Donnerstag, 24. Juli 2014

Interreligiöser Dialog: Franziskus und der Wirsingkohl, ein Koan?

(Yudo J. Seggelke)

In dem kleinen Kloster und der Einsiedelei Montecasale nördlich von Assisi hielt sich Franziskus in den Jahren 1212 bis 1225 häufig auf. Dieses kleine Kloster hat sich seit über 800 Jahre kaum verändert und gibt uns auch heute die tiefe Ruhe und Klarheit eines ganz besonderen spirituellen Ortes. Ich habe nur wenige derartige Orte in Europa, Asien und Amerika erlebt.

Es gibt viele Legenden und Anekdoten über Franziskus: seine Wundertaten, Kranke zu heilen und drei eingefleischte Räuber zur totalen Änderung ihres Lebens gebracht zu haben, sodass sie in den Orden der Franziskaner aufgenommen wurden. Zwei ihrer Schädel werden noch heute im kleinen Kloster Montecasale aufbewahrt und gezeigt.

Es gibt außerdem eine sehr eigenartige Geschichte von Franziskus, die m. E. recht authentisch vom Bruder Bartholomäus von Pisa beschrieben wurde, deren Deutung und Erklärung bis heute weitgehend geheimnisvoll bleibt: Franziskus pflanzt den Wirsingkohl falsch herum mit den Wurzeln nach oben ein und fordert zwei junge Männer auf, dies genau so zu tun.

In dem kleinen Büchlein der Einsiedelei Montecasale heißt es, dass dies eine Geschichte sei, "die nicht unbedingt bezeichnend ist für die Persönlichkeit des Heiligen Franziskus“. An anderer Stelle wird von "Volksglauben" gesprochen, damit ist wohl eine religiöse Abwertung gemeint. Beides erscheint mir wenig überzeugend. Aber was steckt bei Franziskus dahinter, was wollte er uns damit sagen? Nur ein einfältiger Volksglauben? Oder blinder Gehorsam? Sicher nicht!

Ich war von Anfang an von dieser Geschichte fasziniert und bin der festen Meinung, dass sie eine Seite des Franziskus aufdeckt, die bislang nicht oder nur unzureichend herausgearbeitet wurde, weil sie zu dem bald nach seinem Tode einsetzenden legendenhaften Leben weniger passte, das nur die Unterwerfung, den Gehorsam und die Buße nannte. Aber zunächst die seltsame Geschichte (nach dem Büchlein: "Die Einsiedelei von Montecasale"):

„Einmal kamen zwei junge Männer zum Heiligen Franziskus und baten ihn um die Aufnahme in den Orden. Der selige Franziskus wollte sie auf die Probe stellen, ob sie wirklich gehorsam und bereit seien, den eigenen Willen zu verleugnen. Er führte sie in den Garten und sagte, ´kommt wir wollen Kohl pflanzen und was ihr mich tun seht, das sollt ihr genauso machen´.“ Nach der Geschichte pflanzte er die Kohlpflanzen jedoch so ein, dass die Blätter unten in der Erde waren und die Wurzeln nach oben in den Himmel standen.

Einer der jungen Männer pflanzte den Kohl genauso wie Franziskus es vorgemacht hatte, während der andere sagte: „Nicht so pflanzt man Kohl, Vater, sondern umgekehrt.“ Er war auch nach der wiederholten Bitte des Franziskus nicht bereit, den Kohl falsch herum einzupflanzen. Franziskus sagte daraufhin zu ihm: „Brüderchen, ich sehe, dass du ein großer Meister bist. Geh deinen Weg, denn für meinen Orden bist du nicht geeignet.“ Im Gegensatz dazu nahm er den anderen jungen Mann auf. In dem kleinen Büchlein heißt es, dass auch heute noch im Garten von Montecasale Kohl gepflegt wird, weil die Besucher immer wieder danach fragen. Ich habe ihn dort selbst im Terrassen-Garten gesehen.

Bei den Geschichten und Legenden um Franziskus ist diese Überlieferung zum falschen Pflanzen des Wirsingkohls eine spannende Ausnahme. Die bisherigen Erklärungen erscheinen mir widersprüchlich, denn Franziskus bezeichnet den zweiten jungen Mann, der ihm nicht gehorchte, als großen Meister. Allerdings hielt er ihn nicht für geeignet, um in seinem Orden zu leben. Es gibt keine Andeutung, dass er dessen Ungehorsam kritisierte, ihn nicht wertschätzte und ihn deswegen nicht aufnahm.

Nach meiner Ansicht ähnelt diese bislang nicht zufriedenstellend gedeutete Geschichte einem Zen-Kôan: unser fälschlich fixierter Verstand wird durch eine Kôan-Geschichte in die Enge getrieben und kann das scheinbare Paradox nicht lösen. Wir müssen aus unserem hergebrachten zu engen Denken herausspringen, um den Sinn eines Kôans zu erfassen und zu verwirklichen. Durch die zweiwertige Logik des naiven Denkens im Rahmen des scheinbar vorgegebenen Kôans ist das nicht möglich: ein fundamentaler Paradigmenwechsel muss die Lösung bringen. Die Kôans des Zen treffen im übrigen die Kern-Wahrheiten des Buddhismus.

Ich deute diese eigenartige Geschichte wie folgt: Für ein spirituelles Leben ist es notwendig, neue Wurzeln zu entwickeln, die über das materielle Erdgebundene hinausgehen. Oft ist es sogar erforderlich, dass die materiellen Wurzeln, die uns an Dinge wie Besitz und Eigentum fesseln, zuerst vertrocknen müssen, damit sich die Wurzeln der Spiritualität, des Himmels, die neues Leben bringen, überhaupt entwickeln können.

Es ging Franziskus daher weniger darum, blinden Gehorsam bei den jungen Männern durchzusetzen und daran zu prüfen, ob jemand für seinen Orden geeignet ist, sondern vielmehr darum, ob er in der Lage ist, in neue spirituelle Bereiche hineinzuwachsen und dort seine neue Nahrung zu finden. Ob der erste junge Mann der Geschichte dies intuitiv verstanden hat, wird nicht berichtet. Ich vermute allerdings, dass er mehr als nur den blinden Gehorsam des Mittelalters gegenüber Hierarchien und Obrigkeiten einbrachte.

Er erkannte wahrscheinlich spontan und intuitiv in aller Klarheit den tiefen Sinn des Handelns von Franziskus. Ihm wurde schlagartig klar, dass dies die Aufgabe seines eigenen Lebens sei. Ich möchte noch hinzufügen, dass die Einsiedelei Montecasale selbst hoch über der Ebene des Tiber, auf dem Ausläufer des Apennin gelegen und selbst schon dem Himmel nahe ist, wie es Franziskus so sehr liebte.

Nun aber zu dem zweiten jungen Mann: Franziskus kritisiert ihn nicht und wirft ihm nicht vor, dass er ungehorsam sei. Sondern im Gegenteil er achtet ihn, nennt ihn Meister und sagt damit, dass seine Aufgabe im Leben eine andere sei, als im Kloster zu leben. Da der zweite junge Mann ein unabhängiger, pragmatisch denkender Mensch war, wusste er, dass Kohl nur gedeiht, wenn er materiell in der fruchtbaren Erde wurzelt. Nur dann kann Wirsingkohl gedeihen und als wertvolle Nahrung für die Menschen dienen. Solche gesunde und ausreichende Nahrung war vor allem damals von großer Bedeutung, weil immer wieder furchtbare Hungersnöte über die armen Menschen hereinbrachen.

Indem er beide jungen Männer für ihre jeweiligen Lebensaufgaben achtete, wollte er m. E. das Prinzip der Zusammenarbeit und Kooperation von spirituellen und praktischen Bereichen des Lebens ausdrücken. Nur im Gleichgewicht und in der Harmonie dieser beiden zentralen Lebensbereiche kann es zur Weiterentwicklung der Menschen und der sozialen Gemeinschaften kommen. Vielleicht hatte er erkannt, dass die einseitige und oft dogmatisierte Religiosität der damaligen Zeit, die die körperlichen und materiellen Bereiche des Lebens vernachlässigt hatte, für das Wohl der Menschen gefährlich war. Er setzte dagegen seine aufrichtige tiefe Spiritualität und das pragmatische Handeln im Alltag.

Er erkannte m. E., dass es in Zukunft kluge und tatkräftige Menschen brauchte, um genügend Nahrung zu erzeugen und darüber hinaus andere materielle Hilfen für das Leben zu entwickeln. In der Tat begann sich mit dem Ende des Mittelalters und dem Beginn der Renaissance die Naturwissenschaft, Medizin und Technik fast explosionsartig zu entwickeln, die gerade in Italien z. B. durch Galilei ihre wesentlichen Wurzeln hatten.

Diese Geschichte lässt sich mit blindem Gehorsam nicht erklären: Das scheinbar paradoxe Verhalten des Franziskus bleibt unverständlich, wenn man allein konkretistisch denkt und meint, dass eine Kohlpflanze vertrocknet, wenn man sie mit den Wurzeln nach oben einpflanzt. Mir zeigt die Geschichte, dass Franziskus ein viel umfassenderer Mensch war, als oft dargestellt, der sich nicht allein durch blinden Gehorsam, Unterwerfung und Demut gegenüber jeder Autorität beschreiben lässt.

Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass die damalige religiöse Oberschicht sich moralisch auf einen Tiefpunkt zu bewegte; dann ist Gehorsam sicher nicht immer richtig. Auch die hygienischen Verhältnisse mit der Folge furchtbarer Krankheiten und Seuchen zeugen von geringem körperlichen Realismus und waren Ursachen großen Leidens. Franziskus suchte die Harmonie und das Gleichgewicht zwischen spiritueller und konkret materieller Lebensweise. Er hat m. E. durchaus Ähnlichkeiten mit einem Zen-Meister. Dabei ist übrigens spannend, dass er ein Zeitgenosse von Meister Dôgen war, der wie Franziskus sicher einer der größten Menschen der Weltkultur ist.


Dagegen leben wir heute in einem überwiegend materialistischen Zeitalter: Wir müssen daher unsere materiellen Wurzen zum Teil vertrocknen lassen und die spirituellen zum Wachsen bringen: das ist die Botschaft des kleinen Klosters Montecasale, das Franziskus so sehr liebte.