Die große intuitive Weisheit, die das
Denken überschreitet (Makahannya
haramitsu)
Meister Dōgen beschreibt im zweiten Kapitel des Shōbōgenzō die „Pāramitā der großen Weisheit“ (Makahannya haramitsu), auch als Herz-Sūtra bezeichnet. Er stellt das berühmte Sūtra, das mit den Begriffen „Form und Leere“ verbunden ist, an den Anfang seiner umfassenden Lehre des Buddhismus. Peter Gäng bezeichnet in seinem Buch über den Buddhismus Prajñā als eine Weisheit, die über das Denken hinausgeht. Das Herz-Sūtra ist eines der kürzesten aber wohl auch das aussagekräftigste, aus einer Reihe von zirka vierzig Sūtras zu diesem Thema. Es wird in den buddhistischen Gruppen der meisten ostasiatischen Traditionen auch heute noch regelmäßig rezitiert.
Pāramitā
bedeutet das „Erreichen des anderen Ufers“, also das Erwachen und Überschreiten
des üblichen Denkens und der gewöhnlichen Wahrnehmung, wobei diese im
Normalfall meistens mit mehr oder minder starken Emotionen verbunden ist.
Prajñā wird auch oft mit dem Begriff der Leerheit (shūnyatā) verbunden, der vor
allem von Meister Nāgārjuna tiefgründig interpretiert wurde. Der Begriff der
Leerheit hat allerdings nicht selten zu großen Missverständnissen geführt, weil
oft die Vorstellung von Nihilismus und Ablehnung von Vernunft und Logik damit
verbunden wird. Dies ist aber nicht richtig.
Prajñā
bedeutet vielmehr die Weisheit, die das normale Denken überschreitet, somit
kennzeichnet sie also Qualitäten unseres Geistes, die beim linearen Denken und
der Trennung von Subjekt und Objekt nicht zum Zuge kommen. Ich selbst habe das
Herz-Sūtra wieder und wieder rezitiert und hatte zunächst erhebliche Mühe, überhaupt
dessen Sinn zu erfassen, besonders deswegen, weil es am Schluss heißt, dass
dieses Sūtra mit seiner Kraft „alles Leiden wegnimmt“. Wie kann man das Leiden
überwinden, wenn es heißt, „Form ist Leere, und Leere ist Form“? Das war mir in
der Tat völlig unklar. Nishijima Roshi sagt zu diesem Kapitel:
„Prajñā wird intuitiv und unmittelbar erfahren, wenn Körper
und Geist im Zustand des Gleichgewichts sind, und Zazen ist die Übungspraxis,
durch die Körper und Geist in diesen Zustand gelangen. So ist die Pāramitā der
großen Weisheit die Essenz des Zazen.“
Er
verwendet für den Begriff der Leerheit häufig den Zustand des ganzheitlichen
Gleichgewichts von Körper und Geist, also des ganzen Menschen und auf keinen
Fall nur seines Verstandes.
Dōgen
beginnt dieses Kapitel wie folgt:
„Während der Bodhisattva Avalokiteshvara die tiefgründige
Prajñā-Pāramitā praktiziert, spiegelt der ganze Körper wider, dass die fünf
Komponenten des Menschen (skandha) vollständig leer sind.“
Nishijima Roshi erläutert hierzu sein erstes
Grundprinzip, das man bei der Zazen-Praxis erfährt: „Das ganze Universum ist
so, wie es ist“. Die fünf Komponenten des Menschen und der Welt sind nach
seiner Deutung Körper (Form), Sinne (Wahrnehmung), Denken, Handeln und
Bewusstsein. Beim Zazen werden das Denken und die Wahrnehmung überschritten,
sodass sich das Bewusstsein ganz für das Hier und Jetzt öffnet und den Stress,
die Gedanken und aufgeladenen Gefühle abschüttelt. Dies wird auch mit dem
Begriff „Leerheit“ bezeichnet: Man ist leer von den üblichen Gedanken und
Gefühlen. Damit hat der Begriff „Leerheit“ eine ähnliche Bedeutung wie bei uns
im Westen der Begriff der „Freiheit“, allerdings in einem umfassenden
spirituellen Sinn. Nishijima Roshi erklärt hierzu, dass sich in diesem Zustand
das vegetative, also autonome Nervensystem im Gleichgewicht des Zazen befindet
und dass sich dadurch Ausgeglichenheit und Ruhe einstellen. Es gibt dann im Bewusstsein
keine Störungen mehr, und dadurch wird das Universum genau so erfahren, wie es
ist. Damit ergibt sich eine Identität von Leerheit und dem Zustand in der
Zazen-Praxis. Gleichgewicht und Soheit. Ritsunen Linnebach verwendet dafür gern
die Formulierung:„es ist, wie es ist“. Dôgen sagt folgerichtig zu den Begriffen
von Form und Leerheit über das obige Zitat hinaus, dass die Form auch die Form
und die Leerheit auch die Leerheit ist. Dadurch wird die Soheit von beiden
besonders betont.
Wir hoffen, dass diese Ausführungen nicht allzu
verwirrend sind; wichtig ist dabei, dass es sich um die übergreifende Weisheit
jenseits des gewöhnlichen Denkens handelt, die sich nach der Lehre des
Buddhismus in der Zazen-Praxis beim Menschen unmittelbar im Hier und Jetzt ereignet.
Die
intuitive, grenzüberschreitende Prajñā-Weisheit ist auch für die Wahrnehmung
wirksam. Ein erwachter Mensch haftet bei der Sinneswahrnehmung, zum Beispiel
beim Sehen, nicht mehr an der äußeren Form und an der Trennung von Subjekt und
Objekt, sondern überschreitet diese. Die Wahrnehmung wird nach altindischer
Tradition mit den sechs Formen der Sinne und den jeweiligen Objekten erfasst.
Auch
die vier edlen Wahrheiten des Gautama Buddha werden von dieser intuitiven
Weisheit (Prajñā-Pāramitā) durchdrungen. Dasselbe gilt für die überlieferten
sechs Arten des Bodhisattva-Handelns: Freizügiges Geben, Einhalten der
Gelöbnisse, Geduld, Ausdauer, Meditation und Samādhi.
Dōgen
betont die Verwirklichung im gegenwärtigen Augenblick (Sein-Zeit) und fügt die
drei verschiedenen Arten der linearen Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft hinzu.
Auch
die altindischen Arten der materiellen Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und
Raum sowie die vier Tätigkeiten des Alltags werden durch die große intuitive
Weisheit erfasst, von ihr durchdrungen, und dadurch werden das herkömmliche
Leben und Denken überschritten.
Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, sich
die Herkunft des Sanskrit-Begriffes shūnyatā
zu vergegenwärtigen: Peter Gäng zufolge wurde kurz vor der Zeitenwende von
indischen Mathematikern, die damals führend in der Welt waren, die Null im
System der positiven und negativen Zahlen entdeckt. Die Null heißt auf Sanskrit
shūnyatā. Die Null ist in der Mitte
zwischen den positiven und negativen Zahlen angeordnet und ermöglicht so das
„Gleichgewicht“ und die Funktionsfähigkeit des gesamten Zahlensystems. Zur gleichen
Zeit wurden von mehreren großen indischen Meistern die Lehren des Mahāyāna-Buddhismus
ausgearbeitet und interpretiert, wobei Meister Nāgārjuna diesbezüglich einen Höhepunkt und eine „goldene Periode“ prägte.
Er verwendete für die Kennzeichnung des Mittleren Weges, also des Gleichgewichts,
vor allem den Begriff shūnyatā und
hat dies im Gesang des Mittleren Weges
näher beschrieben. In älteren
buddhistischen Lexika wird Nâgârjuna
allerdings z. T. als Nihilist bezeichnet, der angeblich durch den Inhalt von shûnyatâ alle Logik und alles Denken
außer Kraft gesetzt hat und eine Auflösung im „Nichts“ lehren würde. Manchmal
haben wir den Eindruck, das Schopenhauers Verständnis des Buddhismus dem nahe
kommt. Dies ist aber nach heutiger weitgehend vorherrschender Sicht unrichtig,
denn es geht um die intuitive, das unterscheidende Denken überschreitende
Weisheit, die in der Praxis des Zazen erfahren wird.
Nishijima
Roshi hat zueilen den Eindruck, dass
diese intuitive Weisheit, wie auch überhaupt die Intuition, im Westen nicht für
wichtig genug genommen und nicht richtig anerkannt werden. Oft wird ein
scheinbarer Gegensatz von rationalem Denken und Intuition konstruiert und
letztere in den Bereich der Esoterik und der Mystik verbannt, die wiederum eher
abwertend beurteilt werden. Dies ist meines Erachtens jedoch unsinnig. Eine
intuitive Klarheit ist im Gleichgewicht des Zazen und beim täglichen Handeln
möglich und führt auch in existenziellen komplexen Lebenssituationen zu ganz
klaren schnellen Entscheidungen, die vom linearen Verstand niemals geleistet
werden könnten.
Dōgen
zitiert einen Mönch aus dem Orden von Shâkyamuni Buddha, …
„… der für sich allein dachte: Stets werde ich mich in
Verehrung vor dem tiefen Prajñā-Pāramitā verneigen“.
Nishijima
Roshi erläutert dieses Zitat in dem Sinne, dass das aufrichtige Handeln des
Mönchs die Weisheit Prajñā selbst sei und dass diese sich in seiner
achtungsvollen Verbeugung offenbare. Dieses Verhalten sei äußerlich nicht immer
klar erkennbar. Dōgen sagt:
„Denn genau in diesem Augenblick der Verneigung verwirklicht
sich (die Weisheit) Prajñā, dass durch die Gelöbnisse, das Gleichgewicht und
die Weisheit bis hin zur Erlösung aller Wesen erklärt und verstanden werden
kann.“
Er
spricht in diesem Zusammenhang auch ganz einfach davon, dass „so es ist, wie es
ist“, und meint damit die Soheit ohne irgendwelche Verzerrungen und Zusätze,
also die Wirklichkeit der Welt und des Universums selbst.
Dôgen
führt für die Untersuchung der Prajñā-Pāramitā das Gleichnis des Raumes an und
lässt den Schüler des Buddha Gautama zum Gott Indra sagen:
„Hochverehrter Indra, wenn die Bodhisattva Mahasattvas die
tiefe Prajñā-Pāramitā erforschen wollen, sollen sie es wie den Raum
erforschen.“
Der Raum ist im jetzigen Augenblick allgegenwärtig, und in
gleicher Weise existiert Prajñā im ganzen Universum. So kann die Vorstellung
des Raumes das intuitive Verstehen von Prajñā erleichtern, und dies ist
möglich, wenn wir im gegenwärtigen Augenblick das Gleichgewicht verwirklichen.
Auf
die Frage Indras, wie man die intuitive Weisheit beschützen könne, antwortet
der Mönch Subhuti, die Prajñā-Pāramitā werde beschützt, wenn die Menschen sie leben
und lehren. Und Nishijima Roshi fügt hinzu:
„Daher kann ein Mensch Buddha genannt werden, der immer den
Zustand des Gleichgewichts aufrechterhält.“
Im
Buddhismus wird nach Dōgen Prajñā empfangen, bewahrt, gelesen und rezitiert. Er
sagt weiter, dass man „mit Einsicht (tiefer) darüber nachdenken soll“.
Schließlich zitiert Meister Dōgen Shâkyamuni Buddha, der zu seinem Schüler Shāriputra
sagt:
„Die höchstverehrten Buddhas sind Prajñā-Pāramitā. Warum sage
ich dies? Ich sage es, Shāriputra, weil der richtige, wahre und ausgeglichene
Zustand der Wahrheit, den alle Tathāgatas (Buddhas) haben, sich immer durch die
Tugend des Prajñā-Pāramitā offenbart.“
Wenn
die Formen und das Materielle mit der intuitiven Weisheit gesehen und erfahren
werden, können sie im Zustand des Gleichgewichts als leer von allen Ideologien
und Begierden bezeichnet werden. Sie sind dann so, wie sie sind. Dies kann zum
Verständnis der Aussage, „Form ist Leerheit, Leerheit ist Form“ beitragen. Es
darf sich jedoch nicht allein auf das verstandesmäßige Denken verengen, denn es
geht um die große intuitive Weisheit.