(Yudo
J. Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner )
Gautama Buddha erkannte in seinem
Erleuchtungs-Erlebnis, als er den Morgenstern in aller Klarheit erblickte, dass
der Kosmos und die Welt ein wunderbares vernetztes Gefüge sind, in dem sich
dauernd etwas verändert, sich etwas neu entwickelt und etwas anderes aufhört. Wer
das nicht erkennt und erfährt, muss leiden. Buddha hatte vorher mehrere Tage
und Nächte in der Natur unter einem Baum meditiert, nicht behindert durch
körperliche Askese oder religiöse Ideologien. Er nannte dieses sich dauernd
erneuernde, lebende Gefüge pratityata
samutpada (in Pali paticca samuppada).
Die genaue Bedeutung kann am besten als
Entstehen in Wechselwirkung, Co-Evolution, Co-Entstehen oder auch
Kooperation bezeichnet werden.
Seit
Joanna Macy ist klar geworden, dass
die neue Systemtheorie und die
zentralen Aussagen Gautama Buddhas dieselbe Architektur haben, denn es geht um
rückgekoppelte, hoch vernetzte Systeme, die sich dauernd ändern und kreativ weiter
entwickeln. Nur am Rande sei erwähnt, dass das Gleichgewicht derartiger ökologischer
Systeme in große Gefahr geraten ist, seitdem die menschliche industrielle
Produktion z. B. chemischer Stoffe, und der Raubbau an natürlichen Ressourcen eine
Größenordnung erreicht haben, die den Ökosystemen direkt flächendeckend
schadet.
Dadurch
können fundamentale Gleichgewichte der vernetzten Systeme zerstört werden,
sodass sich katastrophale Kettenreaktionen einstellen, die eventuell durch
menschliche Eingriffe nicht mehr gestoppt werden können und zu problematischen
Prozessen und Zuständen im ökologischen Netzwerk führen. Solche Zerstörungen
sind dann irreversibel!
Der
Buddhismus steht heute vor neuen Herauforderungen und seine Kernaussagen müssen
eventuell in neuem Licht analysiert werden. Auch der Dalai Lama betont, dass
die tibetische buddhistische Lehre aufgrund der Erkenntnisse der modernen
Wissenschaft zum Teil bestätigt wird, aber zum Teil auch neu gefasst werden
muss. Diesen Ansatz verfolgte auch Francisco Varela, der ein enger Vertrauter
des Dalai Lama war und als Neurowissenschaftler tiefe Einblicke in das
systemische Verhalten der Lebewesen und Lebensgemeinschaften hatte. Nicht
zuletzt beschäftigte er sich mit evolutiven Entwicklungsprozessen in vernetzten
Zusammenhängen.
Bevor
ich auf zentrale Aussagen des Mahâyâna Buddhismus z. B. von Meister Nâgârjuna
und Chandrakirti, der etwa 500 Jahre nach Nâgârjuna lebte, komme, möchte ich
das systemische Wirken unsere Welt nach meinem gegenwärtigen Wissensstand kurz beleuchten.
Chandrakirtis Verständnis des Mittleren Weges und der Lehre Nâgâjunas waren übrigens
wesentliche Grundlage für die weitere Entwicklung des Mahayana, und auch diese
Aussagen gehören heute auf den Prüfstand.
Wie
können wir nun in wenigen Worten das wechsel-wirkende System der Erde und des
Kosmos beschreiben? In diesen Systemen und Teilsystemen gibt es Materielles, wie etwa die chemischen
Elemente der Naturwissenschaft oder die Elemente der alten indischen Lehre: Hartes
wie Stoffe, Steine und Erde; Flüssiges wie Wasser; Luftartiges wie Gase und weiter
Wärme und Energie. Diese Bereiche des Gesamtsystems betrachten wir im Westen
als unbelebt, während es eine derartige fundamentale Unterscheidung nach belebt
und unbelebt im Buddhismus nicht gibt.
Weitere
fundamentale Bereiche des Gesamtsystems sind Pflanzen, Bäume, Blumen, usw., die
im Buddhismus auch als lebende nicht empfindende
Wesen bezeichnet werden, weil sie keine Empfindungen und Sinnesorgane im
üblichen Sinne haben.
Nicht
zuletzt gibt es empfindende Lebewesen
in einer unglaublichen Vielfalt und Menge, wie zum Beispiel Insekten, Vögel,
Säugetiere und natürlich Menschen mit ihren vielfältigen geistigen und
künstlerischen Fähigkeiten.
Und
die Welt ist voller Ideen, philosophischer und naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse, Kreativität, Gefühle usw., kurz alles das, was wir als Kultur und Zivilisation bezeichnen.
In
dem gewaltigen Netzwerk der Welt wird ethisch und unethisch gehandelt, erfunden
und gelernt, das alles hält das Gefüge zusammen.
Es
ist spannend sich zu vergegenwärtigen, dass nach heutiger Evolutionsforschung
die Farben und das farbliche Sehen auf der Welt erst vor ca. 120 Mio. Jahren co-evolutiv
von Pflanzen und Tieren entwickelt wurden. Vorher gab es keine Wahrnehmung für
Farben, z. B. in der großen Vielfalt von Blüten, Blättern, Früchten usw..Die für
uns normale Fähigkeit der Lebewesen, solche Farben zu erkennen, gab es vorher noch
nicht: Es gab keine Farb-empflindlichen
Seh-Zellen, keine Augen und keine entsprechenden Gehirnareale zur
Verarbeitung farbiger Informationen.
Wie
kann man nun ein derartig komplexes lebendes System kennzeichnen, das Gautama
Buddha pratitya samutpada nannte?
Dabei ist es selbstverständlich, dass wir als Menschen - einzeln und in Gruppen
- wesentliche Teile und Akteure dieses Gesamtsystems sind und zum Teil von ihm gesteuert werden und es im Rahmen
unserer Möglichkeiten zum Teil selbst steuern.
Hierbei müssen wir erwähnen, dass Steuerungen ganz wesentlich mit und durch Informationen ablaufen.
Das
Prinzip des genetischen Code der Erbinformationen kannten die indischen
Philosophen in der Präzision der heutigen Naturwissenschaft natürlich noch
nicht und sie hatten auch kein genaueres Wissen von Informations-Verarbeitungsprozessen
im Gehirn und im menschlichen Körper: in Individuen, Gruppen, Kulturen und
Völkern. Wie wir seit den 60iger Jahren zuverlässig wissen, sind Informationen
für die Bildung und das Fortbestehen sozialer Systeme von zentraler Bedeutung.
Gleiches gilt für die Neurobiologie und die Steuerung biologischer Prozesse in
Zellen, Organen und Organismen.
Ist
es denkbar, dass die großen buddhistischen Philosophen und vor allem Gautama Buddha intuitiv und durch genaue Beobachtung derartige systemische
Zusammenhänge erkannt haben? Ich meine ja.
Sonst hätte Buddha den Begriff pratitya
samutpada für die Beschreibung der Wirklichkeit unserer Welt und unseres
Kosmos nicht gewählt.
In
der Technik gibt es das System-Modell
von Teilen und Ganzem, das oft
fälschlich auch für lebende intelligente System verwendet wird: Menschen und
Gruppen sind keine Maschinen. Wenn
wir uns z. B. eine solche Maschine vorstellen, so besteht sie aus abzählbaren
speziellen Teilen, die getrennt hergestellt werden und daher getrennte
Einheiten (Entitäten) bilden. Sie werden dann nach der Herstellung so
zusammengesetzt, dass sie ein funktionsfähiges Ganzes bilden.
In
der buddhistischen Literatur wird in analoger Weise häufig ein Wagen zur Beförderung von Menschen und
Dingen genannt, der ebenfalls aus speziell hergestellten zunächst unabhängigen
Teilen besteht und so aufgebaut seien, sodass sich ein funktionsfähiges Ganzes
ergibt. In einem solchen System gäbe es nach dem erwähnten einfachen System-Modell
also abgegrenzte Teile, die für sich allein isoliert bestehen können, und ein
funktionsfähiges Ganzes bilden. Nagarjuna
hält das für einen schwerwiegenden Irrtum. Warum?
Ein
solches Modell ist für die Beschreibung lebender
kommunizierender und sich entwickelnder Systeme, die in Wechselwirkung
funktionieren, völlig ungeeignet:
Maschinen haben keine Gefühle, keine Spiritualität und keine Buddha-Natur. Ein
solches System-Modell ist für Buddhas pratitya
samutpada absolut unbrauchbar und führt in die Irre und damit zum Leiden.
Denn in lebenden interaktiven Systemen kann kein einziges Teil und keine
Einheit für sich allein existieren,
sondern es geht immer um Wechselwirkung und den lebenden Austausch. Das hat
Gautama Buddha in aller Klarheit erkannt und unermüdlich gelehrt.
Nach
diesen Überlegungen können wir die zentralen Aussagen des Mittleren Weges (MMK)
von Nâgârjuna besser verstehen: Es sind keine
Entitäten in der Welt zu finden, die isoliert,
unabhängig von einander und gegen einander abgegrenzt existieren. Solche
Entitäten gibt es nicht und sie sind niemals entstanden. Die Wirklichkeit der Welt existiert nur als gesamtes Netzwerk, nach Joanna
Macy in mutual causality.
Isolierte
unabhängige Entitäten werden im MMK als svabhava
bezeichnet, die Übersetzung des Sanskrit-Begriffes ist meist Eigenwesen, kein einfacher Begriff für
westliches Denken. Denn derartige isolierte Entitäten, die als Eigenwesen
beschrieben werden können, gibt es in der Wirklichkeit unserer Welt niemals und unter keinen Umständen.
Daher heißt es im MMK, dass derartige isolierte und unvernetzte Entitäten auch niemals entstanden sind. Die Welt ist
vernetzt, isolierte Entitäten sind nur gedacht und vorgestellt, sie existieren
aber nicht wirklich.
Damit
können wir in einer überwiegend wissenschaftlichen Erklärung den buddhistischen
Begriff der Leerheit einführen: alles
was im vernetzten evolutiven System der Wirklichkeit, pratitya samutpada, vorhanden
ist, hat keine isolierte Eigenexistenz.
Leerheit heißt leer von einer
unabhängigen isolierten Eigenexistenz und anderen Illusionen und Täuschungen.
Denn in der Wirklichkeit ist alles miteinander vernetzt und es gibt keine vollständig
abgegrenzten selbstständigen Entitäten.
Vor
allem gilt, dass lebende empfindende Wesen wie Tiere und Menschen, und auch
nicht empfindende Wesen wie Pflanzen, Bäume, Blumen usw. isoliert nicht leben
können. Sie sind immer miteinander in Beziehung und isoliert überhaupt nicht
lebensfähig: Sie nehmen Stoffe als Nahrungsmittel auf, atmen den Sauerstoff der
Atmosphäre ein und geben andere Ausscheidungsstoffe wieder ab. Diese gelangen
in den ökologischen Kreislauf und sind die Grundlage für anderes Leben; z. B. Dünger
für Pflanzen.
Soziale
Systeme bilden sich nicht zuletzt durch intensive
Kommunikation und Austausch von Erfahrungen, seien sie bewusst oder nicht
bewusst. Kein Lebewesen kann existieren, wenn es aus dem Zusammenhang und der
Interaktion von Stoffen und Informationen
herausgerissen wird. In der Gesellschaft bilden sich soziale Teilsysteme vor
allem durch die Dichte der internen Kommunikation und die Abgrenzung gegenüber
der Umwelt und anderen sozialen Systemen.
Wenn
sich menschliche kulturelle Teilsysteme also extrem von der Umwelt isolieren,
dass kein Informationsaustausch mehr möglich ist, führt das zum Sterben des Systems.
Kein Mensch und kein lebendes System der Welt kann isoliert für sich allein existieren.
Resumé
Es
gibt in der hoch vernetzten Wirklichkeit der Welt, in der wir leben, keine
isolierten selbstständigen Entitäten. Solche unabhängige Eigenexistenz ist nur
ideell gedacht und nicht real vorhanden, sie ist Täuschung. In buddhistischer
Sprache heißt das: alle Lebewesen und Dinge sind leer von einer solchen unabhängigen Existenz. Sie sind immer
vernetzt und in wechselseitiger Veränderung.
Ein
einfaches Beispiel dafür ist die menschliche Sprache: wir erlernen sie als wesentliches
Merkmal des Menschseins interaktiv
zusammen mit anderen Menschen, vor allem mit den Eltern. Wir wachsen also in
eine Sprache hinein, erlernen sie und können sie dann für die Kommunikation im
Rahmen ihrer Möglichkeiten verwenden. Sprache ist für die Menschen also ein
zentrales Moment der Vernetzung, denn ohne Kommunikation ist menschliches Leben
undenkbar. Also noch einmal: Menschen sind als völlig isolierte unabhängige
Existenzen nicht lebensfähig und können überhaupt nicht entstehen, sich nicht entwickeln,
nicht lernen und ihre Aufgaben und Funktionen in der Gesellschaft nicht wahrnehmen.
Ein
isoliertes getrenntes Ich ist eine
Fiktion, Täuschung oder Ideologie und entspricht nicht der Wirklichkeit im lebenden Netz. Darüber hinaus: Je
egoistischer und egozentrischer ein Mensch ist, desto abhängiger ist er von
anderen. Die Aussage „Der Starke ist am stärksten allein“ ist daher blanker
Unsinn, denn er ist dem Tode geweiht und nicht lebensfähig, wenn er wirklich
allein und isoliert leben will.
Wissen
Sie, wer mit dieser Lebensphilosophie des Starken am intensivsten gearbeitet
hat? Es war Adolf Hitler: In seinem
berüchtigten Bestseller "Mein Kampf"
gibt es eigenes Kapitel "Der Starke
ist am mächtigsten allein"! Er behauptet z. B. : Auch wird durch eine
demokratische Zusammenarbeit "das
freie Spiel der Kräfte unterbunden, der Kampf zur Auslese des Besten abgestellt
und somit der notwendige und endgültige Sieg des Gesünderen und Stärkeren für
immer verhindert". Das ist also der geistige Hintergrund einer
Ideologie des Stärkeren. Eine größeren Gegensatz zum Buddhismus kann man sich
kaum vorstellen. Und wir haben schmerzhaft erfahren müssen, wohin eine solche "Lehre"
führt: Sie ist nicht nur falsch und absurd sondern auch diabolisch und Menschen
verachtend. Diese sog. Starken des Faschismus sind nicht nur selbst
untergegangen, sondern haben 50 Millionen Menschen mit in den Tod gerissen.
Richtig
ist daher der Satz: „Der Starke ist am
schwächsten allein“, so schwach, dass er als isolierte Entität sterben muss.
der Mensch ist das sozialste Leben der Erde, er kann ohne Empathie und ein Wir nicht
leben. Und Einsamkeit ist die Ursache für Leiden. Spirituell und psychisch ist
ein angeblich starker Egoist
natürlich schon viel früher gestorben, aber mit seinem gequetschten Geist hat
er das nicht erkannt. Die anderen wussten mit Sicherheit davon, aber die hat er
nicht gefragt.
Ein
Buddhist sagt dazu: Das selbst erzeugte Leiden hätte der Egoist sich und
anderen ersparen können! Es beruht auf einem fundamentalen Irrtum.