(Yudo J. Seggelke)
In dem kleinen Kloster und der Einsiedelei Montecasale nördlich von Assisi hielt sich Franziskus in den Jahren 1212 bis 1225 häufig auf. Dieses kleine Kloster hat sich seit über 800 Jahre kaum verändert und gibt uns auch heute die tiefe Ruhe und Klarheit eines ganz besonderen spirituellen Ortes. Ich habe nur wenige derartige Orte in Europa, Asien und Amerika erlebt.
Es
gibt viele Legenden und Anekdoten über Franziskus: seine Wundertaten, Kranke zu
heilen und drei eingefleischte Räuber zur totalen Änderung ihres Lebens
gebracht zu haben, sodass sie in den Orden der Franziskaner aufgenommen wurden.
Zwei ihrer Schädel werden noch heute im kleinen Kloster Montecasale aufbewahrt
und gezeigt.
Es
gibt außerdem eine sehr eigenartige Geschichte von Franziskus, die m. E. recht
authentisch vom Bruder Bartholomäus von Pisa beschrieben wurde, deren Deutung
und Erklärung bis heute weitgehend geheimnisvoll bleibt: Franziskus pflanzt den
Wirsingkohl falsch herum mit den Wurzeln nach oben ein und fordert zwei junge
Männer auf, dies genau so zu tun.
In
dem kleinen Büchlein der Einsiedelei Montecasale heißt es, dass dies eine Geschichte
sei, "die nicht unbedingt bezeichnend ist für die Persönlichkeit des Heiligen
Franziskus“. An anderer Stelle wird von "Volksglauben" gesprochen,
damit ist wohl eine religiöse Abwertung gemeint. Beides erscheint mir wenig
überzeugend. Aber was steckt bei Franziskus dahinter, was wollte er uns damit
sagen? Nur ein einfältiger Volksglauben? Oder blinder Gehorsam? Sicher nicht!
Ich
war von Anfang an von dieser Geschichte fasziniert und bin der festen Meinung,
dass sie eine Seite des Franziskus aufdeckt, die bislang nicht oder nur
unzureichend herausgearbeitet wurde, weil sie zu dem bald nach seinem Tode einsetzenden
legendenhaften Leben weniger passte, das nur die Unterwerfung, den Gehorsam und
die Buße nannte. Aber zunächst die seltsame Geschichte (nach dem Büchlein:
"Die Einsiedelei von Montecasale"):
„Einmal
kamen zwei junge Männer zum Heiligen Franziskus und baten ihn um die Aufnahme
in den Orden. Der selige Franziskus wollte sie auf die Probe stellen, ob sie
wirklich gehorsam und bereit seien, den eigenen Willen zu verleugnen. Er führte
sie in den Garten und sagte, ´kommt wir wollen Kohl pflanzen und was ihr mich
tun seht, das sollt ihr genauso machen´.“ Nach der Geschichte pflanzte er die
Kohlpflanzen jedoch so ein, dass die Blätter unten in der Erde waren und die
Wurzeln nach oben in den Himmel standen.
Einer
der jungen Männer pflanzte den Kohl genauso wie Franziskus es vorgemacht hatte,
während der andere sagte: „Nicht so pflanzt man Kohl, Vater, sondern
umgekehrt.“ Er war auch nach der wiederholten Bitte des Franziskus nicht bereit,
den Kohl falsch herum einzupflanzen. Franziskus sagte daraufhin zu ihm:
„Brüderchen, ich sehe, dass du ein großer Meister bist. Geh deinen Weg, denn
für meinen Orden bist du nicht geeignet.“ Im Gegensatz dazu nahm er den anderen
jungen Mann auf. In dem kleinen Büchlein heißt es, dass auch heute noch im
Garten von Montecasale Kohl gepflegt wird, weil die Besucher immer wieder
danach fragen. Ich habe ihn dort selbst im Terrassen-Garten gesehen.
Bei
den Geschichten und Legenden um Franziskus ist diese Überlieferung zum falschen
Pflanzen des Wirsingkohls eine spannende Ausnahme. Die bisherigen Erklärungen
erscheinen mir widersprüchlich, denn Franziskus bezeichnet den zweiten jungen
Mann, der ihm nicht gehorchte, als großen Meister. Allerdings hielt er ihn nicht
für geeignet, um in seinem Orden zu leben. Es gibt keine Andeutung, dass er dessen
Ungehorsam kritisierte, ihn nicht wertschätzte und ihn deswegen nicht aufnahm.
Nach
meiner Ansicht ähnelt diese bislang nicht zufriedenstellend gedeutete
Geschichte einem Zen-Kôan: unser fälschlich fixierter Verstand wird durch eine
Kôan-Geschichte in die Enge getrieben und kann das scheinbare Paradox nicht
lösen. Wir müssen aus unserem hergebrachten zu engen Denken herausspringen, um
den Sinn eines Kôans zu erfassen und zu verwirklichen. Durch die zweiwertige
Logik des naiven Denkens im Rahmen des scheinbar vorgegebenen Kôans ist das
nicht möglich: ein fundamentaler Paradigmenwechsel muss die Lösung bringen. Die
Kôans des Zen treffen im übrigen die Kern-Wahrheiten des Buddhismus.
Ich
deute diese eigenartige Geschichte wie folgt: Für ein spirituelles Leben ist es
notwendig, neue Wurzeln zu entwickeln, die über das materielle Erdgebundene
hinausgehen. Oft ist es sogar erforderlich, dass die materiellen Wurzeln, die
uns an Dinge wie Besitz und Eigentum fesseln, zuerst vertrocknen müssen, damit
sich die Wurzeln der Spiritualität, des Himmels, die neues Leben bringen, überhaupt
entwickeln können.
Es
ging Franziskus daher weniger darum, blinden Gehorsam bei den jungen Männern durchzusetzen
und daran zu prüfen, ob jemand für seinen Orden geeignet ist, sondern vielmehr
darum, ob er in der Lage ist, in neue spirituelle Bereiche hineinzuwachsen und
dort seine neue Nahrung zu finden. Ob der erste junge Mann der Geschichte dies
intuitiv verstanden hat, wird nicht berichtet. Ich vermute allerdings, dass er
mehr als nur den blinden Gehorsam des Mittelalters gegenüber Hierarchien und
Obrigkeiten einbrachte.
Er
erkannte wahrscheinlich spontan und intuitiv in aller Klarheit den tiefen Sinn
des Handelns von Franziskus. Ihm wurde schlagartig klar, dass dies die Aufgabe
seines eigenen Lebens sei. Ich möchte noch hinzufügen, dass die Einsiedelei
Montecasale selbst hoch über der Ebene des Tiber, auf dem Ausläufer des Apennin
gelegen und selbst schon dem Himmel nahe ist, wie es Franziskus so sehr liebte.
Nun
aber zu dem zweiten jungen Mann: Franziskus kritisiert ihn nicht und wirft ihm
nicht vor, dass er ungehorsam sei. Sondern im Gegenteil er achtet ihn, nennt
ihn Meister und sagt damit, dass seine Aufgabe im Leben eine andere sei, als im
Kloster zu leben. Da der zweite junge Mann ein unabhängiger, pragmatisch
denkender Mensch war, wusste er, dass Kohl nur gedeiht, wenn er materiell in
der fruchtbaren Erde wurzelt. Nur dann kann Wirsingkohl gedeihen und als
wertvolle Nahrung für die Menschen dienen. Solche gesunde und ausreichende
Nahrung war vor allem damals von großer Bedeutung, weil immer wieder furchtbare
Hungersnöte über die armen Menschen hereinbrachen.
Indem
er beide jungen Männer für ihre jeweiligen Lebensaufgaben achtete, wollte er m.
E. das Prinzip der Zusammenarbeit und Kooperation von spirituellen und
praktischen Bereichen des Lebens ausdrücken. Nur im Gleichgewicht und in der
Harmonie dieser beiden zentralen Lebensbereiche kann es zur Weiterentwicklung
der Menschen und der sozialen Gemeinschaften kommen. Vielleicht hatte er
erkannt, dass die einseitige und oft dogmatisierte Religiosität der damaligen Zeit,
die die körperlichen und materiellen Bereiche des Lebens vernachlässigt hatte,
für das Wohl der Menschen gefährlich war. Er setzte dagegen seine aufrichtige tiefe
Spiritualität und das pragmatische Handeln im Alltag.
Er
erkannte m. E., dass es in Zukunft kluge und tatkräftige Menschen brauchte, um
genügend Nahrung zu erzeugen und darüber hinaus andere materielle Hilfen für
das Leben zu entwickeln. In der Tat begann sich mit dem Ende des Mittelalters
und dem Beginn der Renaissance die Naturwissenschaft, Medizin und Technik fast
explosionsartig zu entwickeln, die gerade in Italien z. B. durch Galilei ihre wesentlichen
Wurzeln hatten.
Diese
Geschichte lässt sich mit blindem Gehorsam nicht erklären: Das scheinbar
paradoxe Verhalten des Franziskus bleibt unverständlich, wenn man allein
konkretistisch denkt und meint, dass eine Kohlpflanze vertrocknet, wenn man sie
mit den Wurzeln nach oben einpflanzt. Mir zeigt die Geschichte, dass Franziskus
ein viel umfassenderer Mensch war, als oft dargestellt, der sich nicht allein durch
blinden Gehorsam, Unterwerfung und Demut gegenüber jeder Autorität beschreiben
lässt.
Außerdem
dürfen wir nicht vergessen, dass die damalige religiöse Oberschicht sich
moralisch auf einen Tiefpunkt zu bewegte; dann ist Gehorsam sicher nicht immer
richtig. Auch die hygienischen Verhältnisse mit der Folge furchtbarer Krankheiten
und Seuchen zeugen von geringem körperlichen Realismus und waren Ursachen
großen Leidens. Franziskus suchte die Harmonie und das Gleichgewicht zwischen
spiritueller und konkret materieller Lebensweise. Er hat m. E. durchaus Ähnlichkeiten
mit einem Zen-Meister. Dabei ist übrigens spannend, dass er ein Zeitgenosse von
Meister Dôgen war, der wie Franziskus sicher einer der größten Menschen der
Weltkultur ist.
Dagegen
leben wir heute in einem überwiegend materialistischen Zeitalter: Wir müssen
daher unsere materiellen Wurzen zum Teil vertrocknen lassen und die
spirituellen zum Wachsen bringen: das ist die Botschaft des kleinen Klosters
Montecasale, das Franziskus so sehr liebte.