(Yudo J. Seggelke)
Wenn westliche
Buddhisten, die in unserer individualistischen Kultur sozialisiert und mit der
Grundlage der griechischen Philosophie aufgewachsen sind, klären wollen, was
das Wesentliche des Bewusstseins im Buddhismus ist, gibt es häufig tief
greifende Schwierigkeiten. Im Gegensatz dazu kann man im Zen-Buddhismus auf die
Semantik und Formulierung des „Es“ oder „Etwas“ zurückgreifen, die wohlgemerkt nicht
mit dem Es Sigmund Freuds
übereinstimmen. Aus dem Zen ergibt sich aus meiner Sicht ein hohes Potential,
um wichtige nicht-individualistische Zusammenhänge zu klären. Warum?.
Der deutsche
Philosoph Eugen Herrigel, ein Neu-Kantianer, lernte in den Zwanziger Jahren in
Japan die Kunst des Bogenschießens,
weil seine japanischen Freunde ihm klargemacht hatten, dass er auf diese Weise am
besten die Lebensform und praktische Lebensphilosophie des Zen erleben,
erfahren und erlernen könne. Er war mit ganz anderen Vorstellungen nach Japan
gereist und wollte dort in akademischem Sinn die Philosophie und Theorie des
Zen-Buddhismus studieren. Aber es kam dann für ihn ganz anders.
Er schildert in
seinem Buch "Zen in der Kunst des Bogenschießens", wie er von seinem
bisweilen geradezu schroff agierenden Bogen-Meister Schritt für Schritt aus dem
westlichen Denken herausgeführt wurde. Er hatte dabei den schwierigen Weg von
dem denkenden und reflektierenden Ich eines westlichen Philosophen zur
Erfahrung der ganzheitlichen Wirklichkeit zu gehen. Er musste dabei lernen, das
bewusst agierende Ich auszuschalten und
sein ehrgeiziges Wollen der Zielerreichung zu verlassen. Nur so war es möglich,
das Bogenschießen selbst unmittelbar und in der Klarheit des Augenblicks zu
erleben. Dabei stört das ehrgeizige Ich gewaltig.
Nach einigen z.
T. tief greifenden Missverständnissen mit seinem Bogen-Meister und schwierigen Sackgassen
auf diesem ganz neuen Lern-Weg kommt es dann nach einigen Jahren des Übens ohne
Ich-Ehrgeiz zu einer entscheidenden Szene: Plötzlich löst sich unerwartet und
unvermittelt und vor allem ungeplant ein Es-Schuss.
Der Zen-Meister verbeugt sich zur Verblüffung Herrigels ehrerbietig und sagt: „Es hat geschossen“.
Er macht
seinem Schüler anschließend klar, dass diese Verbeugung nicht ihm als Individuum gegolten habe,
sondern dass sich das große Es
ereignet habe. Herrigel selbst hatte das Ganze kaum bewusst miterlebt und
offensichtlich auch gar nicht registriert, dass dies zum ersten Mal ein
richtiger Zen-Bogenschuss war.
Ich meine,
dass diese Szene das Wesentliche des „Es“
gut beschreibt. Man könnte es verkürzt als „Es-Bewusstseint“
bezeichnen. Aber ist dies ein Bewusstsein in unserem westlichen Verständnis?
Eigentlich wohl nicht. Dieses Es ist
kein Ich-aktives und willensgesteuertes Handeln durch das Bewusstsein. Wollen
und Denken sind nicht dominant, sondern
man kann lediglich von einem mitlaufenden
Bewusstsein dessen reden, was sich ereignet und was sich abspielt. Das Es-Bewusstsein
ist also eher ein handelndes „reines Schauen“ des Geistes als aktionistisches
Steuern der Gedanken zur Ziel-Erreichung mit dem eingeengten Willen, dass etwas
unbedingt so und nicht anders sein soll.
Das
Wesentliche des Es ist daher, dass der Dualismus von Subjekt und Objekt
ausgeschaltet wird und dass sich beides zu einer ursprünglichen Einheit verbindet
oder besser gesagt: die Spaltung des Dualismus von Ich und Objekt hat nicht stattgefunden.
Herrigel schildert, dass er diesen ersten wahren Schuss als glückhaften
Augenblick erlebt hat, der ihm eigentlich erst hinterher richtig klar wurde und
ihn viele Tage begleitete. Es gibt dieses mitlaufende Bewusstsein, aber das
Ich-gesteuerte Denken und der Ich-gesteuerte Wille haben keine Priorität, sie
sind völlig im Hintergrund oder wenn man es vielleicht bildhaft ausdrücken
will, sind am Horizont verschwunden. Individualistisches Wollen, das im Westen
so hoch im Kurs steht, würde nur stören und verhindern, dass "Es
schießt".
Der
Zen-Meister Dôgen widmet diesem Phänomen des Es ein eigenes Kapitel, "Was
ist das Etwas, das uns jäh begegnet, jenseits von Denken und Wahrnehmung? (Inmo)" und
unterstreicht damit dessen große Bedeutung im Zen-Buddhismus. Oder klarer
ausgedrückt: Ohne das Erleben des Es-Handelns
im Augenblick gibt es keine Erfahrung der Wirklichkeit und damit der
Wahrheit dieser Welt. Dagegen sind Denken und Wahrnehmung nur bestimmte
Teil-Perspektiven unsere Lebens, nicht unwichtig aber niemals das Ganze.
Von diesem
Ganzen ist das dualistisch handelnde Ich radikal abzugrenzen, das für den
europäischen Individualismus und für die europäische Philosophie seit über zweitausend
Jahren von zentraler Bedeutung ist. Das ist das „Ich-Bewusstsein“ und muss von dem „Es-Bewusstsein“ fundamental unterschieden werden.
So wichtig für
manche organisatorische und technische Aufgaben ein agierendes Ich und ein Ich-Bewusstsein
sein mag, so wenig sind sie für den spirituellen und auch psychischen Wirklichkeits-Bereich
des Menschen sinnvoll. Ein Ich-zentriertes Bewusstsein reduziert unser Denken
und Handeln in der Welt und mit anderen Menschen ganz erheblich, verengt also
die Perspektive der Wahrnehmung des Lebens, des Fühlens und des Denkens. Genau
das ist ein zentrales Moment und eine fundmentale Gefahr des modernen
westlichen Lebens.
Denn ein
solches Ich wird keine Ruhe finden und kein ausgeglichenes Leben ermöglichen.
Unzufriedenheit, Missgunst, Neid, Eifersucht, Übelwollen usw. sind die
selbstverständliche Folge eines solchen Ich-Bewusstseins, das von der Dualität
von Ich und den Objekten und Menschen der Umgebung beherrscht wird. Das Ich ist
dann scheinbar von anderen Menschen, Dingen und Phänomenen getrennt, lebt aber in
einer mühsam konstruierten Scheinwelt.
Die Zen-Künste
des Bogenschießens, z. B. der Bambusflöte und der Kalligrafie, sind wirkungsvolle
Lernwege, um aus dem dualistischen Ich-Bewusstsein herauszukommen und in den
sehr viel glücklicheren Zustand des Es-Bewusstseins zu gelangen. Das Gleiche,
meist noch intensivere Erleben ergibt sich bei der Zen-Meditation, der Entleerung des Ich-Bewusstseins von
Gedanken und Gefühlen: dem Zazen. Diese Meditation der Überwindung des Ich-Dualismus
wird heute in der Forschung weitgehend unbestritten auf die Yoga-Praxis
zurückgeführt, die im alten Indien weit verbreitet war und von Gautama Buddha
auch für die Meditation verwendet wurde.
Der Zugang zur
Wirklichkeit wird dabei nicht über ein denkendes Ich gesucht, sondern über
ganzheitliche Zustände und Bewegungen, die das dualistische Ich ausschalten und
damit eine für uns Westler erstaunliche Klarheit und Freude von
Körper-Psyche-und-Geist verwirklichen.