Dieses Kapitel des Shōbōgenzō zum Streben nach der Wahrheit, zum wahren Selbst und der Zazen-Praxis bildet neben dem Kapitel Genjō-kōan die Grundlage für alle folgenden Kapitel[i]. Vermutlich ist das die wahre Individualität, von der die westliche Philosophie seit den Griechen Parmenidas und Platon redet! Aber der hoch trainierte komplexe Verstand ist wirklich nicht das alles. Das ist nur nützliches Gehirn-Training.
Bendōwa gliedert sich im Wesentlichen in drei Abschnitte: Im
ersten Teil berichtet Dōgen von seinem eigenen Werdegang und seiner Reise nach
China, wo er einem wahren Lehrer begegnete und von ihm den authentischen
Buddhismus in Theorie und Praxis erlernen konnte. Außerdem skizziert er die
Eckpunkte der buddhistischen Lehre und begründet, warum er schriftliche
Fassungen neben seinen mündlichen Vorträgen erarbeitete. Diesem Entschluss
verdanken wir nicht zuletzt das großartige Werk Shōbōgenzō.
Im
zweiten Teil greift Dōgen die verschiedenen Fragen, Kritikpunkte und Zweifel
auf, die zu seiner Zeit im Zusammenhang mit der Zazen-Praxis aufgetreten sind.
Er verwendet dafür ein fiktives Gespräch mit einem Dialogpartner, der die
kritischen Fragen formuliert, sodass Dōgen selbst mit seinen Antworten die
Zweifel ausräumen und Gegenargumente entkräften kann. Insgesamt werden auf
diese Weise 18 Fragen behandelt. Zur Vertiefung des Themas fügt er ein
bedeutsames Kōan-Gespräch zwischen einem Schüler und Zen-Meister hinzu.
Im
dritten Teil des Kapitels fasst Dōgen wichtige, zentrale Aussagen zur
Wahrheitssuche und zur Bedeutung der Zazen-Praxis noch einmal zusammen.
Erstaunlicherweise war diese grundlegende Praxis des Buddhismus bis dahin in
Japan überhaupt nicht bekannt und wurde von Dōgen zum ersten Mal dort gelehrt.
Sie ist seiner Ansicht nach unverzichtbar auf unserem Weg des Buddha-Dharma, um
uns von geistigen, körperlichen und psychischen Verkrampfungen zu befreien und
das Erwachen zu erfahren. Damit stellt die Zazen-Praxis den „Königsweg“[ii] zu
unserem Lebensglück dar – ohne sie ist laut Dōgen der Weg des Buddha-Dharma
verschlossen.
Die Bedeutung der Zazen-Praxis
Dōgen
bezeichnet die Praxis des Zazen als „Zugang des Friedens und der Freude zum
Dharma“[iii];
sie löse ganzheitlich die Hindernisse und Blockaden des Denkens und Fühlens
auf. Körper und Geist sind in unserem gewöhnlichen, ungeschulten Denken
dualistisch getrennt[iv]
– was Dōgen ablehnt – und eng mit der Vorstellung und Fixierung auf ein
weitgehend abgegrenztes Ich verbunden, das sich bedroht fühlt, auf sich selbst
konzentriert ist und meist irgendetwas haben oder abwehren will. Ein solches
Ich wird nicht zuletzt von Emotionen und Affekten getrieben, die dem
Bewusstsein weitgehend verborgen bleiben[v].
Nishijima Roshi spricht davon, dass eine Selbststeuerung unter diesen
Bedingungen nicht möglich und der Mensch daher unfrei
ist!
Nach
der Lehre Gautama Buddhas liegen die Ursachen für vieles Leiden in der
Fixierung auf ein Ich als Subjekt und der Trennung von anderen Menschen und
Dingen als Objekte. Diese Einschätzung wird auch durch die Psychotherapie
bestätigt und hat bei der Analyse von Gefühlen eine große Bedeutung[vi].
Eine solche starke Zentrierung und Fixierung auf das eigene Ich wird häufig
durch übertriebene Selbstgerechtigkeit, aber auch durch Angst vor psychischen
Verletzungen erzeugt. Gefühle wie Neid und Eifersucht werden laut Verena Kast
in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiert und daher nicht bewusst
zugegeben. Sie manifestieren sich infolgedessen meist als Abwertung oder sogar
Kriminalisierung der anderen und sollen damit implizit als Aufwertung des
eigenen Ich wirken. Das ist aber gerade keine dauerhafte Lösung des Problems.
Der fast ausschließliche Bezug auf sich selbst tritt besonders gravierend bei
Depressionen auf, wenn nur ein sehr eingeschränkter Kontakt zu anderen Menschen
und zur Umwelt möglich ist. Auch diese Situation ist mit ganz starkem Leiden
verbunden und führt meist dazu, dass der Alltag nicht mehr bewältigt werden
kann.
In dem nun folgenden ersten Satz des Kapitels fasst Dōgen zentrale Aussagen des Buddhismus
zusammen.
„Wenn die Buddha-Tathāgatas, die alle
die Eins-zu-eins-Übertragung (Transmission) des wunderbaren Dharma erhalten
haben, den höchsten Zustand des vollkommenen Bodhi-Erwachens erfahren, sind sie
im Besitz der feinen und kostbaren Methode, welche die höchste ist und keine
(selbstsüchtige) Absicht hat.“
Alle
Buddhas stehen demnach in einer nicht unterbrochenen Linie der Übertragung des
wahren Buddha-Dharma, die hier als „Eins-zu-eins-Übertragung“ bezeichnet wird.
Das heißt, dass jeweils ein authentischer Meister den wahren Buddha-Dharma an
seinen Schüler weitergibt, der damit selbst authentischer
Meister wird und die Befähigung zur Lehre erhält.
[vii] Das höchste Bodhi-Erwachen wird in Sanskrit als anuttara-samyak-sambodhi
bezeichnet. Mit der feinen und kostbaren Methode des Bodhi-Erwachens[viii]
ist die Zazen-Praxis[ix]
gemeint. Dōgen fügt hinzu, dass diese Methode ohne selbstsüchtige Absicht
angewendet wird. Wenn also die Erleuchtung oder das Erwachen zum eigenen
Vorteil und mit Konzentration auf sich selbst angestrebt wird, entspricht dies
nicht der im Shōbōgenzō dargestellten
Zazen-Methode.
Dogen
erläutert hierzu, dass beim Zazen „das Selbst empfangen und benutzt wird“.
Dieses Selbst unterscheidet sich vom egoistischen, abgegrenzten Ich, das etwas
haben will oder etwas bekämpft, um sich selbst zu schützen, um materielle
Vorteile zu erlangen oder Macht über andere zu gewinnen.
Nishijima
Roshi betont, dass wir heute den Zustand im Zazen wissenschaftlich als
Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems erkannt haben. Dieses Nervensystem
ist mit dem Willen und dem Denken nur sehr wenig oder überhaupt nicht zu
beeinflussen und trägt daher auch die Bezeichnung „autonomes Nervensystem“[x]. Die
richtige Haltung im Zazen ermöglicht einen Gleichgewichtszustand, der sich auf
den ganzen Körper-und-Geist auswirkt und zentrales Moment des von Gautama
Buddha gelehrten Erwachens ist. Nishijima Roshi beschreibt diesen
Gleichgewichtszustand folgendermaßen: Er „ist der grundlegende (wahre) Zustand
des menschlichen Körpers und Geistes. Diese Erleuchtung als vollständiger
Gleichgewichtszustand wurde von Gautama Buddha gefunden und in einer nicht
unterbrochenen Übertragungslinie bis zu den großen heutigen Meistern
weitergegeben“.[xi]
Dōgen
fährt mit seinen Ausführungen zur Übertragung fort:
„Der Grund, warum diese (Methode) ohne
jede Abweichung nur von Buddha zu Buddha übertragen wird, liegt darin, dass der
Samādhi sein (großartiger) Maßstab ist, um das Selbst zu empfangen und zu
benutzen.“
Die
Formulierung, dass wir beim Zazen das Selbst empfangen und benutzen, taucht im Shōbōgenzō an mehreren Stellen auf.
Zazen ist damit neben der authentischen Lehre der zentrale Schlüssel, um das
wahre Selbst zu finden und im praktischen
Leben des Alltags zu verwirklichen. Dieses Selbst hat, wie bereits erläutert,
mit dem egoistischen Ich nichts gemeinsam. Ein wesentlicher Schritt zur
Befreiung und Erleuchtung liegt gerade darin, dieses sich abgrenzende oder von
Gier und Affekten beherrschte Ich aufzulösen, durchlässig zu machen und ins
Gleichgewicht zu bringen. Für Dōgen ist die Zazen-Praxis dabei die fundamentale
Methode, ohne die es auf dem Buddha-Weg kein Erwachen geben kann. Nishijima
Roshi spricht sogar davon, dass Gautama Buddha uns empfiehlt, „Zazen als die
fundierte Basis der menschlichen Kultur zu praktizieren.“
„Für die Freude dieses Samādhi wurde
die Praxis des (Za)zen in der aufrechten Sitzhaltung als authentisches Tor (zum
Buddha-Dharma) entwickelt.“
Besonders
bemerkenswert an dieser Aussage ist der Hinweis Dōgens auf die aufrechte
Sitzhaltung, das heißt die gestreckte Wirbelsäule, beim Zazen[xii].
Diese Haltung verleiht uns eine tiefe Freude und Gelassenheit beim Samādhi und
ist gleichzeitig der authentische Weg zum Buddha-Dharma und Erwachen.
Interessant ist auch, dass Dōgen Zazen als Freude und Glück bezeichnet – und
nicht als Askese, pure Willensanstrengung, Schmerzüberwindung und zähes
Durchhalten. Es bringt uns die positive Energie der Freude, die nach neuen
Erkenntnissen ganz wesentlich für physische und vor allem psychische
Heilungsprozesse ist[xiii].
Im
alten China und Japan saßen die Menschen üblicherweise auf dem Boden und
verspürten daher sicher keine Schmerzen bei der Zazen-Haltung auf dem
Sitzkissen, dem Zafu. Wir heutigen
Menschen, die daran gewöhnt sind auf Stühlen zu sitzen, sollten ebenfalls so weit wie möglich eine für uns schmerzfreie
Sitzmethode beim Zazen anwenden. Nishijima Roshi betont immer wieder,
wie wichtig die Haltung im ganzen oder halben
Lotussitz ist,
wobei der sogenannte burmesische Lotussitz, bei dem die Beine nicht ineinander
verschränkt sind, sondern voreinander liegen, als halber Lotussitz anzusehen
ist. Dies erwähnt Dōgen ausdrücklich in seiner grundlegenden Schrift zur
Zazen-Methode[xiv].
Der volle Lotussitz ist sicher für viele westliche Menschen zunächst schwierig
zu verwirklichen und oft mit Schmerzen verbunden, deshalb sollte man mit dem
halben Lotussitz beginnen, damit man sich nicht zum schmerzhaften Durchhalten
und zur Askese zwingen muss. Denn auf diese Weise wäre die Befreiung von den
Fesseln durch Körper und Geist schwerlich zu erreichen, da der Kampf gegen die
Schmerzen uns keinen Raum für „den Frieden und die Freude“ des Zazen ließe.
Gautama
Buddha hat in seinen Lehrreden und Gleichnissen häufig die aufrechte
Sitzmethode empfohlen und in den alten Schriften heißt es, dass die Mönche, die
auch „Hauslose“ genannt wurden, und Laien an einem ruhigen Ort mit gekreuzten
Beinen sitzen sollen. Als solche ruhigen Orte eigneten sich im alten Indien
besonders Plätze unter Bäumen, die zudem einen gewissen Schutz vor sengender
Hitze und Regen boten. Im Fukan zazengi
schreibt Dōgen, dass der Ort für die Zazen-Praxis nicht zu heiß und nicht zu
kalt sein sollte und dass man dabei lockere Kleidung tragen sollte, die nicht
beengt[xv].
Nishijima
Roshi ergänzt dazu: „Um Freude an diesem Gleichgewichtszustand zu haben, wurde
die Praxis des Zazen als die grundlegende Übung des Buddhismus seit über 2.500
Jahren erhalten und gepflegt.“
„Dieser Dharma (vor allem des Zazen)
ist in jedem Menschen im Überfluss gegenwärtig, aber wenn wir ihn nicht
praktizieren, offenbart er sich nicht, und wenn wir ihn nicht erfahren, kann er
nicht verwirklicht werden.“
Ohne
die Praxis als Handeln kann sich die Wahrheit des Menschen oder des Dharma laut
Dōgen also nicht offenbaren und manifestieren. Nishijima Roshi betont häufig,
dass die Praxis des Zazen weder Denken noch Sinneswahrnehmung sein kann, denn
sie sei genau das Handeln selbst und die Wirklichkeit im Hier und Jetzt.
Er
stellt fest, dass wir in der westlichen Kultur dem denkenden Geist einen sehr
hohen Rang zuweisen und dass eine Philosophie des Handelns dagegen kaum
entwickelt wurde. Dies sei aber gerade der zentrale Kern des Buddhismus.
Die
Verwirklichung wird nach Dōgen durch Erfahrung, also wiederum durch die Praxis,
ermöglicht. Die im Zen-Buddhismus gelehrte Praxis ist
keine Meditation zu einem bestimmten Thema oder das Versenken in eine bildliche
Vorstellung bei der Visualisierung. Nishijima sagt dazu: „Viele Menschen
verstehen auch Zazen als eine Art von Meditation.“ Aber eine solche
Interpretation dürfe mit der wahren Praxis des Zazen nicht verwechselt werden,
denn Zazen ist „keine bestimmte Art von konzentriertem Denken.“[xvi]
Beim Zazen kommt es gerade darauf an, nicht zu denken und die Vorstellungen,
Ideen und drängenden Emotionen abzustellen und „fallen zu lassen“. Dies ist in
der Tat in der westlichen Gesellschaft und Philosophie sehr ungewöhnlich und
kennzeichnet die Zazen-Praxis des Buddhismus in ganz eigenständiger Weise[xvii].
Besonders deutlich wird das im Kapitel „Die heilende Bambusnadel der
Zazen-Praxis“ (Zazenshin) und in Dōgens
Anleitung zur Zazen-Praxis (Fukan
zazengi). Nishijima Roshi bekräftigt: „Im Zazen konzentrieren wir unsere
Anstrengung darauf, genau eine kontrollierte Sitzhaltung einzunehmen und so zu
handeln und zu sitzen.“ Diese Lebensphilosophie sei die entscheidende Grundlage
des Buddhismus und werde von vielen Buddhisten ganz sorgfältig praktiziert. Er
fügt sogar hinzu, dass es ohne Zazen keinen Buddhismus gäbe und dass Buddhismus
Zazen sei.
Zweifellos
ist es der Sinn des buddhistischen Weges, genau zu erkennen, dass und wie wir
in der Wirklichkeit selbst leben und handeln. Denn diese Wirklichkeit ist die
große Wahrheit, die Gautama Buddha gefunden und gelehrt hat, und sie zeigt den
Ausweg aus dem Leiden. Durch die Zazen-Praxis erlangen wir den direkten Zugang
zu dieser Wirklichkeit, die nicht von eigenen Gedanken, Emotionen und
Vorstellungen verdeckt oder verzerrt ist.
Nishijima Roshi sagt dazu: „Wir Menschen sind heute jedoch im
Begriff, endlich dem Zeitalter des wahren Realismus (des Buddhismus) zu
begegnen. Wir sollten daher von ganzem Herzen eine tiefe Dankbarkeit für
Gautama Buddha, Meister Nāgārjuna, Meister Bodhidharma und Meister Dōgen usw.
haben.“
Dōgen auf dem Buddha-Weg
Dōgen
hatte sich seit seinem zwölften Lebensjahr, als er in Japan in ein
buddhistisches Kloster der Tendai-Linie eingetreten war, intensiv um den Weg
des Buddha-Dharma bemüht und sich insbesondere in der Lehre geschult. Aber er
konnte bis zu seinem 23. Lebensjahr in Japan nicht seinen wahren Meister finden
und reiste deswegen nach China, obwohl eine solche Fahrt über das Meer mit den
nicht sehr seetüchtigen Schiffen der damaligen Zeit ein gefährliches Wagnis
bedeutete. Zwei Jahre lang besuchte er viele verschiedene Klöster in China,
ohne dass es ihm jedoch gelang, einen wahren Meister zu finden, der die Lehre
und vor allem die Praxis des Buddhismus authentisch lehrte. Viele dieser
Klöster gehörten der Rinzai-Linie an und arbeiteten mit Kōans. Dōgen fand auf
diesem Weg allerdings nicht die Klarheit und Wirklichkeit des Buddhismus und
die angestrebte Erleuchtung, für die er so viele Mühen auf sich genommen und so
hart gearbeitet hatte.
Am
1. Mai 1225 begegnete er dann dem großen Meister Tendō Nyojō, der sein wahrer
Lehrer wurde und unter dessen Leitung er die Praxis und Theorie des Buddhismus
erlernen konnte. Diese Begegnung brachte die entscheidende Wende in Dōgens
Leben auf dem buddhistischen Weg und ihr verdanken wir nicht zuletzt das
großartige Werk Shōbōgenzō.
Dōgen
empfand es als großes Geschenk, den Buddhismus selbst in einer authentischen
Übertragungslinie von Gautama Buddha zu Tendō Nyojō erlernt zu haben. Im
Zen-Buddhismus ist es von zentraler Bedeutung, dass die Dharma-Übertragung vom
Meister auf den Schüler direkt in der lebendigen Gegenwart beider vollzogen
wird. Daraus wird ersichtlich, dass eine solche praktische Dharma-Übertragung
über die schriftliche Theorie, so wichtig sie auch sein möge, hinausgeht. Die
direkte, lebende und existenzielle Verbindung vom Lehrer zum Schüler hat eine
fundamentale Bedeutung.
Die Funktion der Zazen-Praxis
Dōgen
schildert, dass uns die im Zazen erfahrene Dharma-Wahrheit ganz natürlich
erfüllt, wenn wir die Praxis geschehen lassen und keinen angestrengten Kraftakt
vollziehen, um Erleuchtung zu erreichen. Diese Wahrheit habe schon immer unsere
Hände erfüllt. Allerdings könne man mit Zahlenangaben und Messungen nach Größe
und Gewicht die Dharma-Wahrheit des Zazen auf keinen Fall erfassen. Mit einer materialistischen Lebensführung lässt sich
deshalb diese Wahrheit nicht erkennen. Beim
Zazen werde der Mund davon erfüllt, wenn wir sprechen. Wesentlich ist vor
allem, dass es keine Begrenzungen und Blockaden bei dieser Praxis gibt, und die
Buddhas halten sich darin andauernd auf. In diesem Zustand existiert eine
umfassende Einheit der Wirklichkeit. Das heißt, die Dualität von Subjekt und
Objekt, von Denken und Wahrnehmung usw. ist überwunden.
„Die Anstrengung bei der Suche nach der
Wahrheit, die ich jetzt lehre, lässt die unzählbaren Dharmas in der Erfahrung
wirklich werden und umfasst die Einheit der Wirklichkeit auf dem Weg der
Befreiung.“
Damit
beschreibt Dōgen die wesentliche Funktion der Zazen-Praxis. Die Wirklichkeit
der Dinge und Phänomene, die er hier als „unzählbare Dharmas“ beschreibt, wird
dabei genauso erfasst wie die große Einheit der Wirklichkeit.
In den zwei großen Übertragungslinien, die im Zen-Buddhismus von
Daikan Enō ausgingen, hatte die Zazen-Praxis einen zentralen Stellenwert.
Daraus entwickelten sich weitere bedeutende Traditionen des Zen-Buddhismus, die
sich über ganz China verbreiteten. Dōgen betont, dass es ohne diese Erfahrung
in der Zazen-Praxis kaum möglich sei, den Wert der buddhistischen Lehre richtig
einzuschätzen. Dieser Ansatz ist auch ein wichtiges Thema im Kapitel über das Sūtra-Lesen
und wird außerdem im Lotus-Sūtra hervorgehoben[xviii].
Dōgen verbreitet die Lehre
in Japan
Anschließend
berichtet Dōgen, dass er es als dringende Verpflichtung empfunden habe, die
wahre Lehre, die er in China erlernt und erfahren hatte, nach seiner Rückkehr
auch in seinem Heimatland Japan bekannt zu machen. Zunächst habe er daran
gedacht, als wandernder Mönch durch Japan zu ziehen und so die Lehre zu
verbreiten. Eine solche Lebensweise der Mönche
wurde im alten Japan als „fließende Wasserpflanze“ bezeichnet und war ein
Brauch der alten Heiligen. Dōgen wusste, dass in Japan der Buddhismus häufig
unklar gelehrt wurde, sodass ernsthafte Schüler ohne seine Hilfe etwas Falsches
oder zumindest nur teilweise Richtiges erlernen würden. Deshalb fasste er den
Entschluss, den wahren Dharma in Japan nicht nur mündlich zu lehren, sondern
auch schriftliche Aufzeichnungen zu verfassen, zu denen zum Beispiel die
Anleitung zur Zazen-Praxis (Fukan
zazengi) und „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ (Shōbōgenzō) gehören.
Die
tiefgründige und schwierige Lehre Dōgens war viele Jahrhunderte lang nur einem
kleinen Kreis von Mönchen des Klosters Eihei-ji, dem Haupttempel der Sōtō-Linie,
als authentischer Text direkt zugänglich und im Westen völlig unbekannt. Selbst
der Philosoph Herrigel, der Zen-Buddhismus vor dem Zweiten Weltkrieg in Japan
studierte und anhand der Zen-Kunst des Bogenschießens praktizierte, erwähnt das
Shōbōgenzō nicht und vermerkt es
nicht einmal im Literaturverzeichnis[xix].
Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde es in Japan für einige wenige
Interessierte geöffnet und galt aber nach wie vor als außerordentlich
schwierig. Langsam wurde jedoch immer klarer, dass der Wert dieses großartigen
Werkes kaum überschätzt werden konnte. Es ist die große Lebensleistung von
Nishijima Roshi, der sich über 40 Jahre lang
mit dieser Schrift intensiv beschäftigte, das Shōbogenzō für die Welt, insbesondere im Westen, verfügbar gemacht
und interpretiert zu haben.
Dōgens Lehrer Tendō Nyojō
Im
Folgenden geht Dōgen etwas ausführlicher auf seinen Meister Tendō Nyojō ein:
„Schließlich besuchte ich Zen-Meister
Nyojō auf dem Berg Dai-byaku-hō und dort war ich in der Lage, die große Aufgabe
der Praxis (meiner) Lebenszeit zu vollenden.“
Tendō
Nyojō lebte von 1163 bis 1228. Dōgen schätzte ihn sehr, zitierte häufig
Aussprüche und Gedichte von ihm und nannte ihn einen
„ewigen Buddha“. Tendō Nyojō verfasste viele Gedichte von tiefer Poesie und
buddhistischer Aussagekraft und war auch ein hervorragender Maler, der zum
Beispiel die Natur in der Umgebung des Klosters meisterhaft in ein Bild bringen
konnte. Dōgen sagt einmal von seiner Malkunst, dass „der Bambus in das Bild
gekommen ist“; damit drückt er aus, dass die Wirklichkeit der Natur, in diesem
Falle des Bambus, im Bild selbst existent ist. Das Bild ist daher nicht eine
Kopie der Natur, sondern deren Wirklichkeit. Dōgen
missachtet dabei keinesfalls Bilder und erläutert dies im Kapitel „Was
bedeutet das Bild eines Reiskuchens?“[xx] Dessen Inhalt wird im Zen-Buddhismus zum Teil
missverstanden, da man das Bild des Kuchens nicht essen könne und es nicht den
„Wert“ der Wirklichkeit habe. Auch in Nishijimas Buch „Begegnung mit dem wahren
Drachen“[xxi]
steht das Verhältnis der Wirklichkeit zu Abbildungen und Vorstellungen im
Vordergrund. Denn was wäre der Buddhismus ohne Bilder und Skulpturen?
Tendō
Nyojō lehrte die Zazen-Praxis als unverzichtbare, zentrale Übung, die Dōgen im
obigen Zitat als die große Aufgabe seiner Lebenszeit bezeichnet. Er hatte sich
zwar durch intensive Studien schon ein umfassendes Bild der buddhistischen
Lehre und Theorie erarbeitet, kam aber bei der Frage des Erwachens und der
Wirklichkeit mit der Theorie allein nicht weiter. Erst durch die Begegnung mit
diesem Meister vollendete er seinen Weg und Lernprozess in der Praxis. Eine
wichtige Rolle spielte dabei, dass er mit seinem Meister im täglichen Leben und
Handeln in ganz engem Kontakt verbunden war.
Die authentische Übermittlung der Lehre
und Praxis
Dōgen
kommt erneut darauf zu sprechen, dass große und häufig dauerhafte Schäden beim
lernenden Menschen entstehen, wenn der ehrliche Wille zur Wahrheit durch
falsche Lehrer und eine unrichtige Theorien fehlgeleitet wird.
Manche
buddhistische Lehrer und angebliche Meister verbergen nämlich ihre unreife
Persönlichkeit hinter der Behauptung der eigenen Omnipotenz; sie erklären also,
sie seien allmächtig und allwissend. Psychologisch betrachtet dürfte es sich
dabei jedoch eher um narzisstische Störungen handeln, die zur Ich-Überhöhung
sowie zur Entwertung der Schüler führen. Deren Entwertung und Erniedrigung
werden sogar buddhistisch als Überwindung des „Ich-Wahns“ deklariert.
Dōgen
ist der Überzeugung, dass es besser sei, überhaupt nicht den Buddha-Dharma zu
studieren als bei falschen Lehrern zu lernen, weil dies in menschlichen
Katastrophen enden könne. Daher sei die authentische Weitergabe des
Buddha-Dharma von einem wahren Meister zu seinem Nachfolger von zentraler
Bedeutung. Diese authentische Übermittlung der Lehre und Praxis lässt sich für
jeden wahren Meister bis auf Gautama Buddha selbst zurückführen und ist in
China und Japan sorgfältig dokumentiert. In der Linie Dōgens kommt vor allem
den Meistern Nāgārjuna, Bodhidharma, Daikan Enō, Daishō und Tendō
Nyojō eine herausragende Bedeutung zu; Dōgen bezeichnet sie als „ewige
Buddhas“. Für die neuere Zeit möchte ich in dieser Linie die großen Meister Kodo Sawaki, Rempo Niwa und Nishijima Roshi nennen.
Dōgen
betont, dass die Zazen-Praxis in einer Kette von Nachfolgern, die nicht ein
einziges Mal unterbrochen wurde, immer authentisch übermittelt wurde, sodass
sie bis in seine Zeit erhalten und lebendig geblieben ist.
„Nachdem der Vorfahre und Meister aus
dem Westen kam, zerschnitt er direkt die Wurzel der Verwirrung und verbreitete
den unverfälschten Buddha-Dharma.“
Dōgen
bezeichnet hier den indischen Meister Bodhidharma,
der zu Beginn des 6. Jahrhunderts nach China kam und dort als Erster die
richtige Zazen-Praxis lehrte, als Vorfahren und Meister aus dem Westen. Nach
der Zen-buddhistischen Überlieferung gab es in China zwar vorher schon Lehrer
mit umfangreichen theoretischen Kenntnissen, es waren bereits viele Sūtras aus
dem Sanskrit in das Chinesische übersetzt worden und es existierten auch
Klöster mit vielen Mönchen. Aber der unverfälschte Buddha-Dharma aus der Praxis
und Theorie einer verlässlichen Übertragungslinie war noch nicht nach China
gelangt, bis schließlich Bodhidharma kam.
Nishijima
Roshi bemerkt dazu: „In diesem Zusammenhang gilt, dass die Praxis des Zazen
niemals eine Unterweisung mit Worten ist, sondern sie ist genau die
tatsächliche Praxis.“
Die
vor dem Eintreffen Bodhidharmas in China vorherrschenden theoretischen Lehren
erzeugten mehr Verwirrung als Klarheit, sie widersprachen sich teilweise und
waren sicher auch mit anderen philosophischen Aussagen, die zum Beispiel in der
Tradition des großen chinesischen Weisen Laotse standen, vermischt. Aus den
Schriften allein konnte man den Kern des Buddhismus also nicht erlernen, zumal
sie nicht immer korrekt ins Chinesische übersetzt worden waren. Dazu benötigte
man einen wahren Lehrer aus einer authentischen Übertragungslinie, bei dem die
buddhistische Lehre, die Zazen-Praxis und das tägliche Handeln im Umgang mit
den Menschen, der Natur und den Dingen im Einklang und im Gleichgewicht waren.
Nach Nishijima Roshis Überzeugung hatte
deshalb „Meister Bodhidharmas Reise nach China für den dortigen Buddhismus
einen außerordentlich großen Wert und eine hohe Bedeutung und später wurde dies
ein hervorragender wertvoller Beitrag für die Weltkultur.“
Dieser
wahre und authentische Buddhismus wurde von Gautama Buddha an die großen
Meister Mahâkâshyapa,
Nâgârjuna und Bodhidharma weitergegeben, von diesem an den großen sechsten
Nachfolger im Dharma von China, Daikan
Enô, und schließlich zu Tendô Nyojô
und Meister Dôgen, dessen unschätzbares Verdienst die umfassende und vor allem authentische Dokumentation des
Zen-Buddhismus ist. Dôgen hatte die große Hoffnung, dass in seiner Zeit in
seinem Land Japan das Gleiche geschehen würde wie 600 Jahre
Das richtige Sitzen im Samādhi
Den
Zustand des Gleichgewichts bei der Zazen-Praxis
bezeichnet Dōgen als „aufrechtes Sitzen im Samādhi des Empfangens und Benutzens
des Selbst“. Dies sei unzweifelhaft der richtige Weg, um den Zustand der
Verwirklichung und des Erwachens zu eröffnen. Da Dōgen fest davon überzeugt
ist, dass es nur einen einzigen wahren Buddhismus gibt, gilt seine Aussage
selbstverständlich sowohl für Indien, China und Japan
als auch für die euro-amerikanische Kultur.
Für
ihn ist es von zentraler Bedeutung, dass die „mystische und authentische
Übertragung der feinen Methode“ direkt vom Meister auf den Schüler erfolgt und
der Schüler damit die buddhistische Wahrheit empfängt. Die Übertragung müsse
eins zu eins, das heißt von Angesicht zu Angesicht, geschehen und sei „das Höchste
des Höchsten“. Er ergänzt sogar: „Nach der ursprünglichen Begegnung mit einem
(guten) Lehrer müssen wir (daneben) niemals
Räucherwerk brennen, Niederwerfungen machen, den Namen Buddhas zitieren,
beichten, praktizieren oder Sūtras lesen.“ Diese erstaunlichen Äußerungen
setzen klare Prioritäten für die Eins-zu-eins-Übertragung in einer
authentischen Linie. Sicher will Dōgen damit nicht anregen, dass diese typisch
buddhistischen zeremoniellen Tätigkeiten ganz abgeschafft werden sollten. Er
betrachtet sie aber nur als stützendes Beiwerk und nicht als das Wesentliche
auf dem Buddha-Weg. Leider ist es auch heute noch in manchen Zen-buddhistischen
Gruppen zu beobachten, dass die bis ins kleinste Detail durchstrukturierten
Abläufe der Zeremonien eine übergroße Bedeutung erlangt haben. Dann besteht die
Gefahr, dass sie zum Selbstzweck werden und den wahren Kern des Buddhismus an
den Rand drängen. Die Schüler müssen in diesem Fall einen komplizierten und
langwierigen Lernprozess durchlaufen, um den zeremoniellen Ablauf zu erlernen.
Stattdessen rät Dōgen, sich unbedingt einen verlässlichen, guten Lehrer zu
suchen und im lebendigen Kontakt mit ihm sowie mithilfe intensiver Zazen-Praxis
den Buddha-Weg zu gehen.
„Wenn ein Mensch auch nur für einen
einzigen Augenblick Buddhas Haltung in den drei Formen des Verhaltens
manifestiert, während er ganz aufrecht im Samādhi sitzt, nimmt die ganze Welt
des Dharma Buddhas Haltung an und der ganze Raum wird der Zustand der
Verwirklichung.“
Mit
dieser außergewöhnlichen Formulierung erklärt Dōgen ganz eindeutig, dass der
Mensch sich im Samādhi, also in der Haltung Gautama Buddhas, zusammen mit dem
gesamten Universum der ganzen Welt verwirklicht[xxii].
Das können wir demnach als Verwirklichung von uns selbst verstehen.
Wenn
es im obigen Zitat heißt, dass die ganze Welt des Dharma die Haltung Buddhas
einnimmt, bedeutet dies, dass die Welt dann und nur dann in ihrer wahren
Wirklichkeit zusammen mit uns selbst existiert. Das ist eine kühne und
weitreichende Aussage! Dōgen bringt damit seine höchste Wertschätzung der
Zazen-Praxis zum Ausdruck, denn die Verwirklichung des Menschen ist
gleichzeitig die Befreiung von allen Täuschungen, Illusionen, von der Gier nach
vordergründigen Vorteilen wie Ruhm, Geld, Macht, und Ansehen. Nishijima Roshi
formuliert dieses Grundprinzip wie folgt: „Ein menschliches Verhalten kann das
ganze Universum sofort verändern.“ Damit ist der Dualismus der üblichen
Trennung von menschlichem Ich, der Umwelt und des Universums, und vor allem von
anderen Menschen, überwunden und beendet. Dies ist die Kernaussage der
buddhistischen Lehre und des buddhistischen Heilsweges, der uns aus der
Umklammerung von Angst, Größenwahn und Leid befreit.
Die
im obigen Zitat erwähnten drei Formen des Verhaltens bedeuten in der
buddhistischen Lehre das Verhalten des Körpers, des Mundes beim Reden und des
Geistes beim Denken. Diese drei Lebensbereiche werden nach Dōgen durch den Samādhi,
also das Zazen, zur Wirklichkeit gebracht. Das heißt, unser Körper überwindet
die Lebensphilosophie des Materiellen und unser Reden und Denken überwinden die
eindimensionale Lebensphilosophie des Idealismus. Dies ist nach Gautama Buddha
der wesentliche Schritt zur Emanzipation aus dem Teufelskreis des Leidens und
so vieler schwerwiegender und oft nicht umkehrbarer Fehlentwicklungen in
unserem Leben.
Nishijima
Roshi betrachtet die Zazen-Praxis als das wahre und reine Handeln, das die
Trennung von Subjekt und Objekt überwindet und dadurch den Zugang zur
Wirklichkeit ermöglicht[xxiii].
Der Buddhismus geht also einen fundamentalen Schritt über intellektuelles
Philosophieren sowie naturwissenschaftliches Beobachten und Denken hinaus, so
wichtig beide Bereiche für den Menschen und die menschliche Gesellschaft sein
mögen. Aber sie stellen jeweils nur Teilwahrheiten oder bestimmte Aspekte der
Wahrheit dar und sind damit nur eine Teilsicht der Welt. Als solche müssen sie
klar erkannt werden, damit man im Leben nicht in die Irre geht.
Dōgen
unterstreicht in diesem ersten Teil des Kapitels immer wieder mit kraftvollen
Worten die Bedeutung der Zazen-Praxis: Sie erhöhe die Dharma-Freude und
erneuere die Großartigkeit der Verwirklichung zur
Wahrheit. Körper-und-Geist würden beim Praktizieren unmittelbar klar und rein.
Dies sei die große Erfahrung der Befreiung und dadurch verwirkliche sich der
natürliche, ursprüngliche Zustand des Menschen. Es gehe dabei nicht um das
Ansammeln von Erfahrung und die rückwärtsgewandte Erinnerung, sondern um das
unmittelbare Erleben im Augenblick selbst: „(Diese Menschen) sitzen
aufgerichtet als Könige des Bodhi-Baumes, in einem Augenblick drehen sie das
große Dharma-Rad, das der unübertroffene Zustand des Gleichgewichts ist, und
sie legen den höchsten natürlich-schlichten und tiefgründigen Zustand der Prajnya-Weisheit
dar.“
Die Wirkungen der Zazen-Praxis
Die
Praxis übt einen sehr starken und nachhaltigen
Einfluss auf den Praktizierenden aus. Nach Dōgen folgt der wahre, im
Gleichgewicht befindliche Zustand „den Wegen der intimen und mystischen
Zusammenarbeit, sodass dieser Mensch, der unerschütterlich im Zazen sitzt, frei
wird von Körper und Geist.“ Dadurch werden unreine, also mit der Ethik und
Moral nicht übereinstimmende Sichtweisen „abgeschnitten“ und man erfährt und
erlebt den Buddha-Dharma in seiner natürlichen und reinen Weise. Wenn wir im
Zazen sitzen, kann man dies als Sitzen in der buddhistischen Wahrheit verstehen
und dieser Einfluss verbreitet sich laut Dōgen nachhaltig und kraftvoll in der
Welt. Damit werde auch der höchste Zustand der Buddhas weiter angehoben.
Anschließend
bezieht er in der für den Zen typischen Weise die konkrete Wirklichkeit des
Alltags ein:
„Zu dieser Zeit vollendet alles im
Universum in den zehn Richtungen die Arbeit Buddhas: Boden, Erde, Gras und
Bäume, Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine.“
Diese
Formulierungen greifen den zentralen Ansatz des vorigen Kapitels Genjō-kōan über die Verwirklichung des
Universums auf, nämlich dass sich durch unsere eigene Zazen-Praxis in der
richtigen und reinen Form das Universum und wir selbst uns verwirklichen. Eine
Wirklichkeit sei, so Dōgens Botschaft, ohne diesen Gleichgewichtszustand in der
Praxis gar nicht möglich und Nishijima Roshi ergänzt, dass sonst nur im Denken
und in den Ideen „gelebt“ würde.
Dōgen
findet hier Worte von großer Prägnanz, wenngleich die Aussagen für uns
westliche Menschen gewiss zunächst neu und überraschend sind. Es geht dabei um
die Einheit der konkreten Dinge und Phänomene, die in der obigen Aufzählung
enthalten sind, und somit um die einheitliche mystische Kraft des Buddha-Dharma
in der Wirklichkeit der Praxis.
Dōgen
verstärkt im Folgenden seine Ausführungen noch:
„Diesen Menschen, die das Gute empfangen, das
auf diese Weise von Wind und Wasser erzeugt wird, wird auf unerklärliche Weise
geholfen durch den feinen und durch Denken nicht erfassbaren Einfluss Buddhas.
Und sie zeigen den unmittelbaren Zustand der Verwirklichung.“
Besonders
interessant ist bei diesem Zitat die Erwähnung des Windes und des Wassers, die
im Allgemeinen nur als materielle Elemente angesehen werden. Dōgen möchte hier
jedoch über die materielle Dimension hinausweisen, ohne diese auszuklammern und
abzuwerten. Wind und Wasser werden als Wirklichkeit unmittelbar und in
mystischer Einheit mit dem Buddha-Dharma erlebt und erfahren. Mit dem Begriff
Mystik ist aber keineswegs etwas Dumpfes, Mythisches oder Magisches gemeint. Im
Gegenteil: Er bezeichnet sozusagen das geheimnisvoll Natürliche, das nicht an
materielle Formen und Strukturen gebunden ist, sondern im höchsten Zustand der
Praxis im Augenblick Klarheit und Kraft verwirklicht.[xxiv] Und die Menschen, von denen im obigen Zitat die Rede ist,
seien mit Buddhas großer Tugend ausgestattet, was sie in die Lage
versetze, ihr Handeln in bemerkenswerter Weise auszuweiten und voranzubringen:
„Sie durchdringen das Innere und Äußere des ganzen Universums mit dem
Buddha-Dharma, der grenzenlos, ohne Verschwinden, undenkbar und nicht
berechenbar ist.“
In
diesem theoretischen Teil zur Zazen-Praxis, zum Gleichgewicht und zur
Verwirklichung gibt sich Dōgen nicht mit „kleinen“ Vorstellungen und Worten
zufrieden. Da er jede romantische Übertreibung ablehnt, müssen wir annehmen,
dass er hier aus eigener tiefer Erfahrung spricht. Er wiederholt nicht das, was
er von anderen gelernt hat, was er vom Hörensagen kennt oder was in
romantisierenden Schriften zu lesen ist. Wie Nishijima Roshi häufig betont,
zeichnete Dōgen ein hohes Maß an Ehrlichkeit und nüchterner Selbstanalyse aus.
„(Der Zustand) wird nicht durch die
Sichtweise dieser individuellen Menschen selbst getrübt, sondern ist wegen des
Zustandes in der Ruhe ohne absichtliche Aktivität die direkte Erfahrung.“
Nach
Nishijima Roshi geht es hierbei um den absoluten Unterschied zwischen Handeln
in der Wirklichkeit einerseits und Denken sowie Wahrnehmung andererseits. Die
sogenannte „individuelle“ Sichtweise der Menschen ist nämlich meist durch
subjektives Denken, Fühlen und subjektive Wahrnehmung verzerrt oder, wie es
hier heißt, getrübt und daher verdunkelt. Dadurch wird der Zugang zur heilenden
Wirklichkeit ganz oder teilweise versperrt. Aber Zazen darf keine
selbstsüchtige oder, wie Dōgen es formuliert, absichtliche Aktivität sein, die
mit ganz bestimmten Erwartungen verbunden und zum Beispiel auf die eigene
großartige Erleuchtung fixiert ist. Die direkte Erfahrung der Einheit in der
Wirklichkeit kann sich nur ereignen, wenn es in der Ruhe des Zazen keinen
Ehrgeiz und keine Intention gibt. Zudem ist die richtige körperliche Haltung
maßgeblich, das heißt, die körperliche Komponente ist ein wesentlicher Teil der
Übung und kann nicht vom Geistigen und Psychischen getrennt werden.
Körper-und-Geist bilden in der richtigen Zazen-Haltung mit der Welt und dem
Universum eine umfassende Einheit und sind die Wirklichkeit.
Die Einheit von Praxis und Erfahrung
Auch
die Einheit von Praxis und Erfahrung muss nach Dōgen unbedingt gewahrt bleiben.
Das hat er im Fukan zazengi[xxv]
ebenfalls unmissverständlich beschrieben. Wenn die Praxis mit dem Ehrgeiz
betrieben wird, später die große Erleuchtung zu erlangen und damit „in die
höchste Klasse“ der Buddhisten aufzusteigen, dann bezeichnet Dōgen dies als
Beschmutzung und als negative Emotionen, die gerade den freudigen Zustand des
Gleichgewichts verhindern.
Geist,
Psyche und externe Welt bilden in der Zazen-Praxis eine Einheit, die den
Dualismus überwunden hat. Dies nennt Dōgen den Zustand „das Selbst zu empfangen
und zu benutzen“. Dabei werden die Umwelt, die
anderen Menschen und wir selbst nicht in Turbulenzen und Verwirrungen
verstrickt, sondern alle erleben im Gegenteil die Freude und den Frieden des
Buddha-Dharma. Dōgen betont, dass sich dann die alltäglichen Dinge unserer
Umgebung, nämlich das Gras, die Bäume, der Boden, die Erde usw. verwirklichen
und „Strahlen aussenden“. Er fügt sogar hinzu, dass sie uns den Buddha-Dharma
lehren, dass also die Natur direkt die buddhistische Wahrheit verkündet. Dies
wird in einem gesonderten Kapitel im Einzelnen ausgeführt, wobei Dōgen das
Beispiel der Natur und der nicht-empfindenden Wesen verwendet, um die Freude, Ruhe
und die Freiheit von emotionalen Turbulenzen und chaotischen Gefühlszuständen
zu benennen[xxvi].
Die Welt des eigenen Bewusstseins und die externe
Welt seien dann ohne Mangel und es fehle uns an nichts.
Die wunderbare Einheit mit
dem Universum
Dōgen
beschreibt Zazen als einen Zustand von hoher Qualität, den er auch als hohes
Niveau des Lebens bezeichnet.
„Das hohe Niveau des Zustandes der wirklichen
(und wahren) Erfahrung erlaubt keinen müßigen Augenblick, wenn er (tatsächlich)
aktiv ist.“
Dieser
Zustand ermöglicht die aktive und ungetrübte Entfaltung jedes einzelnen
Augenblicks und führt dazu, dass kein einziger Augenblick sinnlos verschwendet
wird. Häufig treiben die Menschen jedoch ihre Aktivitäten aufgrund falscher und
vordergründiger Absichten und gegen die tiefere Vernunft voran. Dann gehen die
Augenblicke der Wirklichkeit verloren. Die Folgen sind entweder träge
Unbeweglichkeit oder hektische Betriebsamkeit – beim Handeln können dann im
Gegensatz zur Zazen-Praxis die notwendige Ruhe und das innere Gleichgewicht
nicht wirksam werden.
„Zazen eröffnet auf diese Weise eine
wunderbare und mystische Zusammenarbeit mit allen Dharmas (der Welt) und
durchdringt vollständig alle Zeiten, auch wenn es nur ein Mensch ist, der einen
Augenblick lang sitzt.“
Dōgen
unterstreicht hier wieder die Überwindung des Dualismus, wodurch die
„wunderbare und mystische Zusammenarbeit“ mit allen Dingen und Phänomenen
(Dharmas) der Welt verwirklicht wird. Der Begriff „Zusammenarbeit“ bedeutet,
dass es sich nicht um passives oder gar träges Herumsitzen und um Zeitvertreib
beim Zazen handelt, sondern um befreites und befreiendes Tun und Handeln.
Dieses ist nach Dōgen nicht mit dem denkenden Verstand zu erfassen, sondern
wird als mystisch und geheimnisvoll bezeichnet und überschreitet das
dualistische und unterscheidende Denken. Die übliche Zeiteinteilung in
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird im Augenblick der Zazen-Praxis
ebenfalls überschritten[xxvii].
Das Erstaunliche bei diesem Zitat ist die Aussage, dass bereits die richtige
Zazen-Praxis eines einzigen Menschen all dies bewirkt.
„(Die Zazen-Praxis) vollzieht damit die
ewige Arbeit der Buddhas im grenzenlosen Universum und deren prägenden Einfluss
in der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Für alle Menschen ist es
vollständig dieselbe Praxis und Erfahrung.“
Die
im Zazen verwirklichte Einheit des Menschen mit den anderen Menschen und dem
Universum steht im obigen Zitat noch einmal im Mittelpunkt. Nishijima Roshi
formuliert es so, dass alle Menschen in der ganzen Welt, die im selben Augenblick
Zazen praktizieren, diese Einheit mit dem Universum gemeinsam und in der
vollständig gleichen Art und Weise erfahren. Da heute eine globale
Kommunikation mithilfe der modernen Techniken des Internets, Telefonierens und
auch von Flugreisen möglich ist, haben diese Ausführungen Dōgens nun eine
völlig neue Aktualität und Bedeutung erhalten. Denn es eröffnen sich
tatsächlich neue großartige Möglichkeiten, trennende Grenzen zwischen den
Menschen in der Welt zu überwinden.
Es
ist für mich keine Frage, dass auch die trennenden Grenzen zwischen den
Religionen überwunden werden können und müssen.
„Die Praxis ist nicht durch das Sitzen selbst
begrenzt, sondern sie schlägt den (großen) Raum an und klingt wie das
Anschlagen der Glocke, das sich vor und nach dem Glockenschlag fortsetzt.“
In
diesem Gleichnis wird die Wirkung der Zazen-Praxis poetisch auf den Punkt
gebracht: Wenn wir morgens und abends Zazen praktizieren, bleibt die Wirkung
auch in der Folgezeit erhalten und verleiht uns Klarheit und Handlungsfähigkeit
im Alltag. Nishijima Roshi nennt dies die dauernde Kraft des Zazen: „Der
Einfluss der Zazen-Praxis ist niemals auf die Zeit begrenzt, in der man
tatsächlich Zazen praktiziert.“ Durch die morgendliche Zazen-Praxis ist es zum
Beispiel möglich, die beruflichen und familiären Aufgaben besser und zügiger zu
bewältigen. Besonders psychische Probleme wie
die Über- oder Unterschätzung der eigenen Möglichkeiten können durch die
Zazen-Praxis behoben werden; hektische Betriebsamkeit oder pessimistische
Untätigkeit werden wirksam und nachhaltig überwunden. Dies kann ich aus eigener
Erfahrung bestätigen. Vor allem im Berufsleben treten heute häufig gravierende
Versagensängste auf, umgekehrt führt auch eine Selbstüberschätzung zu
unvernünftigem und der Situation und Sache nicht angemessenem Handeln, was nicht selten in einem Desaster endet. Beides
wird durch den Mittleren Weg und die Zazen-Praxis in ein kraftvolles und
tatkräftiges Gleichgewicht gebracht.
Zum Schluss der Ausführungen zu diesem Thema betont Dogen noch,
dass selbst zahllose Buddhas mit all ihrer Kraft und großen Buddha-Weisheit
nicht ermessen könnten, was das Gute und die Tugend der Zazen-Praxis eines
einzigen Menschen ist. Wesentlich ist
dabei das Wort „ermessen“, das auf die materielle Dimension der Zahlen,
Berechnungen und Kalkulationen der Menschheit hinweist. Die wahre Praxis kann
laut Dōgen dadurch nicht erfasst und nicht im Entferntesten ausgelotet werden.
[i] Kap. 1,
ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 26 ff.: „Ein Gespräch über das Streben nach der Wahrheit
(Bendōwa)“
[ii] Kap. 72, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 103 ff.: „Die
Zazen-Praxis ist der König der Samādhis (Zanmai
ō zanmai)“
[iii] Fukan
zazengi in: Nishijima, G. W.: Aus meinem Leben, Wirklichkeit und
Buddhismus, DONA-Verlag 2010, S. 134
[iv] Kap. 18 und 19, ZEN Schatzkammer, Bd. 1,
S. 161 ff.: „Der Geist kann mit dem Verstand nicht erfasst werden (Shin fukatoku)“
[v] Freud,
Sigmund: Psychologie des Unbewussten, Bd. III, Fischer Verlag 1975
[vi] Kast, Verena: Neid und Eifersucht, Die
Herausforderung durch unangenehme Gefühle, Deutscher Taschenbuch Verlag 2009
[vii] Kap. 15, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 141 ff.: „Die Buddhas und
Vorfahren im Dharma (Busso)“;
Kap. 16,
ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 145 ff.: „Das Dokument der Nachfolge im Dharma (Shisho)“;
Kap. 46, ZEN
Schatzkammer, Bd. 2, S. 178 ff.: „Das Gleichnis der Verflechtung für die
Dharma-Übertragung (Katto)“
[viii] Kapitel 70, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S.
89 ff.: „Die Erweckung des Bodhi-Geistes (Hotsu
bodaishin)“
[ix] Kapitel 27, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S.
240 ff.: „Die heilende Bambusnadel der Zazen-Praxis (Zazenshin)“
[x] Nishijima, G. W.: Begegnung mit dem wahren Drachen, deutsche
Übersetzung: Yudo J. Seggelke, DONA-Verlag 2008, S. 88
[xi] Nishijima, G. W.: Internet-Blog der
Dogen Sangha, deutsche Übersetzung, http://gudoblog-d.blogspot.com/
[xii] Fukan
zazengi in: Nishijima,
G. W.: Aus meinem Leben, Wirklichkeit und Buddhismus, DONA-Verlag 2010, S. 134
[xiii] Kast, Verena: Freude, Inspiration,
Hoffnung, Patmos Verlag 2008
[xiv] Fukan
zazengi in: Nishijima, G. W.: Aus meinem Leben, Wirklichkeit und
Buddhismus, DONA-Verlag 2010, S. 131 ff.
[xv] Fukan zazengi in:
Nishijima, G. W.: Aus meinem Leben, Wirklichkeit und Buddhismus, DONA-Verlag
2010, S. 127 ff.
[xvi] Nishijima, G. W.: Aus meinem Leben,
Wirklichkeit und Buddhismus, DONA-Verlag 2010, S. 149 f.
[xvii] Kap. 27, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 240 ff.:
„Die heilende Bambusnadel der Zazen-Praxis (Zazenshin)“
[xviii] Kap. 21, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 182 ff.:
„Die wahre Bedeutung des Sūtra-Lesens (Kankin)“
[xix] Herrigel, Eugen: Zen in der Kunst des
Bogenschießens. Der Zen-Weg, Fischer Taschenbuch Verlag 2005
[xx] Kap. 40, ZEN Schatzkammer,
Bd. 2, S. 133 ff.
[xxi] Nishijima, G. W.: Begegnung mit dem wahren Drachen,
deutsche Übersetzung: Yudo J. Seggelke, DONA-Verlag 2008
[xxii]
Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.:
„Das verwirklichte Leben und Universum
(Genjō-kōan)“; siehe auch die ausführlichen Erläuterungen im
ersten Teil dieses Buches.
[xxiii] Kap.
23, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 202 ff.: „Wahres und reines Handeln der Buddhas
(Gyōbutsu yuigi)“
[xxiv] vgl. Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.:
„Die Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujō seppō)“
[xxv] Fukan zazengi in: Nishijima, G. W.: Aus meinem Leben,
Wirklichkeit und Buddhismus, DONA-Verlag 2010, S. 127 ff.
[xxvi] Kap. 53, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 246 ff.: „Die
Natur und die nicht-empfindenden Wesen lehren den Buddha-Dharma (Mujō seppō)“
[xxvii] Kap. 11, ZEN Schatzkammer, Bd.1, S. 110 ff.: „Die
Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)“