(Wurzel-mittleres-Lehrsrophe)
Nâgârjuna
Nāgārjunas Werk Grundlegende Verse über den Mittleren Weg (MMK) wird zu Recht als eines der wichtigsten authentischen Dokumente des Buddhismus hoch geschätzt. Es hatte nachweisbar großen Einfluss auf die buddhistischen Entwicklungen in China, Japan, Korea und Tibet. Auch im Westen ist ein deutlich ansteigendes Interesse zu beobachten. Aber wegen seiner philosophischen Komplexität ist dieses Werk nicht einfach zu verstehen und zu entschlüsseln. Zudem mag die zur Entstehungszeit hoch entwickelte indische Philosophie für uns im Westen nicht ohne Weiteres zu erschließen sein.
Die zentrale Botschaft des MMK lautet: Die wahre Mitte des Menschen sowie der Dinge und Phänomene ist ein dynamisches lebendiges Ganzes und keine doktrinäre statische Pseudo-Substanz und keine ewige Ur-Substanz (in Sanskrit ātman und svabhāva).
Nāgārjuna
bezeichnet dieses Ganze mit direktem Bezug auf die ursprüngliche buddhistische
Lehre als gemeinsames Entstehen in
Wechselwirkung. Das ist nach seiner Überzeugung die bestmögliche kurze
Kennzeichnung der Wirklichkeit und besonders des Lebendigen. Dabei geht es
besonders um verbundene Funktionen der lebenden Netze und deren Teilsysteme,
wie die Neurowissenschaften und Ökologie wissenschaftlich fundiert erklären.
Unser Gehirn und Geist sind durch Plastizität, also Lernfähigkeit, und durch
Modularität, also lebende vernetzte Teilsysteme, gekennzeichnet. Diese Wahrheit
der Wirklichkeit haben Buddha und Nāgārjuna bereits erkannt und zur Grundlage
ihres Befreiungsweges gemacht. Dieser kann durch die Vier Edlen Wahrheiten zur Überwindung des Leidens und den Achtfachen
Pfad realisiert werden. Davon bin ich fest überzeugt.
Wer dagegen
der Verblendung durch doktrinäre Pseudo-Substanzen im Geist und in der Natur
erliegt, hat nach Buddha und Nāgārjuna keine Chance auf Freiheit und
Erleuchtung. Denn diese Verblendung ist eines der drei fundamentalen Gifte des
Buddhismus. Die zugrunde liegende Philosophie der Pseudo-Substanz und
ideologischen Starrheit ist fehlerhaft und in sich widersprüchlich. Die
spirituellen und geistigen Genies Buddha, Nāgārjuna und Meister Dōgen haben
dabei wichtige Erkenntnisse der heutigen verlässlichen Neurowissenschaft
intuitiv und phänomenologisch bereits klar erkannt und vorweggenommen. Der
Mensch sowie die Dinge und Phänomene sind nach Buddha leer von der giftigen Ideologie und Verblendung einer
unveränderlichen illusorischen Ur-Substanz. Eine andere Bezeichnung für eine
solche Substanz ist „fiktive Eigen-Substanz“
oder auch Pseudo-Substanz. Damit ist ebenfalls gesagt, was Nāgārjunas Begriff
der Leerheit im MMK wirklich bedeutet: Es geht um die Leerheit von solchen
ideologischen, doktrinären Pseudo-Substanzen im Menschen und in der Welt – also
um die Leerheit von einem doktrinären und
illusionären Pseudo-Ich, das als geistig-psychisches Gift das menschliche
Leben unheilsam beeinflusst und Leiden erzeugt. Mit der Ideologie des
Pseudo-Ich, des ātman, und der unveränderlichen Pseudo-Substanz der Welt,
svabhāva, kann es keine Befreiung vom Leiden des Menschen geben.
Nāgārjunas
Aussagen widersprechen weitgehend den üblichen individualistisch überzogenen
populären Weltanschauungen unserer heutigen Zeit und besonders des Westens. Der
Glaube an die eigene großartige oder aber im Gegenteil jämmerliche Ich-Substanz
als wahren unveränderlichen Wesenskern des Menschen ist tief in unserer
westlichen Kultur verankert und weit verbreitet. Er äußert sich beispielsweise
in rücksichtslosem Egoismus und Narzissmus oder in dem Gegenteil, einem
jammernden kleinen Klage-Ich. Die westliche Philosophie ist also seit der
griechischen Antike in Gefahr, Pseudo-Substanzen und Pseudo-Ich vorauszusetzen
und wechselwirkende Entwicklungen des wirklichen Lebens zu vernachlässigen. Das
Lehrgedicht Nāgārjunas erlangt darum heute große Aktualität und macht es besonders
wertvoll, um den aus den Fugen geratenen platten Individualismus und
Materialismus zu überwinden.
Die
wichtigsten Erkenntnisse der 27 Kapitel des MMK und unserer Interpretationen
sollen im Folgenden in sieben grundlegenden Weisheiten zusammengefasst werden.
Wir haben dabei versucht, möglichst verständlich zu formulieren, ohne die
fundamentalen Erkenntnisse Nāgārjunas zu verändern oder gar auszudünnen.
Die erste
Weisheit:
Erleuchtung und Befreiung kommen aus der Mitte und
nicht aus Ideologien und Extremen. In der Mitte ist die Kraft des inneren
Friedens, des guten Handelns und der Freiheit.
Buddha und
Nāgārjuna warnen eindringlich vor allen Extremen, ob im Geist oder bei den
sogenannten Skandhas, die als Komponenten verstanden werden, die den Menschen
insgesamt ausmachen. Die Extreme bedeuten vor allem, dass etwas entweder total
existiert oder total nicht existiert, und sie sind immer unreal und unwahr. Die
weit verbreitete Vorstellung von absoluter Existenz oder Nicht-Existenz
destruiert Buddha in einem berühmten Sūtta, weil es solche Extreme in der
Wirklichkeit gar nicht gibt.[i]
Das Gleiche gilt für doktrinäre absolute Identität oder Differenz, also die
absolute Dualität. Derartige Extremvorstellungen und -behauptungen werden durch
den fehlgeleiteten menschlichen Geist und unrealistischen, oft dogmatischen
Intellekt künstlich erzeugt. Die wahre Natur hat keine Extreme, weil sie
dynamisch vernetzt und wechselwirkend ist. Daher gibt es auch in der
Naturwissenschaft bei genauer Messung keine Korrelation von 0 oder 100%, also
keine totale Trennung oder totale Einheit von lebenden Prozessen. Mit dem Dogma
des Substantialismus gibt es keine Willensfreiheit und keine Befreiung des
Menschen.
Klare
Beweise für die Schädlichkeit von Extrem-Ideologien sind etwa brutale Gruppierungen,
ideologische Sekten und politische
Strömungen wie in der NS-Zeit und des islamischen IS. Das sind deutliche
Beispiele von Auswirkungen der Gifte und Verblendungen, die Buddha klar erkannt
hat. Aber es gibt auch viele Fälle von Übertreibungen und Extremen in unserem
täglichen Leben, die Abhängigkeiten und psychisches Leid bewirken. Unsere
Willensfreiheit würde dagegen bessere und nachhaltigere Möglichkeiten eröffnen,
wie Buddha im Sūtta „Grundlagen der Achtsamkeit“ eindrücklich beschreibt. [ii]
In diesem
Zusammenhang ist auch der ungenierte Einsatz von Fake News durch machtbesessene
Politiker und Diktatoren zu nennen. Sie unterscheiden absolut nach Freund und
Feind: „Wer nicht mein Freund ist, der ist mein Feind.“ Sie spalten und nehmen
grobe Schwarz-Weiß-Bewertungen vor. Deshalb bewirken sie Böses und vergiften
den sozialen Zusammenhalt im Leben. Derartige radikale Entweder-oder-Dogmen
sind aus meiner Sicht tief in der westlichen Kultur verankert und meistens gar
nicht bewusst. Sie sind oft der Nährboden für perverses Heldentum. Psychische
Extreme, verbrauchen aber viel Energie, bringen wenig Mehrwert an Information
und erzeugen lang andauerndes Unheil. Das wird besonders im biologisch-archaischen
Kampf-Modus der Menschen deutlich, der den Kämpfenden vielleicht ein grandioses
Heldengefühl einbringt, aber wenig Positives bewirkt. Von der Gehirnforschung
wissen wir, dass die damit verbundene Ausschüttung von Adrenalin unser
Frontalhirn abschaltet. Dadurch werden Vernunft, die Fähigkeit zum Abwägen und
unsere Ethik ausgeschaltet. Dann kann kein gutes Gleichgewicht der Mitte von
Körper und Geist entstehen.
Der Mittlere
Weg hat keine Extreme, ist aber auch keine laue Mittelmäßigkeit. Im Gegenteil:
Durch die Vermeidung der Extreme ergeben sich neue vitale Kräfte und vor allem
die Möglichkeiten der nachhaltigen eigenen Befreiung, Entwicklung und
Emanzipation, also der Kreativität. Wer in seiner Mitte lebt, verschwendet
keine Zeit und Kraft für unnütze dogmatisierte und daher emotionalisierte
Extreme. Er haftet nicht an den drei Giften Gier, Hass und Verblendung. Buddha
formuliert dies im Sūtta „Grundlagen der Achtsamkeit“ so: „Unabhängig lebt er
und haftet an nichts in der Welt.“[iii]
Die Mitte kann besonders durch Achtsamkeit und wirkungsvolle Meditation
gestärkt werden, was in der heutigen, oft stressigen Zeit besonders wichtig
ist.
Die zweite
Weisheit:
Das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung ist die
Grundlage der Befreiung und Willensfreiheit im Leben. Dagegen werden Leiden und
Plagen durch verblendete Pseudo-Substanzen und Fragmentierungen erzeugt.
Alle
Buddhisten waren und sind sich einig, dass das im vorbuddhistischen Denken
dogmatisch festgelegte Selbst des Menschen, der ātman, aus Verblendung
und Dogmen erzeugt wurde und schweres Leiden verursacht. Der ātman galt nach
der alten indischen Lehre als unveränderlich, isoliert, unzerstörbar und ewig.
Aber der Glaube an den ātman führte häufig zur Entstehung eines übergroßen Egos
und war zudem Kernstück des dogmatischen, menschenverachtenden Kastensystems.
Gerade durch
dieses ungerechte System gab es viel Leiden auch in Buddhas Zeit. Und diese
Plagen und Leiden hat er genau analysiert und durch seine Lehren, Therapie und
Übungsmethoden ausgeschaltet. Daher können die Menschen sich befreien und Glück
und Freude verwirklichen.
Nach der
Weltanschauung und Philosophie des Brahmanismus vor Buddha war die Welt
scheinbar fragmentiert und aus isolierten
Teilen aufgebaut. Diese Dharmas wurden dogmatisch als unteilbar,
unveränderlich, ewig, isoliert und voneinander unabhängig verstanden. Solche
getrennten, unveränderlichen Bausteine können das dynamische, vernetzte Leben
der Wirklichkeit jedoch nicht erklären. Damit werden auch menschliche
Entscheidungen und die Freiheit unseres Willens negiert. Diese Doktrin hat
große Ähnlichkeiten mit der Atomtheorie der griechischen Philosophie, die
inzwischen auch physikalisch überholt ist. Buddha lehnte solche Dogmen radikal
als unnatürlich und als Verblendung ab, da sie Plagen und Leiden verursachen
und die menschliche Willensfreiheit und Befreiung verhindern.
In den
folgenden Jahrhunderten entwickelte sich leider auch innerhalb des Buddhismus
das falsche Dogma, dass diese fragmentierten und isolierten Ur-Substanzen
die „Bausteine der Welt“ seien und
unveränderlich, ewig und
voneinander isoliert existieren würden. Dies gilt besonders für die Sekte der
sogenannten Sarvastivadins. Ihre Doktrin der Fragmentierung und des
ideologischen Substantialismus verfälscht jedoch, so Nāgārjuna,
grundsätzlich die authentische Lehre Buddhas. Denn sie ist mit seinem Grundsatz
der dynamischen Veränderung, der Vernetzung und des Entstehens und Vergehens in Wechselwirkung in der Natur und beim
Menschen überhaupt nicht vereinbar. Ich folge Nāgārjuna bei dieser Einschätzung
ausdrücklich.
Mit der
Doktrin derartiger fragmentierter und statischer Pseudo-Substanzen sind die
Überwindung des Leidens, die Befreiung
und Erleuchtung nicht möglich. Außerdem können neue wichtige Fähigkeiten,
Potenziale und Funktionen des Menschen dann nicht entstehen und verwirklicht
werden. Damit können nachhaltige und heilsame Befreiung und Emanzipation nicht
gelingen. In diesem tiefgründigen Lehrgedicht unterstreicht Nāgārjuna deshalb
schon in der Präambel das gemeinsame
Entstehen in Wechselwirkung (pratitya
samutpada) alles Lebendigen. Das Hier und Jetzt bezeichnet er als
das gemeinsam Entstandene (samutpanna)
und verbindet damit den Augenblick der Gegenwart mit dem Vergangenen und
Zukünftigen. Und der gegenwärtige Augenblick ist die wahre Wirklichkeit und die
Chance zur Befreiung. Diesen Sanskrit-Begriff verwendet Nāgārjuna im MMK in
drei fundamentalen Versen. Das zeigt, dass es ihm um die vernetzten Änderungen
und das Entstehen für die Beschreibung der Wirklichkeit geht und weniger um
Strukturen und Zustände.
Ferner gab
es die Sekte der Sautrantikas mit der
doktrinären Philosophie und Fehlentwicklung des isolierten Momentanismus. Danach sind die Zeitmomente kleinste
Fragmentierungen, die ebenfalls isoliert und unveränderlich sein sollen. Die
Anhänger dieser Lehre behaupteten also,
dass die Welt aus zeitlich getrennten, sehr kleinen fragmentierten Bausteinen
bestehen würde, die wie unveränderliche Atome irgendwie metaphysisch auftauchen
und verschwinden. Auch mit
diesem doktrinären Verstehen von Zeit und
Substanz können prozesshafte Veränderungen beim Menschen nicht begriffen
werden. Dann wäre die Wechselwirkung von Körper, Geist und Psyche nicht zu
verwirklichen. Somit ist auch diese
Weltanschauung eine weitere Form der Verblendung, eine doktrinäre Sackgasse,
und verfälscht grundlegend den authentischen Buddhismus.
Nāgārjuna
analysiert und destruiert mit großer Präzision diese falschen, leidbringenden
und doktrinären Grundprinzipien der Statik, Starrheit, der angeblich
unveränderlichen Eigen-Substanz und Isolation der Dharmas. Denn es handelt sich
dabei um Pseudo-Substanzen und Pseudo-Natur. Er macht daher in der Präambel und
in der Argumentation des MMK deutlich, dass die Dharmas der Welt und der
Menschen durch das gemeinsame vernetzte
Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada) gekennzeichnet sind. Und auch die menschliche Dankbarkeit des sozial
vernetzten Geistes und seiner Psyche ist ein sehr wichtiges Beispiel für solch
eine heilsame und psychisch erfüllende Wechselwirkung.
Wir wissen
heute durch verlässliche Analysen der zusammenwirkenden Ökosysteme, dass Buddhas
und Nāgārjunas Lehren zutreffen. Die Welt und Natur lassen sich nicht auf eine
Ansammlung isolierter Pseudo-Substanzen reduzieren. Auch der Mensch ist mehr
als ein Haufen fiktiver, fragmentierter Bausteine, der angeblichen
Eigen-Substanzen (svabhāvas). Die Dinge und Phänomene der Wirklichkeit sind
gerade nicht fragmentiert, statisch, substanzhaft und fix, sondern
veränderlich, dynamisch und wechselwirkend vernetzt. Das ist die klar
erkennbare Realität, und so werden die Dharmas auch in der Lebenspraxis erfahren.
Die doktrinär erzeugten Hemmnisse und Blockaden des Menschen kommen dann zur
Ruhe und werden überwunden. Unsere Befreiung vom Leiden durch verblendete
Fixierungen kommt so in Gang.
Buddha und Nāgārjuna
sind aus meiner Sicht geniale frühe Denker und Therapeuten der Menschheit, die
systemisch und wechselwirkend analysiert und gedacht haben. Im Westen sind die
entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse erst in den letzten 70 Jahren
verlässlich erarbeitet worden. Die Neurowissenschaften sind durch die
zunehmenden Erkenntnisse zu Plastizität und Modularisierung geprägt. Diese
grundlegenden Prinzipien haben Buddha und Nāgārjuna intuitiv vorweggenommen.
Vielleicht hätte mit den Erkenntnissen dieser großen Weisen die rücksichtslose
Ausbeutung unserer Ökosysteme früher gestoppt werden können! Auch die aktuelle
Gehirnforschung hat klar nachgewiesen, dass die Funktionen und Leistungen
unseres Gehirns auf dem Prinzip der Vernetzung, Rückkopplung und dynamischen
Veränderung basieren. Isolierte und statische Gedanken-Bausteine hätten ein
fragmentiertes Gehirn und einen fragmentierten statischen Geist zur Folge. Dann
wäre die Freiheit des Menschen radikal ausgeschlossen! Die Zerstückelung der
Materie hin zu unteilbaren Atomen war ebenfalls ein Irrglaube und ist durch die
heutige Festkörperphysik eindeutig falsifiziert. Zum Beispiel kann Materie nach
Einsteins Relativitätstheorie in prozesshafte Energie umgewandelt werden.
Die dritte
Weisheit:
Die Weisheit der Leerheit ist die Befreiung von den
drei Giften Gier, Hass und Verblendung. Durch diese Entgiftung entstehen
Freude, Glück und geistige Klarheit.
Nāgārjuna
gilt zu Recht als der wichtigste buddhistische Meister und Philosoph der
Leerheit. Seine Arbeiten erlangten zentrale Bedeutung für die weiteren
Entwicklungen des Buddhismus in China, Japan, Korea und Tibet. Es gibt manche
abweichenden, oft mystischen Interpretationen der Leerheit oder, wie es auch
heißt, der Leere. Zum Teil sind in der Literatur erstaunlich unklare, vage
Vorstellungen und metaphysische Philosophien anzutreffen. Häufig wird die
Leerheit sogar mit dem Nichts und Nihilismus verwechselt oder auch verschwommen
vermischt. Daher ist das genaue Verständnis des Begriffs und der Bedeutung der
buddhistischen Leerheit bei Nāgārjuna kaum zu überschätzen. Daraus ergibt sich:
Nāgārjunas Leerheit ist die Vorraussetzung für unsere menschliche
Willensfreiheit! Um überhaupt sinnvoll mit dem Begriff, der Bedeutung und
Funktion der Leerheit umgehen zu können, ist eine brauchbare Arbeitsdefinition
erforderlich, die mit den buddhistischen Sūttas weitgehend im Einklang steht.
Nāgārjuna
untersucht im Kapitel 24 des MMK genau die authentische Bedeutung der Vier
Edlen Wahrheiten und des Achtfachen Pfades zur Überwindung des Leidens, also der
zentralen Aussage Buddhas. Er verbindet diese Wahrheiten mit der Leerheit (shūnyatā)
und dem gemeinsamen Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada).
Der zentrale Vers 24.18 lautet in genauer deutscher Übersetzung:
„Was gemeinsames Entstehen in Wechselwirkung
hat, dieses sehen wir als Leerheit an.
Indem wir uns diese Bezeichnung
angeeignet haben, ergibt sich eben der mittlere Zugang (zu Buddhas Wahrheit).“
Es geht um
das gemeinsame Entstehen in Wechselwirkung ohne die verzerrenden Gifte von
Gier, Hass und Verblendung, also unheilsame Doktrinen oder Ideologien. Diese
vernetzte Dynamik des Entstehens und Vergehens ist Buddhas und Nāgārjunas
Verständnis der wahren Natur der Welt und des Menschen. Die Befreiung und
Leerheit von verzerrenden unheilsamen Doktrinen ist Nāgārjunas fundamentale
Sichtweise der wahren Natur. Sie kann allerdings nach Buddha nicht vollständig
vom Menschen intellektuell erfasst und verstanden werden. Auch Heilige und
Erleuchtete sind nach Nāgārjuna daher niemals allwissend, wie sogar heute noch
manche Schulen behaupten. Damit wird die Leerheit klar definiert und ist frei
von Mystizismus, Metaphysik und kruden Spekulationen. Das gemeinsame Entstehen
in Wechselwirkung ist also nach Buddha und Nāgārjuna das Grundprinzip der Welt.
Diese Wechselwirkung wird zudem als Leerheit
angesehen und so bezeichnet. Die
Wirklichkeit wird dadurch von verzerrenden, unheilsamen und vergiftenden
Doktrinen befreit.
In der
zweiten Zeile des Verses werden diese Bezeichnung und deren Funktion genauer
angesprochen: Wenn man sich diese Bezeichnung angeeignet hat, eröffnet sich der
Zugang zum heilsamen Weg der Mitte. Und
dies ist der Zugang zur eigenen
Freiheit, Erleuchtung und kreativen Emanzipation. Aber der Zugang
ist nicht total identisch mit Erleuchtung, sondern eben der Zugang zum Weg der
Willensfreiheit, Befreiung und Erleuchtung. Das wird in der Literatur häufig
verwechselt. Die buddhistische Befreiungsbotschaft besteht vor allem aus den
Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad zur Überwindung von Leiden und
Schmerzen. Das gilt auch für die Verblendung durch verwirrende Unklarheiten und
falsche Doktrinen wie diejenige der Pseudo-Substanz.
Denn solche
Doktrinen sind Pseudo-Wahrheiten mit fatalen Folgen für persönliches und
gemeinsames Glück und Freiheit. Die Sichtweise der richtig verstandenen
Leerheit eröffnet dagegen den authentischen Befreiungsweg Buddhas.
Aus der
unheilsamen Doktrin der statischen und unveränderlichen Eigen-Substanz erwächst
die falsche Doktrin der Trennung von Subjekt und Objekt, also des Dualismus.
Diese Doktrinen beschreiben eine geistige Fata Morgana, gefährliche Illusionen
und Scheinwahrheiten. Sie können überhaupt keine Überwindung von Schmerzen und
Leiden ermöglichen, denn dazu bedarf es des Verständnisses von Veränderungen,
des kontinuierlichen Lernens sowie der Emanzipation und Befreiung von
schädlichen Doktrinen. Das richtige Verständnis der Leerheit bedeutet die
Einsicht in das gemeinsame vernetzte Entstehen in Wechselwirkung und die
einwirkende Kraft des menschlichen Handelns, Denkens und Fühlens.
Nāgārjuna
sagt sogar: Wenn man die Leerheit falsch versteht, ist es dasselbe, als ob man
eine „giftige Schlange“ falsch ergreift und gebissen wird. Bei einem solchen
fundamentalen Missverständnis könne man den davon betroffenen Menschen
überhaupt nicht helfen. Oder anders ausgedrückt: Wenn man die Bedeutung von
Leerheit falsch versteht, ist der Befreiungsweg Buddhas blockiert und
versperrt.
Die vierte Weisheit:
Befreiung in zwölf Schritten: Wir steuern und entwickeln uns selbst
durch die Willensfreiheit, die Freiheit der Entscheidung und die Veränderung
zum Heilsamen und zum Glück.
Buddha und Nāgārjuna lehren zwölf Schritte der Willensfreiheit, heilsamen
Entscheidung und Erleuchtung. Das ist der unverzichtbare Teil des berühmten
Mittleren Weges zur Freiheit des Geistes und der Lebenspraxis. Er wird nicht
durch Extremismus und Unmoral blockiert.
Nāgārjuna
gibt in seinem fundamentalen Zyklus des MMK eine genaue Analyse des praktischen
und geistigen Befreiungsweges. Schon dadurch wird klar, dass er kein Nihilist
oder Pessimist ist, wie lange behauptet wurde. Dieser Stufenweg ist durch
faktische und ethische Willensfreiheit und gute Entscheidungen gekennzeichnet.
Er überwindet Abhängigkeiten, Unklarheiten, Blockierungen und Extreme.
Nāgārjuna bereinigt damit den wahren Weg des authentischen Buddhismus und
unterstützt nachhaltig dessen weitere Entwicklung.
Er
nennt zwölf Schritte oder Glieder von menschlichen Wechselwirkungen und
Entwicklungen, an deren Anfang der „umhüllte“ Mensch steht, der von Unwissen
und unheilsamen Doktrinen verblendet sein kann. Dann geht es um seine
Befreiung. Ein solcher Mensch hängt zunächst oft dem extremen Substanz-Glauben
an, ist also in der Doktrin der isolierten Pseudo-Substanz gefangen. Dies
bedeutet die Zerstückelung und Vergiftung der lebendigen Wechselwirkungen.
Deshalb kann der Mensch sein Potenzial und seine mögliche Lebensdynamik nicht
entfalten. Die formenden Kräfte gerade des Unbewussten bewirken dann die
Erstarrung und Abhängigkeit von Gier, Hass und Verblendung. Ein unwissender
Mensch, der in unreflektierten, unheilsamen Weltanschauungen, Doktrinen und
Ideologien gefangen ist, geht zwangsläufig einen unheilsamen Weg des Lebens.
Dieser Weg führt, gehemmt, blockiert und fixiert durch
Unfreiheit und Determination, immer weiter ins Unheil und Leiden, also in
unfreie Abhängigkeit. Dabei wiederholen sich fatale menschliche Lebenszyklen,
die durch immer wieder gleiche Probleme entstehen und sich zu großem, unnötigem
Leiden auftürmen. Das ist ein fast hoffnungsloser Niedergang. Ein solcher
Mensch erkennt nicht den heilsamen Ausstieg hin zu einem guten Leben und hat
keine Willensfreiheit. An dieser Stelle muss allerdings betont werden, dass es
keine totale und absolute Freiheit gibt, wie manche Idealisten glauben! Das
lässt die Wechselwirkung alles Lebendigen nicht zu. Aber Nāgārjuna falsifiziert
gerade die totale Abhängigkeit, also den Determinismus und vor allem den
Nihilismus.
Im
Buddhismus wird für die mögliche Entwicklung auf dem Lebensweg das Bild einer
zusammenhängenden Kette von zwölf Gliedern oder Schritten verwendet. Einerseits
kann es eine Abfolge in die Unfreiheit und ins menschliche Chaos sein.
Andererseits gibt es aber in jeder Phase und bei jedem Schritt die reale
Möglichkeit der Emanzipation und Befreiung von einer solchen Zwangsläufigkeit
und Determinierung. Dann verschwinden Leiden und Elend nach und nach aus
unserem Leben, und wir gehen auf dem Weg der zunehmenden Freude und Freiheit.
Die jeweilige vorherige Phase erzeugt eine positive Anschlussqualität für eine
weitere heilsame Entwicklung der folgenden Phasen. Der Teufelskreis des sich
wiederholenden Elends ist dann aufgebrochen, und die äußeren negativen Kräfte
verlieren ihre determinierenden Wirkungen für uns. Plötzlich ergeben sich zudem
ganz neue heilsame Alternativen. Mut und Hoffnungen für die Zukunft nehmen zu
und geben den Menschen Sicherheit und Selbstvertrauen.
Nāgārjuna
fasst im Kapitel 26 diese beiden alternativen Abläufe des menschlichen Lebens
zur Befreiung oder zur unfreien Abhängigkeit vom Leiden zusammen. Von großer
Bedeutung sind dabei Aussagen, in denen die Befreiung von Anhaftungen, vom
Ergreifen schädlicher Doktrinen der fiktiven Eigen-Substanzen, von Egoismus und
von narzisstischer Selbstüberhöhung beschrieben wird. Mit der Befreiung aus der
fatalen Vorprogrammierung wird der unheilsame Ablauf des Leidens durchbrochen.
Das ist der Weg des Erwachens und der Erleuchtung. Dann verwirklicht sich
unsere Buddha-Natur, besonders bei der Meditation, im Flow der sinnvollen
Arbeit und beim Handeln nach dem Bodhisattva-Ideal.
Für
jeden Menschen gibt es diese Chance der tiefgreifenden Befreiung und des
Erwachens aus Dumpfheit und geistigem Gefängnis. Fundamental sind dabei die
rechte Sichtweise und die rechten Entscheidungen sowie die übrigen sechs
Bereiche des Achtfachen Pfades, zum Beispiel die Meditation und die Vermeidung
der fünf Hemmnisse auf dem Weg zur Erleuchtung.
Wir
erzeugen also selbst die Wurzeln der Freiheit oder aber der Unfreiheit und des
Leidens, heißt es bei Nāgārjuna im MMK. Daher sind wir gerade nicht passiv
Erduldende, sondern aktiv Handelnde. Wir schaffen uns den Sinn des Lebens
selbst und folgen keinen programmierten determinierenden Doktrinen. Wir bringen
die eigenen Wurzeln in die Dynamik der formenden Kräfte ein, die uns zum Glück
und zur Freude oder aber umgekehrt zum Leiden und Elend führen. Nāgārjuna
spricht vom „Zur-Ruhe-Kommen des Leidens“, um auszudrücken, dass der
große Friede bei gleichzeitigem klarem Handeln verwirklicht wird.
Die fünfte
Weisheit:
Das Ātman-Selbst und die isolierten Pseudo-Substanzen sind Schein-Wahrheiten.
Sie blockieren unsere Befreiung und verhindern die Überwindung des Leidens.
Auch im
Buddhismus hatten sich zur Zeit Nāgārjunas Doktrinen und Sekten entwickelt, die
der alten menschlichen Sehnsucht verfallen waren, dass es im Menschen einen
substanzartigen, isolierten Kern gebe. Dieser sei unveränderlich, dauerhaft,
ewig und würde bei der Wiedergeburt nur in einen neuen Körper eingehen – so wie
eine Schlange sich häutet. Nach Buddha und Nāgārjuna handelte es sich dabei um
unheilsame Doktrinen von Pseudo-Substanzen. Diese waren bereits populär in der
Religion und den Philosophien in der Zeit vor Buddha. Später behaupteten dann
zum Beispiel ganz ähnlich wieder die Sarvastivadins, die Vertreter des
Substantialismus, dass die Dharmas als Bausteine des Lebens und der Welt
unveränderlich, ewig und voneinander isoliert seien. Diese Doktrin widerspricht
aber der lebendigen Wechselwirkung nach Buddha. Der zentrale Begriff dieser
Sekte für solche angeblich statischen und isolierten Bausteine der Welt lautet
in Sanskrit svabhāva. Er bezeichnet
unveränderliche, ewige Substanzen, die in sich selbst gleichbleibend in
Ur-Zeiten allein aus sich selbst entstanden seien. Man kann dafür den Begriff
„fiktive, doktrinäre Eigen-Substanz“
oder auch „Pseudo-Substanz“ verwenden.
Die irrationale
menschliche Sehnsucht nach Unveränderlichkeit und Ewigkeit führt zu
gefährlichen Illusionen, Scheinwirklichkeiten und Täuschungen. Mit solchen
Doktrinen kann es keine Befreiung von konkreten Leiden und Schmerzen geben, und
die Erleuchtung ist damit nicht zu verwirklichen. Sie verhindern oft die
genaue, im buddhistischen Sinn achtsame Beobachtung von sich selbst, von
anderen Menschen und der Umwelt. Damit ist kein sozialer, verantwortungsvoller
Buddhismus möglich. Je mehr unheilsame Doktrinen im Menschen dominieren, desto
größer ist die Gefahr von Verdrängungen, Neurosen, Narzissmus und
Borderline-Syndrom. Und illusionäre Doktrinen vom Ich verhindern gute und
heilsame Lösungen für schwierige Lebensprobleme.
Genau diese
Sehnsucht nach einem ewigen, unzerstörbaren Selbst-Kern hatte Buddha als
gefährlich und schädlich erkannt, da ein solcher der Wirklichkeit nicht
entspricht und zu Leiden und Schmerzen führt. Vor allem falsche Gurus und
Populisten missbrauchen derartige Sehnsüchte der Menschen und machen sie
dadurch von sich abhängig. Gleichzeitig verdecken sie ihre eigenen egoistischen
und unmoralischen Absichten. Solche Sehnsüchte können blind machen für das
eigene Glück und die eigene Freude. Daraus kann eine sich selbst verstärkende
fatale Kette von negativen Entwicklungen entstehen, die in das eigene Unglück
und Leiden führen muss. Buddha und Nāgārjuna beschreiben dieses mögliche Drama
des Lebens in der zwölfgliedrigen Kette zum Leiden und zu Schmerzen.
Nāgārjuna
destruiert und falsifiziert unmissverständlich und eindeutig solche
Pseudo-Substanzen, die durch Sehnsüchte und irrationale Abhängigkeiten
gekennzeichnet sind. Er weist nach, dass mit dieser falschen Ideologie die
gesamte Lehre Buddhas zur Überwindung des Leidens und zur Entwicklung der
Befreiung hinfällig wird. Denn in der Welt und beim Menschen sind keine ewigen
Substanzen zu finden und lassen sich auch nicht philosophisch begründen.
Stattdessen entstehen und vergehen Dinge und Phänomene in Wechselwirkung. Es
geht gerade darum, diese Veränderungen für die eigene Befreiung zu nutzen.
Dabei muss man der Wirklichkeit der Natur und des Menschen ins Auge sehen, um
nicht durch Illusionen und irreführende Träumereien vom Buddha-Weg abzukommen.
Die sechste
Weisheit:
Geben ist besser als Nehmen, denn ethisches Handeln
und gutes Karma sind heilsames Leben. Sie befreien uns jetzt und in Zukunft von
doktrinärem Ballast.
Gute und
heilsame Veränderungen des Menschen werden durch praktisches Tun und Handeln
bewirkt, und zwar in geistiger, psychischer und körperlicher Hinsicht. Im Mahāyāna-Buddhismus
wird das Bodhisattva-Handeln genannt. Dieses Handeln ist heilsam für andere
Menschen (sozialer Buddhismus), aber auch und gerade für uns selbst. Dadurch
werden neue, kreative und ethische Lebenskräfte aus der Mitte kommend in Gang
gesetzt. Das heißt, genau im Augenblick des Bodhisattva-Handelns erfahren und
erleben wir selbst und die anderen sofort die gute Wirkung. Dabei gilt die alte
Weisheit „Geben ist besser als Nehmen“.
Umgekehrt
haben Egoisten und Narzissten bei genauer Analyse ein hohles, verarmtes Leben.
Wer also ohne ideologische Verzerrungen gut handelt, erfährt entsprechend
selbst die heilenden Wirkungen und hilft zugleich den anderen, indem er Leiden
mindert und sie auf ihrem Weg der Befreiung unterstützt. Das hat eine wichtige
ethische Komponente und ist heilsame Wechselwirkung. Wer ohne Eigennutz anderen
hilft, gibt nichts weg, sondern gewinnt dazu und ist auch in einer guten
geistig-psychischen Verfassung. Diese zweifachen Wirkungen werden durch die
aktuelle Gehirnforschung bestätigt.
Meister
Nishijima bezeichnet die Zazen-Meditation in der nach Dōgen authentischen
Sitzhaltung als Handeln im Gleichgewicht, um sich in Klarheit, Ruhe und
Sammlung zu verwirklichen. Er nennt Zazen daher die erste Erleuchtung. Wenn
jemand aber durch Doktrinen von substantialistischer und Ich-zentrierter,
eingebildeter Eigen-Substanz verblendet ist, kann er die gute Karma-Wirkung
weder im jetzigen Augenblick noch in der Zukunft erfahren.
Durch
aktives und nicht zuletzt bewusstes Handeln können wir unser Leben nachhaltig
positiv gestalten. Dies ist in guter Wechselwirkung mit der buddhistischen
Lehre und der rechten Sichtweise. Dann können wir klar das ethisch Richtige und
Falsche unterscheiden und danach handeln.
Für das
rechte und damit heilsame Handeln sind im Buddhismus die zehn sogenannten
Bodhisattva-Gelöbnisse entwickelt worden, mit denen ethisch klares Handeln
erleichtert und gebündelt wird. Dies gilt besonders für den Achtfachen Pfad der
Auflösung des Leidens. Das darf aber keine dürre Theorie bleiben. Handeln kann also aus egoistischem oder gar
verbrecherischem Wollen entstehen und fixiert werden. Das wird vor allem durch
falsche und oft verführerische Doktrinen, Verblendungen und Scheinwahrheiten
gesteuert. Dabei übernimmt ein grandioses aufgeblasenes Ego oft die Herrschaft
über das wahre Selbst. Daraus wird deutlich, dass nicht alles und jedes Handeln
im buddhistischen Sinne unterstützend und nützlich für den eigenen und fremden
Befreiungsweg ist. Hektischer Aktionismus führt auf den falschen Pfad. Dasselbe
gilt für Trägheit und Übelwollen.
Im
Buddhismus haben die sogenannten Früchte
des Handelns, also das Karma und die Ergebnisse, eine hohe Bedeutung. Hier
warnt Nāgārjuna, dass eine falsche Doktrin von unveränderlichen
Pseudo-Substanzen dem buddhistischen Handlungsprozess schadet oder ihn sogar
sinnlos machen kann. Rechtes Handeln verkehrt sich dann in sein Gegenteil. Das
ist im Ergebnis an den Folgen nationalsozialistischer oder radikal
islamistischer Ideologien zu beobachten. Auch das naive substanzhafte und
starre Verständnis der Früchte von Handeln als angeblich „gutes Karma“ führt
oft in die Sackgasse. Mit solchen Doktrinen kann es nicht gelingen, den Achtfachen
Pfad zu gehen, die Sieben Faktoren der Erleuchtung zu verwirklichen, die fünf
Hemmnisse zu vermeiden und nachhaltige Befreiung zu erlangen.
Die siebte Weisheit:
Nirvāna ist
die wirkliche Freiheit und Willensfreiheit des erwachten Menschen im Hier und
Jetzt, genau in diesem Leben.
Nirvāna
ist für Nāgārjuna keine völlig jenseitige metaphysische Welt, in die die
Eigen-Substanz des Menschen oder der ātman wie ein Endprodukt irgendwann nach
unendlich vielen Wiedergeburten in unendlicher Zukunft im grenzenlosen Glück
eingeht. Das ist eine typische unrealistische Doktrin, die das jetzige Leiden
nur scheinbar überwindet, aber es in Wirklichkeit oft verfestigt und sogar
verstärkt. Buddha und Nāgārjuna sagen in aller Klarheit, dass die Wirklichkeit
der Welt maßgeblich durch Prozesse und Funktionen der Veränderung, Befreiung
und Emanzipation gekennzeichnet ist. Das ist das gemeinsame Entstehen in
Wechselwirkung. Nicht zuletzt dadurch gelingt die Befreiung von Plagen und
Leiden hier in diesem Leben. Dadurch kommen beispielsweise Kummer, Jammer,
Gram, Verzweiflung und damit die wegführenden Verirrungen zur Ruhe, wie dies
die Präambel des MMK festhält. Das abrupte Umschlagen von substanzhaftem Leiden
in gleichfalls substanzhaftes, unbegrenztes und dauerhaftes Glück ist eine
irreführende Illusion und eine große Lebenslüge! So etwas gibt es in der
Wirklichkeit nicht, und es kann nicht beobachtet werden. Es sind doktrinäre,
extreme Konstrukte des Geistes und falsches Schwarz-Weiß-Denken.
Es
geht um das große Lebensziel der Befreiung des Menschen gerade von diesen
Verblendungen, in diesem Leben und im Hier und Jetzt. Nāgārjuna nennt diese
Willensfreiheit und Befreiung Nirvāna und distanziert sich damit von dem
Glauben, Nirvāna sei nur in einer jenseitig-transzendenten Welt zu finden.
Nirvāna ist nicht total verschieden von der hiesigen realen Welt der
Erleuchtung, aber verschieden von Leiden und Sehnsüchten. Wenn wir also das
Nirvāna in diesem Leben verwirklichen, erlangen wir den großen Frieden, und
zwar in der Ruhe, im Gleichgewicht und im Handeln. Wir erleben die wunderbare
Kraft und Ruhe des klaren Augenblicks. Wir befreien uns aus dem fatalen
Zwangskreislauf des selbst erzeugten Leidens, hektischer Aktivitäten und des
menschlichen Chaos.
Der
heutige digitale Stress und der aufgeregte Kampf-Modus werden dann überflüssig.
Oder kurz gesagt: Die buddhistische Lehre und Praxis geben uns die Möglichkeit,
uns jetzt in diesem Leben so zu entwickeln, dass wir ein freies Leben führen
können, wie wir es wollen. Dann entsteht eine effiziente Selbststeuerung. Dies
ist gleichzeitig ein gutes und freudiges Leben, das die unnötigen und oft
selbst erzeugten Hemmnisse überwunden hat. Besonders bei den lebenswichtigen Entscheidungen
und Gabelungen im Lauf des Lebens erkennen wir dann in großer Klarheit den
rechten Weg in die Zukunft, vor allem durch unaufgeregte, offene Präsenz im
Augenblick. Das ist die gute Wechselwirkung von Gegenwart mit dem eigenen
freien Willen, den eigenen Erinnerungen und den Erwartungen für die Zukunft.
Ein
solches Leben hat Buddha durch die Sieben Faktoren der Erleuchtung authentisch
und verlässlich beschrieben. Wir sollten uns im Hier und Jetzt vor den
Illusionen eines grenzenlosen himmlischen Lebens hüten, in dem andauerndes
unbedingtes Glück und unendliche Glückseligkeit herrschen. Wir werden auch
zukünftig mit Problemen konfrontiert sein, aber wir können unnötiges Leiden
durch die buddhistische Praxis und Lehre nachhaltig vermeiden.
[i] Katyanaya,
zitiert in Nāgārjuna: The Philosophy of the Middle Way
(Übersetzer: David J. Kalupahana), S. 1ff.
[ii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 67
[iii] Gäng, Peter: Meditationstexte des Pali-Buddhismus I,
S. 33