Freitag, 8. August 2014

Buddha erkannte: Der Starke ist am schwächsten allein


(Yudo J. Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner )

Gautama Buddha erkannte in seinem Erleuchtungs-Erlebnis, als er den Morgenstern in aller Klarheit erblickte, dass der Kosmos und die Welt ein wunderbares vernetztes Gefüge sind, in dem sich dauernd etwas verändert, sich etwas neu entwickelt und etwas anderes aufhört. Wer das nicht erkennt und erfährt, muss leiden. Buddha hatte vorher mehrere Tage und Nächte in der Natur unter einem Baum meditiert, nicht behindert durch körperliche Askese oder religiöse Ideologien. Er nannte dieses sich dauernd erneuernde, lebende Gefüge pratityata samutpada (in Pali paticca samuppada). Die genaue Bedeutung kann am besten als

Entstehen in Wechselwirkung, Co-Evolution, Co-Entstehen oder auch Kooperation bezeichnet werden.

Seit Joanna Macy ist klar geworden, dass die neue Systemtheorie und die zentralen Aussagen Gautama Buddhas dieselbe Architektur haben, denn es geht um rückgekoppelte, hoch vernetzte Systeme, die sich dauernd ändern und kreativ weiter entwickeln. Nur am Rande sei erwähnt, dass das Gleichgewicht derartiger ökologischer Systeme in große Gefahr geraten ist, seitdem die menschliche industrielle Produktion z. B. chemischer Stoffe, und der Raubbau an natürlichen Ressourcen eine Größenordnung erreicht haben, die den Ökosystemen direkt flächendeckend schadet.

Dadurch können fundamentale Gleichgewichte der vernetzten Systeme zerstört werden, sodass sich katastrophale Kettenreaktionen einstellen, die eventuell durch menschliche Eingriffe nicht mehr gestoppt werden können und zu problematischen Prozessen und Zuständen im ökologischen Netzwerk führen. Solche Zerstörungen sind dann irreversibel!

Der Buddhismus steht heute vor neuen Herauforderungen und seine Kernaussagen müssen eventuell in neuem Licht analysiert werden. Auch der Dalai Lama betont, dass die tibetische buddhistische Lehre aufgrund der Erkenntnisse der modernen Wissenschaft zum Teil bestätigt wird, aber zum Teil auch neu gefasst werden muss. Diesen Ansatz verfolgte auch Francisco Varela, der ein enger Vertrauter des Dalai Lama war und als Neurowissenschaftler tiefe Einblicke in das systemische Verhalten der Lebewesen und Lebensgemeinschaften hatte. Nicht zuletzt beschäftigte er sich mit evolutiven Entwicklungsprozessen in vernetzten Zusammenhängen.

Bevor ich auf zentrale Aussagen des Mahâyâna Buddhismus z. B. von Meister Nâgârjuna und Chandrakirti, der etwa 500 Jahre nach Nâgârjuna lebte, komme, möchte ich das systemische Wirken unsere Welt nach meinem gegenwärtigen Wissensstand kurz beleuchten. Chandrakirtis Verständnis des Mittleren Weges und der Lehre Nâgâjunas waren übrigens wesentliche Grundlage für die weitere Entwicklung des Mahayana, und auch diese Aussagen gehören heute auf den Prüfstand.

Wie können wir nun in wenigen Worten das wechsel-wirkende System der Erde und des Kosmos beschreiben? In diesen Systemen und Teilsystemen gibt es Materielles, wie etwa die chemischen Elemente der Naturwissenschaft oder die Elemente der alten indischen Lehre: Hartes wie Stoffe, Steine und Erde; Flüssiges wie Wasser; Luftartiges wie Gase und weiter Wärme und Energie. Diese Bereiche des Gesamtsystems betrachten wir im Westen als unbelebt, während es eine derartige fundamentale Unterscheidung nach belebt und unbelebt im Buddhismus nicht gibt.

Weitere fundamentale Bereiche des Gesamtsystems sind Pflanzen, Bäume, Blumen, usw., die im Buddhismus auch als lebende nicht empfindende Wesen bezeichnet werden, weil sie keine Empfindungen und Sinnesorgane im üblichen Sinne haben.

Nicht zuletzt gibt es empfindende Lebewesen in einer unglaublichen Vielfalt und Menge, wie zum Beispiel Insekten, Vögel, Säugetiere und natürlich Menschen mit ihren vielfältigen geistigen und künstlerischen Fähigkeiten.

Und die Welt ist voller Ideen, philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, Kreativität, Gefühle usw., kurz alles das, was wir als Kultur und Zivilisation bezeichnen.

In dem gewaltigen Netzwerk der Welt wird ethisch und unethisch gehandelt, erfunden und gelernt, das alles hält das Gefüge zusammen.

Es ist spannend sich zu vergegenwärtigen, dass nach heutiger Evolutionsforschung die Farben und das farbliche Sehen auf der Welt erst vor ca. 120 Mio. Jahren co-evolutiv von Pflanzen und Tieren entwickelt wurden. Vorher gab es keine Wahrnehmung für Farben, z. B. in der großen Vielfalt von Blüten, Blättern, Früchten usw..Die für uns normale Fähigkeit der Lebewesen, solche Farben zu erkennen, gab es vorher noch nicht: Es gab keine Farb-empflindlichen Seh-Zellen, keine Augen und keine entsprechenden Gehirnareale zur Verarbeitung farbiger Informationen.

Wie kann man nun ein derartig komplexes lebendes System kennzeichnen, das Gautama Buddha pratitya samutpada nannte? Dabei ist es selbstverständlich, dass wir als Menschen - einzeln und in Gruppen - wesentliche Teile und Akteure dieses Gesamtsystems sind und zum Teil von ihm gesteuert werden und es im Rahmen unserer Möglichkeiten zum Teil selbst steuern. Hierbei müssen wir erwähnen, dass Steuerungen ganz wesentlich mit und durch Informationen ablaufen.

Das Prinzip des genetischen Code der Erbinformationen kannten die indischen Philosophen in der Präzision der heutigen Naturwissenschaft natürlich noch nicht und sie hatten auch kein genaueres Wissen von Informations-Verarbeitungsprozessen im Gehirn und im menschlichen Körper: in Individuen, Gruppen, Kulturen und Völkern. Wie wir seit den 60iger Jahren zuverlässig wissen, sind Informationen für die Bildung und das Fortbestehen sozialer Systeme von zentraler Bedeutung. Gleiches gilt für die Neurobiologie und die Steuerung biologischer Prozesse in Zellen, Organen und Organismen.

Ist es denkbar, dass die großen buddhistischen Philosophen und vor allem Gautama Buddha intuitiv und durch genaue Beobachtung derartige systemische Zusammenhänge erkannt haben? Ich meine ja. Sonst hätte Buddha den Begriff pratitya samutpada für die Beschreibung der Wirklichkeit unserer Welt und unseres Kosmos nicht gewählt.

In der Technik gibt es das System-Modell von Teilen und Ganzem, das oft fälschlich auch für lebende intelligente System verwendet wird: Menschen und Gruppen sind keine Maschinen. Wenn wir uns z. B. eine solche Maschine vorstellen, so besteht sie aus abzählbaren speziellen Teilen, die getrennt hergestellt werden und daher getrennte Einheiten (Entitäten) bilden. Sie werden dann nach der Herstellung so zusammengesetzt, dass sie ein funktionsfähiges Ganzes bilden.

In der buddhistischen Literatur wird in analoger Weise häufig ein Wagen zur Beförderung von Menschen und Dingen genannt, der ebenfalls aus speziell hergestellten zunächst unabhängigen Teilen besteht und so aufgebaut seien, sodass sich ein funktionsfähiges Ganzes ergibt. In einem solchen System gäbe es nach dem erwähnten einfachen System-Modell also abgegrenzte Teile, die für sich allein isoliert bestehen können, und ein funktionsfähiges Ganzes bilden. Nagarjuna hält das für einen schwerwiegenden Irrtum. Warum?

Ein solches Modell  ist für die Beschreibung lebender kommunizierender und sich entwickelnder Systeme, die in Wechselwirkung funktionieren, völlig ungeeignet: Maschinen haben keine Gefühle, keine Spiritualität und keine Buddha-Natur. Ein solches System-Modell ist für Buddhas pratitya samutpada absolut unbrauchbar und führt in die Irre und damit zum Leiden. Denn in lebenden interaktiven Systemen kann kein einziges Teil und keine Einheit für sich allein existieren, sondern es geht immer um Wechselwirkung und den lebenden Austausch. Das hat Gautama Buddha in aller Klarheit erkannt und unermüdlich gelehrt.

Nach diesen Überlegungen können wir die zentralen Aussagen des Mittleren Weges (MMK) von Nâgârjuna besser verstehen: Es sind keine Entitäten in der Welt zu finden, die isoliert, unabhängig von einander und gegen einander abgegrenzt existieren. Solche Entitäten gibt es nicht und sie sind niemals entstanden. Die Wirklichkeit der Welt existiert nur als gesamtes Netzwerk, nach Joanna Macy in mutual causality.

Isolierte unabhängige Entitäten werden im MMK als svabhava bezeichnet, die Übersetzung des Sanskrit-Begriffes ist meist Eigenwesen, kein einfacher Begriff für westliches Denken. Denn derartige isolierte Entitäten, die als Eigenwesen beschrieben werden können, gibt es in der Wirklichkeit unserer Welt niemals und unter keinen Umständen. Daher heißt es im MMK, dass derartige isolierte und unvernetzte Entitäten auch niemals entstanden sind. Die Welt ist vernetzt, isolierte Entitäten sind nur gedacht und vorgestellt, sie existieren aber nicht wirklich.

Damit können wir in einer überwiegend wissenschaftlichen Erklärung den buddhistischen Begriff der Leerheit einführen: alles was im vernetzten evolutiven System der Wirklichkeit, pratitya samutpada, vorhanden ist, hat keine isolierte Eigenexistenz. Leerheit heißt leer von einer unabhängigen isolierten Eigenexistenz und anderen Illusionen und Täuschungen. Denn in der Wirklichkeit ist alles miteinander vernetzt und es gibt keine vollständig abgegrenzten selbstständigen Entitäten.

Vor allem gilt, dass lebende empfindende Wesen wie Tiere und Menschen, und auch nicht empfindende Wesen wie Pflanzen, Bäume, Blumen usw. isoliert nicht leben können. Sie sind immer miteinander in Beziehung und isoliert überhaupt nicht lebensfähig: Sie nehmen Stoffe als Nahrungsmittel auf, atmen den Sauerstoff der Atmosphäre ein und geben andere Ausscheidungsstoffe wieder ab. Diese gelangen in den ökologischen Kreislauf und sind die Grundlage für anderes Leben; z. B. Dünger für Pflanzen.

Soziale Systeme bilden sich nicht zuletzt durch intensive Kommunikation und Austausch von Erfahrungen, seien sie bewusst oder nicht bewusst. Kein Lebewesen kann existieren, wenn es aus dem Zusammenhang und der Interaktion von Stoffen und Informationen herausgerissen wird. In der Gesellschaft bilden sich soziale Teilsysteme vor allem durch die Dichte der internen Kommunikation und die Abgrenzung gegenüber der Umwelt und anderen sozialen Systemen.

Wenn sich menschliche kulturelle Teilsysteme also extrem von der Umwelt isolieren, dass kein Informationsaustausch mehr möglich ist, führt das zum Sterben des Systems. Kein Mensch und kein lebendes System der Welt kann isoliert für sich allein existieren.

Resumé
Es gibt in der hoch vernetzten Wirklichkeit der Welt, in der wir leben, keine isolierten selbstständigen Entitäten. Solche unabhängige Eigenexistenz ist nur ideell gedacht und nicht real vorhanden, sie ist Täuschung. In buddhistischer Sprache heißt das: alle Lebewesen und Dinge sind leer von einer solchen unabhängigen Existenz. Sie sind immer vernetzt und in wechselseitiger Veränderung.


Ein einfaches Beispiel dafür ist die menschliche Sprache: wir erlernen sie als wesentliches Merkmal des Menschseins interaktiv zusammen mit anderen Menschen, vor allem mit den Eltern. Wir wachsen also in eine Sprache hinein, erlernen sie und können sie dann für die Kommunikation im Rahmen ihrer Möglichkeiten verwenden. Sprache ist für die Menschen also ein zentrales Moment der Vernetzung, denn ohne Kommunikation ist menschliches Leben undenkbar. Also noch einmal: Menschen sind als völlig isolierte unabhängige Existenzen nicht lebensfähig und können überhaupt nicht entstehen, sich nicht entwickeln, nicht lernen und ihre Aufgaben und Funktionen in der Gesellschaft nicht wahrnehmen.

Ein isoliertes getrenntes Ich ist eine Fiktion, Täuschung oder Ideologie und entspricht nicht der Wirklichkeit im lebenden Netz. Darüber hinaus: Je egoistischer und egozentrischer ein Mensch ist, desto abhängiger ist er von anderen. Die Aussage „Der Starke ist am stärksten allein“ ist daher blanker Unsinn, denn er ist dem Tode geweiht und nicht lebensfähig, wenn er wirklich allein und isoliert leben will.

Wissen Sie, wer mit dieser Lebensphilosophie des Starken am intensivsten gearbeitet hat? Es war Adolf Hitler: In seinem berüchtigten Bestseller "Mein Kampf" gibt es eigenes Kapitel "Der Starke ist am mächtigsten allein"! Er behauptet z. B. : Auch wird durch eine demokratische Zusammenarbeit "das freie Spiel der Kräfte unterbunden, der Kampf zur Auslese des Besten abgestellt und somit der notwendige und endgültige Sieg des Gesünderen und Stärkeren für immer verhindert". Das ist also der geistige Hintergrund einer Ideologie des Stärkeren. Eine größeren Gegensatz zum Buddhismus kann man sich kaum vorstellen. Und wir haben schmerzhaft erfahren müssen, wohin eine solche "Lehre" führt: Sie ist nicht nur falsch und absurd sondern auch diabolisch und Menschen verachtend. Diese sog. Starken des Faschismus sind nicht nur selbst untergegangen, sondern haben 50 Millionen Menschen mit in den Tod gerissen.

Richtig ist daher der Satz: „Der Starke ist am schwächsten allein“, so schwach, dass er als isolierte Entität sterben muss. der Mensch ist das sozialste Leben der Erde, er kann ohne Empathie und ein Wir nicht leben. Und Einsamkeit ist die Ursache für Leiden. Spirituell und psychisch ist ein angeblich starker Egoist natürlich schon viel früher gestorben, aber mit seinem gequetschten Geist hat er das nicht erkannt. Die anderen wussten mit Sicherheit davon, aber die hat er nicht gefragt.


Ein Buddhist sagt dazu: Das selbst erzeugte Leiden hätte der Egoist sich und anderen ersparen können! Es beruht auf einem fundamentalen Irrtum.