Samstag, 14. Juni 2014

Das Es und das Ich im Buddhismus

(Yudo J. Seggelke)

Wenn westliche Buddhisten, die in unserer individualistischen Kultur sozialisiert und mit der Grundlage der griechischen Philosophie aufgewachsen sind, klären wollen, was das Wesentliche des Bewusstseins im Buddhismus ist, gibt es häufig tief greifende Schwierigkeiten. Im Gegensatz dazu kann man im Zen-Buddhismus auf die Semantik und Formulierung des „Es“ oder „Etwas“ zurückgreifen, die wohlgemerkt nicht mit dem Es Sigmund Freuds übereinstimmen. Aus dem Zen ergibt sich aus meiner Sicht ein hohes Potential, um wichtige nicht-individualistische Zusammenhänge zu klären. Warum?.

Der deutsche Philosoph Eugen Herrigel, ein Neu-Kantianer, lernte in den Zwanziger Jahren in Japan die Kunst des Bogenschießens, weil seine japanischen Freunde ihm klargemacht hatten, dass er auf diese Weise am besten die Lebensform und praktische Lebensphilosophie des Zen erleben, erfahren und erlernen könne. Er war mit ganz anderen Vorstellungen nach Japan gereist und wollte dort in akademischem Sinn die Philosophie und Theorie des Zen-Buddhismus studieren. Aber es kam dann für ihn ganz anders.

Er schildert in seinem Buch "Zen in der Kunst des Bogenschießens", wie er von seinem bisweilen geradezu schroff agierenden Bogen-Meister Schritt für Schritt aus dem westlichen Denken herausgeführt wurde. Er hatte dabei den schwierigen Weg von dem denkenden und reflektierenden Ich eines westlichen Philosophen zur Erfahrung der ganzheitlichen Wirklichkeit zu gehen. Er musste dabei lernen, das bewusst agierende Ich auszuschalten und sein ehrgeiziges Wollen der Zielerreichung zu verlassen. Nur so war es möglich, das Bogenschießen selbst unmittelbar und in der Klarheit des Augenblicks zu erleben. Dabei stört das ehrgeizige Ich gewaltig.

Nach einigen z. T. tief greifenden Missverständnissen mit seinem Bogen-Meister und schwierigen Sackgassen auf diesem ganz neuen Lern-Weg kommt es dann nach einigen Jahren des Übens ohne Ich-Ehrgeiz zu einer entscheidenden Szene: Plötzlich löst sich unerwartet und unvermittelt und vor allem ungeplant ein Es-Schuss. Der Zen-Meister verbeugt sich zur Verblüffung Herrigels ehrerbietig und sagt: „Es hat geschossen“.

Er macht seinem Schüler anschließend klar, dass diese Verbeugung nicht ihm als Individuum gegolten habe, sondern dass sich das große Es ereignet habe. Herrigel selbst hatte das Ganze kaum bewusst miterlebt und offensichtlich auch gar nicht registriert, dass dies zum ersten Mal ein richtiger Zen-Bogenschuss war.

Ich meine, dass diese Szene das Wesentliche des „Es“ gut beschreibt. Man könnte es verkürzt als „Es-Bewusstseint“ bezeichnen. Aber ist dies ein Bewusstsein in unserem westlichen Verständnis? Eigentlich wohl nicht. Dieses Es ist kein Ich-aktives und willensgesteuertes Handeln durch das Bewusstsein. Wollen und Denken sind nicht dominant, sondern man kann lediglich von einem mitlaufenden Bewusstsein dessen reden, was sich ereignet und was sich abspielt. Das Es-Bewusstsein ist also eher ein handelndes „reines Schauen“ des Geistes als aktionistisches Steuern der Gedanken zur Ziel-Erreichung mit dem eingeengten Willen, dass etwas unbedingt so und nicht anders sein soll.

Das Wesentliche des Es ist daher, dass der Dualismus von Subjekt und Objekt ausgeschaltet wird und dass sich beides zu einer ursprünglichen Einheit verbindet oder besser gesagt: die Spaltung des Dualismus von Ich und Objekt hat nicht stattgefunden. Herrigel schildert, dass er diesen ersten wahren Schuss als glückhaften Augenblick erlebt hat, der ihm eigentlich erst hinterher richtig klar wurde und ihn viele Tage begleitete. Es gibt dieses mitlaufende Bewusstsein, aber das Ich-gesteuerte Denken und der Ich-gesteuerte Wille haben keine Priorität, sie sind völlig im Hintergrund oder wenn man es vielleicht bildhaft ausdrücken will, sind am Horizont verschwunden. Individualistisches Wollen, das im Westen so hoch im Kurs steht, würde nur stören und verhindern, dass "Es schießt".

Der Zen-Meister Dôgen widmet diesem Phänomen des Es ein eigenes Kapitel, "Was ist das Etwas, das uns jäh begegnet, jenseits von Denken und Wahrnehmung? (Inmo)" und unterstreicht damit dessen große Bedeutung im Zen-Buddhismus. Oder klarer ausgedrückt: Ohne das Erleben des Es-Handelns im Augenblick gibt es keine Erfahrung der Wirklichkeit und damit der Wahrheit dieser Welt. Dagegen sind Denken und Wahrnehmung nur bestimmte Teil-Perspektiven unsere Lebens, nicht unwichtig aber niemals das Ganze.

Von diesem Ganzen ist das dualistisch handelnde Ich radikal abzugrenzen, das für den europäischen Individualismus und für die europäische Philosophie seit über zweitausend Jahren von zentraler Bedeutung ist. Das ist das „Ich-Bewusstsein“ und muss von dem „Es-Bewusstsein“ fundamental unterschieden werden.

So wichtig für manche organisatorische und technische Aufgaben ein agierendes Ich und ein Ich-Bewusstsein sein mag, so wenig sind sie für den spirituellen und auch psychischen Wirklichkeits-Bereich des Menschen sinnvoll. Ein Ich-zentriertes Bewusstsein reduziert unser Denken und Handeln in der Welt und mit anderen Menschen ganz erheblich, verengt also die Perspektive der Wahrnehmung des Lebens, des Fühlens und des Denkens. Genau das ist ein zentrales Moment und eine fundmentale Gefahr des modernen westlichen Lebens.

Denn ein solches Ich wird keine Ruhe finden und kein ausgeglichenes Leben ermöglichen. Unzufriedenheit, Missgunst, Neid, Eifersucht, Übelwollen usw. sind die selbstverständliche Folge eines solchen Ich-Bewusstseins, das von der Dualität von Ich und den Objekten und Menschen der Umgebung beherrscht wird. Das Ich ist dann scheinbar von anderen Menschen, Dingen und Phänomenen getrennt, lebt aber in einer mühsam konstruierten Scheinwelt.

Die Zen-Künste des Bogenschießens, z. B. der Bambusflöte und der Kalligrafie, sind wirkungsvolle Lernwege, um aus dem dualistischen Ich-Bewusstsein herauszukommen und in den sehr viel glücklicheren Zustand des Es-Bewusstseins zu gelangen. Das Gleiche, meist noch intensivere Erleben ergibt sich bei der Zen-Meditation, der Entleerung des Ich-Bewusstseins von Gedanken und Gefühlen: dem Zazen. Diese Meditation der Überwindung des Ich-Dualismus wird heute in der Forschung weitgehend unbestritten auf die Yoga-Praxis zurückgeführt, die im alten Indien weit verbreitet war und von Gautama Buddha auch für die Meditation verwendet wurde.


Der Zugang zur Wirklichkeit wird dabei nicht über ein denkendes Ich gesucht, sondern über ganzheitliche Zustände und Bewegungen, die das dualistische Ich ausschalten und damit eine für uns Westler erstaunliche Klarheit und Freude von Körper-Psyche-und-Geist verwirklichen.