahrung von Dōgen überhaupt irgendein Ziel, das höher zu bewerten ist als der Zustand der Zazen-Praxis selbst? Sicher nicht. Dōgen wiederholt ganz eindeutig, dass Zazen letztlich keinem willentlich durch den Willen angestrebten Ziel dienen darf. Es ist Handeln und der Zustand beim Streben nach der Wahrheit für sich selbst ist, das sich selbst vollständig genügt. Man erfährt man, dass es sich genau ereignet, wenn man einmal die richtige Sitzhaltung eingenommen und die Vorstellung von Körper und Geist „fallen gelassen“ hat. Und Zazen klingt weiter nach, wie eine Glocke nach dem Anschlagen nachklingt.

Dōgen fragt weiter, ob es überhaupt einen sinnvollen Bereich der Wahrheit gegeben habe, der als Ziel angestrebt wurde und jenseits des Sitzens im Zazen liegt. Welches Ziel würde genau in dem Augenblick, in dem man Zazen praktiziert, überhaupt verwirklicht? Ein solches vorgestelltes Ziel und ein solches auf das Ziel fixierte Denken wären dasselbe wie das Bild eines Drachen im Verhältnis zum wirklichen Drachen. Ein derartiges angestrengtes Denken und die Verengung auf Ziele würden die unmittelbare Kraft und Fülle der Gegenwart des Zazen im Hier und Jetzt und Universum weitgehend zunichte machen. Der Geist würde vielleicht in weit entfernte, gedachte und idealisierte  Räume und Zeiten wegwandern und wäre nicht mehr unmittelbar wirksam. Die gut gemeinte idealistische Absicht, ein Buddha zu werden, würde den Menschen in sich selbst verstricken, und die wahre Zazen-Erfahrung könnte sich im gegenwärtigen Augenblick nicht ereignen entfalten und verwirklichen.

Gleichwohl sollte man die Absicht des Mönchs Baso, die im obigen Koān-Gespräch deutlich wird, nicht gering schätzen. Denn der starke Wille zur Wahrheit hat einen zentralen Stellenwert im Shōbōgenzō. Er wird in dem Kapitel zum Erwecken des Bodhi-Geistes herausgearbeitet, der auf den Weg des Buddha-Dharma führt. Ohne das Streben nach der Wahrheit kann man im Hin und Her des täglichen Lebens kaum je die wahre Richtung finden oder wieder finden. Es ist sehr wichtig die vielen menschlichen Irrtümer aufzudecken und Sackgassen zu vermeiden, die sich nicht zuletzt im sozialen Zusammenleben auftun. Wir brauchen unbedingt einen solchen Kompass.

In der obigen Geschichte ergreift Meister Nangaku, statt das Gespräch fortzusetzen, einen in der Nähe liegenden Ziegelstein und beginnt ihn an dem dortigen Felsen zu schleifen. Er erweckt damit den Eindruck, er wolle den Ziegel polieren. Dies ist aber materiell natürlich unmöglich. Auf die Frage des Mönchs Baso, was der Meister mit dem Schleifen des Ziegels denn eigentlich bezwecken wolle, antwortet dieser: „Ich poliere ihn, um einen Spiegel daraus zu machen.“ Diese Koan-Geschichte ist berühm im Chan- und Zen-Buddhismus. Baso erlebt bei diesem Handeln das große Erwachen. Das ist ohne Zweifel die Wirkung der Zazen-Meditation, die von unnützem Denken und Wollen befreit wurde. Diese Befreiung benötigt keinen Idealismus und nicht einmal die Theorie des Buddha-Werdens!

Nishijima Roshi lehrt im Sinne von Dōgen, dass die richtige Zazen-Praxis bereits selbst die erste Erleuchtung ist, und dies gilt sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene und auch für Meister. Es bedarf also keiner weiteren Absichten und willentlicher Ziele, wenn Körper und Geist die korrekte Haltung im Zazen einnehmen. Denn der Mönch Baso meditierte sicher in dieser richtigen Haltung mit geradem senkrechten Rückgrat. Sonst hätte er keine Erleuchtung erfahren. Man sollte zum Zazen nichts hinzutun oder wegnehmen. Im Zazen ereignet sich bereits die erste Erleuchtung, und in diesem Augenblick ist man Buddha! Dies ist die Bedeutung des absichtslosen Sitzens.


Es ist sinnlos, mit Worten über Illusion und Verwirklichung zu diskutieren. Auch das intellektuelle oder esoterische Streben nach einer vollständigen Erklärung oder logischer Zergliederung des Zazen führt nicht weiter. Dōgen schließt diesen Teil des Kapitels mit der Feststellung ab, dass bereits zu seiner Zeit und auch schon in früheren Zeiten nur wenige Menschen wirklich verstehen, dass Zazen eine solch großartige Übungspraxis. Sie bewirkt wie eine Bambusnadel in der Akupunktur große Heilwirkung. Nach heutiger westlicher Wissenschaft ist das die direkte heilende Einwirkung auf unser Faszien-System, das eine viel größere Bedeutung hat, als die wissenschaftliche Medizin früer wusste. Nicht umsonst spricht Meister Dogen, von Akkupunktur-Nadel des Zazen. Denn die umfassende Heilmethode von Medialen und Akkupunktur ist nicht nur theoretisch sondern auch praktisch in der östlichen Medizin und der Osteopathie eindeutig und ohne Zweifel erwiesen.

Für Dōgen ist die richtige Körperhaltung bei der Zazen-Praxis daher eine notwendige Voraussetzung für den Übungsweg des Buddha-Dharma. Er verwendet dabei das Gleichnis von einem Ochsenkarren: Alle denken, dass man den Ochsen antreiben oder gar schlagen müsse, wenn das ganze Gefährt stecken geblieben ist und aber weiterfahren soll. Der Ochse ist dabei das Symbol für den Geist, der den Wagen ziehen soll. Sehr häufig sei dann der Wagen selbst die Ursache für den Stillstand und nicht der Ochse. Der Wagen ist dabei das Symbol für den Körper. Wenn demnach der Körper die Ursache für das Problem ist, nützt die Anspannung oder gar das Peitschen des Geistes nichts.

Dōgen spricht mit diesem Gleichnis die Funktion des Körpers bei der Zazen-Praxis an Er kommt zu dem Schluss, dass Körper und Geist immer eine Einheit bilden und nicht getrennt werden dürfen, insbesondere nicht beim Zazen. Wenn man nur den Geist anstrengt, bleibt der Karren des eigenen Lebens eben stecken. Bei dieser Praxis wird die einseitige Konzentration auf den Geist verlassen, denn sie ist eine Sackgasse. Man soll daher nicht auf den Geist „einprügeln“. Es mag zwar eigenartig erscheinen, dass man nach der obigen Geschichte den Wagen befreit und nicht auf den Ochsen als Symbol des Geistes einschlägt. Es iss allerdings überhaupt wenig sinnvoll, den Geist oder den Körper oder sogar beide zu schlagen.

Auch Stolz auf das einseitige Beherrschen der Körperhaltung führt nicht weiter. Wer sich selbst in seiner Zazen-Haltung bewundert und meint, damit sei er ja schon als echter Buddhist ausgewiesen und sei nach Dōgen bereits Buddha, ist einem gründlichen Irrtum aufgesessen. Wer den vollen Lotossitz so wunderbar beherrscht und dies stolz den anderen oder sich selbst vorführt, ist tief in einen solchen Ego-Irrtum verstrickt. Auch der Stolz darauf, längere Sitzperioden auszuhalten zu können als die meisten, verhindert die natürliche Öffnung von Körper und Geist. Dies ist sicher auch der falsche Weg. Dann wird unser Faszien-System gerade verkrampft und unser Energie-Fluss stockt.

Am Ende diese Kapitels fügt Dōgen ein eigenes Gedicht über die Bambusnadel der Zazen-Praxis (Zazenshin) an, das sein eigenes tiefes Verstehen des Buddhismus und der Übungs-Praxis widerspiegelt:

Das wichtigste Tun eines jeden Buddha,
Das Tun des Wichtigsten eines jeden Vorfahren im Dharma,
Jenseits des Denkens: Verwirklichung,
Jenseits des Komplizierten: Verwirklichung.

Jenseits des Denkens: Verwirklichung
Die Verwirklichung ist natürlich und unmittelbar.
Jenseits des Komplizierten: Verwirklichung.
Die Verwirklichung ist natürlich und ist Erfahrung.

Die Verwirklichung ist natürlich und unmittelbar.
Es gab keine Verschmutzung.
Die Verwirklichung ist ein natürlicher Zustand der Erfahrung:
Es gab kein (mental) Richtiges und da war keine Abweichung.

Es gab keine Verschmutzung des Unmittelbaren.
Das Unmittelbare hängt von nichts ab, es macht frei.
Es gab in der Erfahrung kein Richtiges und keine Abweichung
Der Zustand der Erfahrung ist ohne (mentale) Absicht und doch erfordert er Anstrengung.

Das Wasser ist rein, wahrhaft hinunter bis zum tiefen Grund,
Die Fische schwimmen als Fische!
Der Himmel ist weit, klar bis zum hohen Firmament.
Und die Vögel fliegen als Vögel!

Kann man die Erfahrung des Zazen besser in Worte fassen? ich glaube nicht.[1]



[1]  Siehe auch mein Buch: "Die Kraft der Zen-Meditation"