(Yudo J.
Seggelke mit Elisabeth Steinbrückner)
Mir selbst ging es dabei nicht anders: die Frage, was die Leerheit nun wirklich ist und warum sie
eine so hohe Bedeutung im Buddhismus hat, war für mich viele Jahren lang unklar
und immer wieder eine große Herausforderung. Warum wird zum Beispiel im Herz-Sûtra
gesagt, dass die menschlichen Sinnesorgane wie Augen, Ohren, Nase, usw. leer
sind und warum werden dadurch alle Leiden und Zweifel des Lebens
beseitigt und kommen zur Ruhe?
Der Begriff und die Bedeutung der buddhistischen Leerheit sind sicher schwierig und haben häufig zu Missverständnissen und Schein-Wahrheiten geführt.
Wenn wir untersuchen wollen,
was mit Leerheit gemeint ist, müssen wir sicher das große Werk des indischen
Meisters Nâgârjuna, die Weisheit des
Mittleren Weges, und die Philosophie der Leerheit genau analysieren, denn
Nâgârjuna gilt zu Recht als der wichtigste Meister und Denker der Leerheit. Es
gibt viele verschiedene Übersetzungen und Kommentare zu diesem zentralen Werk
der Leerheit und des Mittleren Weges, das ich in Abkürzung der Bezeichnung in
Sanskrit als MMK bezeichnen möchte. Bei mir im Bücherregal stehen allein 14,
davon drei in Deutsch. Das MMK umfasst 27 Kapitel, die in einzelne Verse
unterteilt sind, und in Sanskrit einen dichterischen Rhythmus haben, den wir im
Westen in Deutsch oder Englisch wohl nur unzureichend nachempfinden können. Wie
dem auch sei, ich möchte mich hier mit dem buddhistischen
Inhalt des MMK beschäftigen.
Wie sollte man methodisch
vorgehen? Von großer Bedeutung ist es vor allem, eine vollkommen wörtliche und sehr präzise Übersetzung des Sanskrit-Textes
zu verfassen, bevor eine besser verständliche und lesbare deutsche Version
erstellt wird und bevor eine valide am Text orientierte Interpretation erarbeitet
werden kann. In unserem Fall verfassen Elisabeth Steinbrückner und ich aufgrund
ihrer profunden Sanskrit-Kenntnisse für jeden Vers zwei derartige verbal-genaue
Fassungen. Wie gehen wir vor?
Zunächst erarbeiten wir eine
Fassung Wort für Wort in genau der selben Reihenfolge wie in
den Sanskrit-Versen, und zwar ohne irgendwelche Zusätze oder Veränderungen. In
einer zweiten wörtlichen Fassung verbessern wir die Verständlichkeit, ohne die
wörtliche Genauigkeit zu verlassen; Zusätze werden dabei Klammern gesetzt.
Sie werden vielleicht fragen:
Ist das notwendig? Ja, es ist!
Auf der Basis dieser beiden
Versionen möchten wir im Folgenden die Frage der Leerheit bei Nagârjuna im MMK untersuchen.
Beim
MMK gibt es die sog. vorangestellten Verse die ich als Präambel
bezeichnen möchte. Obgleich deren Bedeutung in der Fachliteratur z. T. kontrovers
diskutiert wird, sind wir davon überzeugt, dass diese Präambel den Rahmen des ganzen Werkes aufspannt, also
die zentralen Aussagen auf wenige Worte und Sätze zusammenfasst. Nâgârjuna
arbeitet dann in den folgenden 27 Kapiteln die bedeutsamen Fragen und Probleme
im Einzelnen auf.
Die Präambel des MMK
Zunächst wird Gautama Buddha
als der größte Lehrer in höchster Wertschätzung geehrt. Das heißt im Klartext,
dass Nâgârjuna den frühen Pali-Buddhismus
zur festen Grundlage seines Lehrgedichtes wählt, z. B. das sutta der Grundlagen der Achtsamkeit mit den Vier
Edlen Wahrheiten und dem Achtgliedrigen Pfad. Bei der Analyse des MMK sind
daher diese Texte beizuziehen.
Dann folgt die zentrale folgende Aussage:
Gautama Buddha habe die beglückende Lehre von der Entstehung
in Wechselwirkung verkündet, auf Sanskrit pratitya samutpada. Diese
Formulierung wurde häufig als abhängiges Entstehen oder bedingtes
Entstehen übersetzt. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, ist diese
Übersetzung aus unserer Sicht zwar nicht falsch, aber erfasst nicht die gesamte Bedeutung des Sanskrit-Begriffes.
Denn es geht vor allem um die Wechselwirkung und Rückkopplung also die
Vernetzung, die wir heute z. B. bei Ökosystemen, bei allen Lebewesen und nicht
zuletzt in der Gehirnforschung des neuronalen Netzes als wirklichkeits-nahe
Beschreibung verwenden. Der Kosmos und alle Lebewesen wirken unauflösbar in
großartiger Vernetzung und Wechselwirkung zusammen: Kein Lebewesen kann einzeln
und isoliert überleben, nur in der Co-Existenz
von vernetzten Prozessen sind wir lebensfähig! Wir sind sicher, dass Gautama Buddha und Meister Nâgârjuna diese Tatsache umfassend erkannten, das ist die große
Wirklichkeit von pratitya samutpada.
Diese lebendige Vernetzung
ist von maßgeblicher Bedeutung für jede Entwicklung und jedes Lernen, denn das
kann niemals isoliert gelingen. Denken wir nur an die menschliche Sprache in
der Kommunikation: wir lernen sie automatisch etwa in den ersten drei
Lebensjahren durch die Wechselwirkung mit anderen Menschen vor allem natürlich
mit den Eltern. Wie aus historischen Beispielen bekannt ist, kann ein Mensch niemals
isoliert für sich allein das Sprechen erlernen und die Kommunikation unter
Menschen meistern: z. B. die Wolfskinder, die historisch belegt in Indien
aufgefunden wurden, in einer Wolfsfamilie aufwuchsen und zunächst nicht
sprechen konnten. Trotz großer Mühe haben sie niemals richtig Sprechen gelernt
und hatten gegenüber Menschen eine viel höhere intuitive Distanz und auch
Ablehnung als gegenüber Hunden und Wölfen. Wir beherrschen unsere Muttersprache,
weil wir vernetzt in einer menschlichen Gesellschaft aufwachsen.
Nâgârjuna wiederholt in
seiner Präambel des MMK einen Kernpunkt der buddhistischen Lehre, nämlich das Entstehen
und Werden in Wechselwirkung. Er betont, dass dies beglückend und
befriedend ist, also für uns Menschen von großer Bedeutung zur Gestaltung
unseres Lebens und zur Überwindung des entstehenden und vorhandenen Leidens ist,
eine Realität in unserem Leben. Damit ist auch der helfende therapeutische Ansatz
Gautama Buddhas angesprochen, denn er hat es als seine zentrale Aufgabe gesehen,
den Menschen zu helfen, das Leiden zu verringern oder ganz zu überwinden. Es
ist unter Buddhisten Konsens, dass er sich weniger als Philosoph und Denker
verstanden hat, der vielleicht große, abstrakte und beeindruckende philosophische
Denkgebäude errichtet, sondern als Helfer.
Nâgârjuna betont, dass durch
dieses Erkennen des Entstehens und Werdens in Wechselwirkung die Verwirrungen,
Unklarheiten, Irrtümer und Täuschungen in unserem Leben aufgelöst werden
können. Der Sanskrit-Begriff hierfür heißt prapanca. Dieses Wort hat vielfältige
Bedeutungen und z. B. auch „Lobhudelei“ und menschliche „Dialoge, die
zum Lachen sind“. Es ist also nicht zuletzt die Scheinwelt der Worte
damit gemeint, die uns zum Beispiel von populistischen Rednern, Politikern oder
trickreichen Verkäufern vorgegaukelt wird, um Menschen zu manipulieren und um
den eigenen Vorteil zu verwirklichen, ohne dass die Anderen das bemerken. Aber
die künstlich erzeugte Scheinwelt entspricht nicht der Wirklichkeit. Für mich
zählen zu solchen Menschen z. B. im Extrem Hitler und Göbbels, die mit ihren
Lügengeweben und Ideologien so viel Unglück über die Menschheit gebracht haben.
Lügengewebe ist m. E. eine durchaus treffende Übersetzung von prapanca.
Das Erwachen bedeutet im Gegensatz dazu, dass wir aus derartigem Gewirr von Ideologien,
Täuschungen und Worten herausfinden und wirkliche Klarheit gewinnen, um ein
gelungenes Leben zu führen. Eine solche Klarheit sehen wir als die zentrale
Aufgabe, die sich Nâgârjuna mit dem MMK stellt.
In der Präambel des MMK von
Nâgârjuna wird der Begriff Leerheit (Shûnyatâ)
explizit nicht erwähnt, sondern es
wird das beglückende und uns befriedende Entstehen in Wechselwirkung verkündet.
Weiterhin werden fundamentale
acht Kernbegriffe der buddhistischen
Lehre aufgeführt, die zentrale Änderungs- und Lernprozesse unseres Lebens beschreiben:
z. B. Vergehen und Entstehen, Beenden und Andauern sowie Einheit und Vielheit. Das
heißt: Durch ein falsches Verständnis der buddhistischen Lehre (prapanca) werden
diese Zentralbegriffe ebenfalls falsch und wirkungslos, sie führen dann in die
Irre und sind bei genauer Analyse kontrovers und paradox. Sie sind dann für
Buddhisten sogar sehr gefährlich und führen niemals zur Befreiung auf dem
großen Weg. Nach unserem Verständnis ist das genau dann der Fall, wenn wir die Wirklichkeit
der großartigen Vernetzung und Wechselwirkung im Kosmos, in der Welt und
in unserem Leben ignorieren und behaupten, dass es isolierte Dinge, Menschen, Worte und Eigenschaften in der Welt
gibt, die ohne Wechselwirkung und Vernetzung existieren.
Das ist falsch, und dann
kann es überhaupt keine Entwicklungs- und Lernprozesse
geben. Das wäre in der Tat schon nach der Ökosystemforschung, Systemtheorie der
Sozialwissenschaften und der Gehirnforschung blanker Unsinn. Oder einfacher
gesagt: schwierige und komplexe Aufgaben kann man sinnvoller Weise nur im Team
bearbeiten. Aus der Gehirnforschung wissen wir, dass höhere geistige Leistungen
eine besonders intensive Vernetzung haben: je höher die Leistung im Netz, desto
stärker die Wechselwirkung und das gemeinsame Lernen. Einer allein ist da
überfordert: ein Team arbeitet zusammen in Wechselwirkung und ist weit mehr als
die Summe der einzelnen Menschen. Und umgekehrt: wer einsam und isoliert ist, leidet, und dieses Leiden ist dasselbe wie körperlicher Schmerz, das weiß die
Gehirnforschung. Menschen sind soziale Wesen und nicht dazu geschaffen,
isoliert und vereinsamt zu leben. Ganz davon abgesehen, dass jeder immer ein
Minimum an Zusammenarbeit benötigt, z. B. um überhaupt Essen und Trinken zur
Verfügung zu haben. Und der Starke ist am schwächsten allein, genauer, er kann
nicht überleben.
Aber zurück zum MMK von
Meister Nâgârjuna. Das Hauptwerk besteht in den Kapiteln 1 bis 23 aus scharfsinnigen
Argumentationen und Beweisen gegen fundamental falsch verstandene Heilslehren,
Theorien und Philosophien des Buddhismus. Er
beweist für die verschiedenen Bereiche der buddhistischen Lehre, dass wir in
unauflösbare und oft groteske Widersprüche geraten, wenn wir die Wirklichkeit der Wechselwirkung und der vernetzten
lebenden Prozesse negieren. Er arbeitet heraus, dass dann das gesamte
Gebäude des Buddhismus in sich zusammenfällt und dass vor allem die heilende
Kraft, also die Therapie des Buddhismus, völlig unwirksam ist und sich sogar in
ihr Gegenteil verkehrt.
Denn das genial Neue der
Lehre Gautama Buddhas ist es gerade, dass wir
selbst in einem klaren Lernprozess das Leiden überwinden können und ein
zufriedenes und glückliches Leben erreichen. Dazu werden in den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad sehr genaue Hilfen und
Richtlinien zur Überwindung des Leidens gegeben. Diese Beschreibungen sind
nicht philosophisch abgehoben und abstrakt, sondern konkret auf das ganz
normale Leben von uns allen zugeschnitten. Ergänzt wird diese Lehre durch viele
Gleichnisse, Gespräche und weitere helfende Geschichten und Beschreibungen, die
uns authentisch überliefert sind. Dabei sind z. B. die Himmlischen Verweilungen zu nennen.
Stand der Untersuchungen zur Leerheit im MMK
Im Folgenden möchte ich den
Stand unserer vertieften Analysen zum MMK wiedergeben. Dabei knüpfe ich an den
Arbeiten meines Lehrers Nishijima Roshi an, der über zwanzig Jahre an der
Analyse des MMK gearbeitet hatte, nachdem er seine grundlegenden Ergebnisse zum
Zen-Buddhismus des großen Meisters Dôgen, "Die Schatzkammer des wahren
Dharma-Auges, Shôbôgenzô" vorgelegt hatte. Er ist bei der Interpretation
des MMK völlig neue Wege gegangen, die durch seine ausgezeichneten Erfahrungen
und Kenntnisse des Zen-Buddhismus ermöglicht wurden. Mein Dharma-Bruder Brad
Warner hat an der Schlussfassung übrigens wesentlich mitgearbeitet.
Erwartungsgemäß hat diese neue Interpretation einige Diskussionen
hervorgerufen, da sie sich von den bisherigen MMK-Analysen z. T. deutlich
unterscheidet. Da das MMK bereits ca. um 400 ins Chinesische übersetzt wurde,
kannte Dôgen diese wichtige Quelle sicherlich. Das lässt sich an mehreren
markanten Kapiteln des Shôbôgenzô nachweisen.
Diese Kontroversen haben
mich u. a. dazu veranlasst, ganz konsequent auf den Wort-genauen Sanskrit-Textes
selbst zurück zu gehen und zusammen mit der Indologin Elisabeth Steinbrückner die
erwähnte präzise Wort-für-Wort-Übersetzung zu erarbeiten. Auf diese Weise
wollen wir sicherstellen, dass eine wirklich valide Basis bereit steht. Wir
werden diese wörtlichen Übersetzungen später ins Netz stellen; sie kann dann
für weitere Arbeiten, Interpretationen und Kommentare auch von anderen
Forschern benutzt werden.
Vielleicht sagen Sie jetzt: "Was
ist denn nun die zentrale Botschaft der
Leerheit? Ich bin sicher, dass Meister Nâgârjuna sagen würde: "Eine
ausgezeichnete Frage!"
Dazu gibt uns das zentrale Kapitel 24 des MMK über die Vier Edlen Wahrheiten, das Entstehen in
Wechselwirkung (pratitya samutpada) und die Leerheit (shûnyatâ) Auskunft.
Nâgârjuna gibt uns dazu in Vers 18 dieses Kapitels die fundamentale
Aussage:
„Was Entstehen in Wechselwirkung (ist), das benennen wir als Leerheit.
Diese Bezeichnung ergriffen habend,
(ist) nämlich ein mittlerer Zugang“.
In der ersten Zeile wird
demnach klipp und klar gesagt, dass die Leerheit
ein Begriff ist, mit dem wir das Entstehen
in Wechselwirkung also die Wirklichkeit unserer vernetzten Welt bezeichnen
und beschreiben. Die Entstehung in Wechselwirkung (pratitya samutpada) ist
daher die Wirklichkeit selbst, die
einer direkten Erfahrung zwar in gewissem Umfang zugänglich ist und die mit
unsere Sprache und den Worten beschrieben wird, aber nicht mit der Wirklichkeit identisch ist und nicht sein kann. Auf
der Sprachebene benötigen wir Begriffe, um miteinander zu
kommunizieren oder die Lehre schriftlich darzulegen: Und der zentrale Begriff Nâgârjunas und des
gesamten Mahâyâna ist die Leerheit.
Um noch einmal kurz an die
Präambel des MMK zu erinnern: die beglückende
Lehre des Entstehens in Wechselwirkung wird also Leerheit
genannt. Wenn wir in buddhistischen Texten auf den Begriff der Leerheit
stoßen, und er kommt im Mahâyâna wie zum Beispiel im Herz-Sûtra häufig vor, steht
er für das Entstehen in Wechselwirkung. Damit wird der Begriff der Leerheit
wesentlich klarer und verliert die manchmal zu beobachtende Schwammigkeit und
unnötige Mystifizierung.
Aber wir sollten fragen:
warum gerade dieser zumindest im Westen schwer zu verstehende und ungebräuchliche Begriff der Leerheit? Wenn wir im Sanskrit-Lexikon nachschauen,
finden wir für shûnya die Bedeutungen
leer, öde, unbeschäftigt, müßig,
zerstreut, ziellos, allein, ohne, eitel, unnütz, nichtig, unsinnig.
Außerdem ist aufgeführt: Fehlen, Mangel,
Nichts und die mathematische Null. Es gibt außerdem die Bedeutung frei und befreit. Dabei ist shûnya ein Adjektiv und shûnyatâ das entsprechende Substantiv, also in unserem Fall die
Leerheit.
Zunächst mag die
Bedeutungsvielfalt dieses semantischen Feldes verwirren, zudem konnotiert sie
nach westlichem Verständnis eher negativ und ist dem Nichts und Nihilismus sehr nahe. Aber das ist nicht richtig.
Es geht Nâgârjuna im MMK u.
E. darum, zentrale und häufig auftretende Fehler und Täuschungen der
buddhistischen Lehre zu benennen, zu erkennen und auszuschließen, damit die
wahre Bedeutung herausgearbeitet werden kann und Klarheit gewinnt, die
fundamental für die Relevanz des buddhistischen Befreiungsweges ist, nämlich
die Vernetzung und Entstehung in Wechselwirkung.
Mit dem obigen Zitat haben
wir den richtigen Schlüssel zum Begriff Leerheit (shûnyatâ) in der Hand: da die
Welt vernetzt und in Wechselwirkung ist, gibt es keine isolierten und voneinander unabhängigen Dinge, Lebewesen und Prozesse, sie ist leer davon.
Die Welt ist leer von solchen gedachten
isolierten Entitäten, denn alles ist miteinander in Wechselwirkung und ist nur
lebensfähig durch diese Vernetzung. Es gibt weder „unbelebte“ Materien und
Dinge, noch Lebewesen wie Pflanzen, Tiere und Menschen, die isoliert und
unabhängig von einander in der Realität der Welt und des Kosmos vorkommen.
Solche Entitäten können
schlicht nicht gefunden werden, wie Nâgârjuna sagt. Und daher ist die Welt leer von solchen gedachten aber nicht wirklich vorhandenen isolierten
starren sich nicht verändernden Entitäten, die daher nicht real sind. In der
buddhistischen Literatur wird für diese Entitäten auch der Begriff „inhärente Existenz“ verwendet, der
allerdings m. E. keineswegs zur Klarheit beiträgt, sondern das Verständnis
insbesondere für ´normale Menschen´ wesentlich erschwert. Eine Formulierung wie
„leer von inhärenter Existenz“
bezeichnet also ganz schlicht das Entstehen
in Wechselwirkung als die großartige Realität dieser Welt. Das wird mit Leerheit
bezeichnet.
Die zweite Zeile des obigen
Verses besagt, dass wir damit den Zugang zum Mittleren Weg des Buddhismus
gefunden haben, wenn wir den Begriff der Leerheit erfasst haben. Das Mittlere
kann man auch so erklären, dass einerseits die Wirklichkeit als solche
anerkannt und bestätigt wird und dass wir andererseits auf der Ebene der Worte
und Begriffe operieren, um uns zu verständigen und die buddhistische Lehre
überhaupt mündlich oder schriftlich weitergeben und erläutern zu können. Weitere
Bedeutungen werden in der buddhistischen Literatur häufiger erwähnt: das Vermeiden der Extreme, des einseitigen Idealismus und ignoranter Ideologien
und nicht zuletzt einer blinden Wortgläubigkeit
auch bei der buddhistischen Lehre.
Auch der einseitige
Materialismus muss zur Aushöhlung unseres Lebens führen. Weder Ideen, Worte und
Idealismus noch das Materielle umfasst die volle Wirklichkeit, sondern es
handelt sich dabei immer nur um Teilwahrheiten, die nach Gautama Buddha oft fälschlich
als ganze Wahrheit angesehen und
gedacht wird, bevor wir erwacht sind. Meister Dôgen hat diese fundamentalen
Aussagen vor allem in seinem Werk Shôbôgenzô in Kapitel 3, Das verwirklichte Universum in großer Prägnanz beschrieben.
Mir erscheint zudem eine
weitere Bedeutung des Mittleren Weges sehr wichtig: Das dynamische Gleichgewicht des vernetzten Ganzen der Welt. Denn die
Prozess-Vernetzung muss im Gleichgewicht sein, damit überhaupt ein Leben
möglich ist. Dies gilt natürlich besonders für uns Menschen: Wir leben am
besten, wenn wir unsere Mitte und damit unser wahres Wesen gefunden haben. Dann
eröffnet sich für uns ein Maximum an Freiheit, Kreativität und Lebensfreude im
Hier und Jetzt.
Vereinfacht können wir sagen,
dass die Sprache und die Worte lebensnotwendig für den Menschen als
soziales Wesen sind und sie insbesondere notwendig sind für die Übermittlung
der buddhistischen Lehre. So spricht Meister Dôgen davon, dass die wesentlichen
Reliquien Gautama Buddhas nicht seine
Zähne und Knochen sind, sondern seine Schriften,
also die Sûtras. In der Tat ist es diese buddhistische Lehre, die die Welt und
Menschlichkeit aus meiner Sicht radikal verändert hat. Deshalb ist es auch
unsinnig, Worte und Beschreibungen in Bausch und Bogen abzulehnen und insgesamt
als Täuschung zu bezeichnen. Richtig ist aber, dass sie nur auf die Wirklichkeit
hinweisen und dass wesentliche und gute Texte eben weiter an die Wirklichkeit
heranreichen als schlechte und täuschende
Formulierungen oder gar aufgebauschte Lügengewebe (prapanca).
Im folgenden Vers 19 dieses
Kapitels beleuchtet Nâgârjuna die umgekehrte Situation, dass es in der Welt keine Wechselwirkung gibt, dass wir also
von dem Irrtum ausgehen, es gäbe keine Entstehung in Wechselwirkung. Für diesen
Fall sagt er ganz einfach, dass es überhaupt keine Dinge und Phänomene (Dharmas) gibt, dass wir uns also bei
einem solchen Verständnis der Leerheit
in einer total verworrenen und von Illusionen und Täuschungen wuchernden Scheinwelt verloren haben. Eine solche Welt
ist nicht zuletzt durch fixe Ideen und fragmentierte Schein-Realitäten geprägt.
Dabei sind natürlich Gier und Hass treibende Kräfte, weil sie unseren Geist
einengen und schrumpfen lassen und uns selbst in eine lebensfeindliche
Isolation treiben. Wir bilden uns dann Dinge und Schein-Wirklichkeiten ein, die
es überhaupt nicht gibt und die in dem wahren Netzwerk der Welt nicht
vorkommen. Bei klarem Geist und erwachtem Bewusstsein können wir eine solche
Illusionswelt der Ideen und Worte dann erkennen,
sie überwinden oder wie es im Text heißt: wir lassen sie zur Ruhe kommen (nirodha).
In einigen Versen dieses
Kapitels zu den Vier Edlen Wahrheiten beweist Nâgârjuna ganz klar, dass der
Begriff der Leerheit keineswegs das Nichts bedeutet. Nâgârjuna war kein Nihilist, der jede Wirklichkeit in der Welt
leugnet. Das wäre ein grobes Missverständnis, das im Übrigen im Westen leider
immer noch anzutreffen ist und früher das Verständnis vom MMK wesentlich
geprägt hat. Das Gegenteil ist richtig. Die Leerheit bezeichnet das vernetzte
Entstehen in Wechselwirkung, das frei und
leer von Täuschungen und Illusionen ist, sie beschreibt die lebendige Fülle
dieser Welt im Hier und Jetzt.
Vor allem heißt es, dass es
die Tatsache des Leidens in unserer Welt wirklich gibt, aber dass das Leiden
nicht von sich aus und nicht schon immer da ist, sondern dass es aufgrund der Ursachen und Vernetzungen entstanden ist
und dass es vor allem überwunden werden kann. Das Leiden vergeht, wenn wir den richtigen Lernprozess durchlaufen, also
im Sinne der buddhistischen Lehre den Buddha-Weg gehen. Leiden ist von Natur
aus nicht erstarrt, unveränderlich und hat keine dauerhafte und eigene
Existenz, wie manche vielleicht subjektiv annehmen. Es ist in
Wechselwirkung mit anderen Menschen, Dingen und uns selbst entstanden und es
hat seine Verursachungen, die wir erkennen und auch beseitigen können. Dabei
hat die Überwindung von Gier, Hass und Verblendung, der drei Gifte des
Buddhismus, eine zentrale Bedeutung.
Wer die Leerheit falsch
verstanden hat meint, dass sie das Nichts ist. Nâgârjuna kontert dagegen ganz
präzise, dass das bedeuten würde, dass dann auch die gesamte buddhistische Befreiungslehre ein Nichts und daher irrelevant ist. Das
Gegenteil sei richtig. Durch den Begriff der Leerheit und das Entstehen in
Wechselwirkung gewinnt der buddhistische Befreiungsweg erst seine fundamentale
Bedeutung und reale Wirksamkeit.
Ohne das klare Verständnis
der Leerheit sei die Welt und die Wirklichkeit verhüllt.
Meister Nâgârjuna war sich
bewusst, dass der Begriff der Leerheit zu gravierenden Missverständnissen
führen kann und gefährlich ist: er sagt daher im Vers 11 dieses Kapitels:
„Schlecht erschaute Leerheit richtet
den, der geringe Einsicht besitzt, zu Grunde wie eine schlecht ergriffene
Schlange oder schlecht ausgeführte Zauberkunst“.
Giftschlangen hatten und
haben in Indien eine große Bedeutung und sind gefährlich. Es gibt einen
sicheren und guten Griff von oben hinter dem Kopf der Schlange, so dass diese
nicht in der Lage ist, den Menschen zu beißen und das tödliche Gift
einzuspritzen. Wer aber die Schlange falsch ergreift und ungeschickt ist, der
wird vermutlich gebissen und muss an dem Gift zugrunde gehen. Viel drastischer
lässt sich wohl kaum ausdrücken, wie gefährlich
der Begriff und die Vorstellung der Leerheit sein kann, wenn er geistig
falsch ergriffen wird. Dann sei es sicher besser, von dem Begriff der
Leerheit überhaupt abzulassen und sich nicht darauf zu versteifen.
Die Leerheit könne nämlich
eine falsche Zauberkunst sein.
Nâgârjuna bezieht sich vermutlich auf falsch ausgeführte religiöse Zeremonien, die ebenfalls erheblichen Schaden anrichten
können. Wer an falsche Zauberkunst
glaubt, ist in der Tat sehr gefährdet. Er verliert den Blick für die
Wirklichkeit und wird irgendwann in seine eigenen ´ideologischen Messer´
laufen. Das ist das Gegenteil des buddhistischen Heilsweges, der die heilenden
Kräfte des Menschen selbst entwickelt, um in einem solchen Prozess das Leiden
zu überwinden. Zen-Meister Dôgen verbindet diese Wahrheit in einem großartigen
Kapitel des Shôbôgenzô mit der Wirklichkeit
der Buddha-Natur, die als isolierte Idee wenig Sinn macht, sondern sich im
ganzheitlichen Handeln der Wirklichkeit also im Bodhisattva-Handeln zeigt und
realisiert.
Sicher ist der ganze Umfang
und die ganze Tiefe des Begriffs der
Leerheit und des Entstehens in Wechselwirkung im MMK mit den obigen
Ausführungen nicht vollständig erschöpft, weitere Arbeiten sind dazu sinnvoll.
Vor allem geht es darum dann auch die Wirklichkeit des Nirvana in der
buddhistischen Lehre im Sinne von Nâgârjuna einzubeziehen und verschiedene
falsche Lehren zu identifizieren und auszuschließen. Wir hoffen trotzdem, dass
in dem nicht einfach durchschaubaren und oft verminten Feld der Leerheit mit den obigen Analysen ein Stück
Klarheit gewonnen werden kann.
Ganz vereinfacht bedeutet
Leerheit: Dass wie frei von Täuschungen und unrealistischen Weltanschauungen
der Isolation und Vereinzelung sind ,
sondern das großartige Netzwerk von kreativen Wechselwirkungen des Kosmos und
dieser Welt erfahren, von der wir selbst ein lebendiger Teil sind und mit der
wir daher unauflösbar verbunden sind. In der Wirklichkeit des Netzwerkes gibt
es keine Dualität.
Nishijima Roshi betont in
gleicher Weise, dass der Begriff der Leerheit (emptiness) immer wieder
Missverständnisse hervorruft und häufig in die Irre geht. Er vermeidet daher
diesen Begriff und verwendet stattdessen den Zustand des Gleichgewichts (balanced state). Damit verbindet er die Zen-Meditation mit der Leerheit, vor
allem Shikantaza, die übersetzt etwa
„nur sitzen, Körper und Geist fallen lassen“ bedeutet. Diese Meditation ist
nach meiner festen Überzeugung gleichzeitig die vierte Vertiefung der Meditation des Achtfachen Pfades.
Bei der Vernetzung und
Wechselwirkung spielen Gleichgewichts-Zustände eine zentrale Rolle, da sonst
überhaupt kein Leben entstehen und fortgesetzt werden kann.: das wird genau in
der Meditation erfahren. Gerät das Gleichgewicht außer Kontrolle, so ist es
unausweichlich, dass Extreme und Katastrophen entstehen, die eine gravierende
Bedrohung des Lebens sind und häufig sogar zum Tod führen. In einem solchen
Gleichgewichts-Zustand der Meditation verschwinden Illusionen und Täuschungen, und
nicht zuletzt die Illusion egozentrischer
Abgegrenztheit des Menschen, die unabhängig von der Vernetzung sind. In
einem solchen Gleichgewichts-Zustand entsteht die Klarheit über die wirkliche
Welt, die Voraussetzung für das Erkennen der wahren Ursache unseres Leidens und
des Weges zur Leidens-Überwindung: das wird im Buddhismus als Erwachen zur
Wahrheit bezeichnet.
Nishijima Roshi betonte,
dass auch die sinnliche Wahrnehmung z. B. beim Sehen in der Lage ist,
illusionäre Gedanken und Phantasien zu entdecken und zu enttarnen, ohne dass
wir sie überschätzen. Gleichwohl kann mit der sinnlichen Wahrnehmung der Augen,
Ohren, usw. selbstverständlich nicht die ganze
Wahrheit der Realität erkannt werden.
Aufschlussreich ist die tibetische Übersetzung der Leerheit: stong. Dieser Begriff bedeutet leer im
üblichen Sinne von shûnya, aber
gleichzeitig, und das ist das Spannende: tausend,
viele, alle Welten, eine Billion Weltsysteme/Universen. Durch diese
Semantik wird m. E. von Anfang an der Irrtum ausgeschlossen, dass es sich um
das Nichts handelt, sondern es wird
gleichzeitig auf die Vielfalt und auf die Realität verwiesen. Ich bin Peter
Gäng dankbar, der mich kürzlich darauf aufmerksam machte.
Die Übersetzung System und viele lässt sich nahezu bruchlos mit den oben vorgestellten
Bedeutungen des Begriffs Leerheit für das Entstehen in Wechselwirkung und die
umfassende Vernetzung der Welt (pratitya
samutpada) verbinden.
Zusammenfassung:
Die Welt ist leer (shûnya) von isolierten unveränderlichen Entitäten wie : Dinge, Ideen, Worte, Handlungen, Willens-Impulse, Gefühle, Energien, Pflanzen, Tiere und Menschen usw.. Solche Entitäten gibt es nicht, sie sind Illusionen und Täuschungen!
Es gibt in der Wirklichkeit auch keine isolierte unveränderlich Entität "Ich" oder "Selbst".
Die Menschen, Tiere, Pflanzen, Ideen, Worte, Gefühle, Handlungen, Willens-Impulse, Energien, Dinge usw. der Welt entstehen, verändern sich und lernen (z. B. Menschen) in Wechselwirkung und Vernetzung (pratitya samutpada).
Zusammenfassung:
Die Welt ist leer (shûnya) von isolierten unveränderlichen Entitäten wie : Dinge, Ideen, Worte, Handlungen, Willens-Impulse, Gefühle, Energien, Pflanzen, Tiere und Menschen usw.. Solche Entitäten gibt es nicht, sie sind Illusionen und Täuschungen!
Es gibt in der Wirklichkeit auch keine isolierte unveränderlich Entität "Ich" oder "Selbst".
Die Menschen, Tiere, Pflanzen, Ideen, Worte, Gefühle, Handlungen, Willens-Impulse, Energien, Dinge usw. der Welt entstehen, verändern sich und lernen (z. B. Menschen) in Wechselwirkung und Vernetzung (pratitya samutpada).
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